Das Ende der Telefonzellen - Kein Anschluss unter dieser Nummer

Mo 21.11.22 | 06:14 Uhr | Von Roberto Jurkschat
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Eine gelbe Telefonzelle in Berlin-Mitte. (Quelle: imago images/Seeliger)
Video: rbb24 Abendschau | 21.11.2022 | V. Materla | Bild: imago images/Seeliger

Die Ära der Telefonzellen neigt sich nach 142 Jahren dem Ende zu, die öffentlichen Münzfernsprecher werden nach und nach deaktiviert. Bei vielen wecken die Häuschen alte Erinnerungen - auch beim früheren Kaufhauserpresser Dagobert. Von Roberto Jurkschat

In einem der berühmtesten Fälle der Berliner Kriminalgeschichte ist eine Telefonzelle einem jahrelang gesuchten Gauner zum Verhängnis geworden. Arno Funke, den das ganze Land nur als Kaufhauserpresser Dagobert kannte, ging den Ermittlern ins Netz, als er in einem Münzfernsprecher in der Treptower Hagedornstraße mit einem Karstadt-Mitarbeiter telefonierte.

Ende einer Ära

Vor seiner Festnahme im April 1994 war Dagobert der Polizei immer wieder entwischt: Ein Polizist rutschte bei der Verfolgung auf Hundekot aus, an anderen Tagen entkam Dagobert durch die Kanalisation oder durch einen stillgelegten U-Bahn-Tunnel. Am Tag seiner Festnahme hatten Fahnder dem 44-Jährigen vor einer Telefonzelle aufgelauert. Die Polizei wusste bereits, dass der Erpresser aus öffentlichen Münzfernsprechern bei den Kaufhäusern anrief.

Ohne die Berliner Telefonzellen hätte sich der Fall Dagobert vermutlich gar nicht - oder nur völlig anders abspielen können. Heute gibt es in Berlin nur noch einen Bruchteil der Telefonzellen von damals, und die verbliebenen Exemplare wirken wie Überbleibsel einer alten Kulisse, als hätte sie irgendwer vergessen.

An diesem Montag beginnt nun auch offiziell das letzte Kapitel der öffentlichen Telefone: Wie die Telekom mitteilte, wird die Münzzahlung in den letzten Telefonzellen in ganz Deutschland "deaktiviert". Ab Ende Januar 2023 sind dann auch keine Anrufe mit Telefonkarten mehr möglich. "Der Bedarf an öffentlichen Telefonen ist seit Einführung des Mobilfunks stark rückläufig", erklärt das Bonner Unternehmen auf seiner Webseite. Anders gesagt, der Betrieb lohnt sich nicht mehr, die Kosten für Wartung, Reinigung und die Stromkosten sind höher als die Einnahmen.

"Fasse dich kurz!"

Dieser Montag markiert damit das Ende einer Geschichte, die vor 142 Jahren in Berlin begann, mit dem ersten "Fernsprechkiosk", der im Jahr 1881 eröffnete. Später stachen die gelben Häuschen von der Bundespost (die es von 1947 bis 1994 gab) immer häufiger aus dem Stadtbild heraus. Jahrzehntelang stand "Fasse dich kurz!" als Aufforderung an den Türen - ergänzt oft durch den Hinweis "Nimm Rücksicht auf Wartende". In der DDR war dies noch länger der Fall, weil dort das private Festnetztelefon weniger schnell zum Massenphänomen wurde.

Der Höhepunkt in der Zahl der Telefonzellen war Mitte der 90er Jahre erreicht, als allein die Telekom - als Nachfolgerin der Bundespost - in ganz Deutschland mehr als 160.000 Telefone betrieb, die nicht nur in Einkaufsstraßen oder an Bahnhöfen standen, sondern auch in reinen Wohngebieten oder am Waldrand.

Dagoberts Anrufe aus dem Osten

Als Dagobert es 1994 in seinem Katz-und-Maus-Spiel mit der Berliner Polizei aufnahm, standen in Berlin rund 9.000 Telefonzellen.

Im Gespräch mit rbbl24 erzählt Arno Funke, er habe sich mit Wissenschaftsmagazinen in die Telekommunikationstechnik der Hauptstadt "reingefuchst". "Im Westen waren die Telefonzellen 1994 schon alle digital. Hätte ich die benutzt, hätte die Polizei innerhalb von Sekunden gesehen, von wo ich anrufe", sagt Funke. In Treptow und in den anderen Ostbezirken der Stadt funktionierten die Telefonhäuschen aber damals noch analog. "Da hat die Polizei mitunter bis zu zehn Minuten gebraucht, um einen Anruf zurückzuverfolgen. Ich habe deshalb natürlich nur aus dem Osten angerufen."

Manchmal habe er auch einfach einen Telefonapparat von Zuhause mitgenommen zu einem Verteilerkasten. "Kasten auf, Telefon mit zwei Krokodilklemmen angeschlossen, fertig."

Fahndung mit 3.000 Polizisten

Vor der Festnahme hatte die Polizei 3.000 Telefonzellen identifiziert, die für Dagoberts Anruf in Frage kamen. Mit der Bundespost hatte das Landeskriminalamt eine Vereinbarung getroffen: Jede zweite der 3.000 Telefonzellen wurde am 22. April mit einem "Störung"-Schild versehen. Vor den übrigen 1.500 Fernsprechern hatte die Polizei in einer Großfahndung je zwei Beamte positioniert.

"Dass sich damit so viele Menschen beschäftigen mussten, tut mir im Nachhinein wirklich leid", sagt Arno Funke, der inzwischen ein Buch über sein früheres Leben als Dagobert geschrieben hat. Die Telefonzelle in der Treptower Hagedornstraße gibt es heute nicht mehr, die allermeisten Telefonzellen sind längst aus der Stadt verschwunden. Im Jahr 2016 zählte die Senatsverwaltung für Wirtschaft noch rund 1.200 öffentliche Telefone in Berlin: Telefonsäulen mit pinken Hörern, halbüberdachte Münzsprecher und Telefonhäuschen, von die fast nur noch an Bahnhöfen, in Einkaufsstraßen, am Flughafen und anderen besonders belebten Orten stehen. Die Telekom hat die öffentlichen Telefone aber seit vielen Jahren schon nach und nach abgebaut.

Wenn er heute an Telefonzellen denkt, erzählt Arno Funke, dann kommt ihm Dagobert nicht als erstes in den Sinn. "Ich verbinde damit eher, wie oft ich als Jugendlicher in diesen Häuschen mit meiner Freundin telefoniert habe."

Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit

Erinnerungen, die viele Menschen über 30 bekannt vorkommen dürften: In den engen Häuschen roch es nach altem Papier, Zigarettenqualm und nassem Bürgersteig. Drin war ein klobiger Kasten, der durch ein Metallkabel mit einem Hörer verbunden war. Unterhalb des Telefons hingen dicke Telefonbücher in Papphüllen, darin die Namen der Menschen aus den umliegenden Orten.

Unterm Münzeinwurf befand sich eine zerkratzte Stelle, die zum Aufwärmen von Kleingeld genutzt wurde, meistens in der klammen Hoffnung, dass warmgeriebenes Kleingeld im Apparat bleibt, nachdem kalte Münzen immer wieder durchrutschten. Viele Gespräche gingen mit schnell galloppierenden Sätzen zuende, zum Beispiel weil das Münzgeld alle war und die Gesprächszeit auf der grünen Anzeige runtertickte, oder weil ungeduldige Menschen vor dem Häuschen Schlange standen.

Jugendliche führten hier Gespräche, die Eltern zuhause auf keinen Fall mitbekommen durften, Reisende verbanden sich nach ihrer Ankunft am Urlaubsort noch einmal mit der Heimat, um Bescheid zu sagen, dass sie gut angekommen sind - was dank Messengern heute in ein paar Sekunden erledigt ist.

Telefonhäuschen für 500 Euro

Bis die letzten Telefon-Stelen in Berlin endgültig abgebaut sind, wird wohl das Jahr 2025 angebrochen sein, wie es von der Telekom heißt. In Absprache mit den Gemeinden will das Unternehmen rund 3.000 der letzten 12.000 Standorte ohne Telefoniefunktion weiter nutzen - als sogenannte 'Small Cells'. "Das sind kleine Antennen, die Mobilfunksignale verstärken", lautet die Ankündigung.

Eine Telekom-Sprecherin sagt, es gebe ein zentrales Lager in der Nähe von Potsdam. Die gelben Zellen von einst seien längst ausverkauft, einige der etwa 300 Kilogramm schweren Grau-Magenta-Farbenen gebe es noch zur Selbstabholung. Preis: ungefähr 500 Euro.

Arno Funke hat mit den Telefonzellen inzwischen abgeschlossen, genauso wie mit seiner früheren Alias-Identität. "Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass diese Zeit vorbei ist. Traurig bin ich deswegen nicht."

Sendung: rbb 88,8, 21.11.2022, 10:00 Uhr

Beitrag von Roberto Jurkschat

19 Kommentare

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  1. 19.

    @damarco
    Die blauen und roten Polizei-und Feuerwehr-Notrufsäulen sind ja schon vor Jahren klamm und heimlich abgebaut worden. Das wurde u.a, mit genügend Telefonzellen begründet. Nun verschwinden die auch.

  2. 18.

    Viele kennen die Telefonzellen gar nicht mehr, sie wissen auch nicht, was Telefone mit Wählscheibe waren. Die Zeit der Smart—und iPhones hat das vergessen lassen. Schade, aber alles geht einmal zu Ende.

  3. 17.

    Ich habe seit Jahren eine Telefonkarte in der Tasche für den Notfall. Wie bekomme ich jetzt das Guthaben zurück?

  4. 16.

    Vielleicht sollte man einige Telefonzellen zu
    Notrufpunkten umfunktionieren. Werden wohl als nächstes die Briefkästen abgeschafft ?

  5. 15.

    War damals nicht nur Fortschritt, sondern auch 'ne kleine Freiheit. Auch wenn manchmal der Fuchs um's Häuschen schlich, oder der nächste Münzer, in den 80ern, erst in der Großen-Hamburger-Str. war, man selbst aber in der Auguststr. wohnte. Man konnte die ja auch anrufen, wenn man vorher eine Uhrzeit absprach. Eigentlich gehört so ein öffentlicher Fernsprecher, als analoges Back-up für den Kat-Schutz, in jedes Dorf, in jede Siedlung, in jedes Veedel. Gern aufgerüstet für Mobilfunk/5G. Eigentlich.

  6. 14.

    Sie sind vermutlich zu jung um zu wissen, dass das alles mal die Post war und nur juristisch für mehr Führungsposten auseinander dividiert wurde. Der alte Geist weht aber immer noch durch beide Teile!

  7. 13.

    Schade eigentlich, dass die Ära der Münzfern- sprecher nun zu Ende geht. Ich habe 1986 über diese eine. Hausarbeit schreiben müssen, um dann FA für Fernsprecherkehr ( Telefonistin) sein zu dürfen. Im Volksmund auch Fräulein vom Amt .

  8. 12.

    "....ebenso wie bei den geschlossenen Postfilialen, den reduzierten Briefkästen und Zustellern" und was hat DAS mit der Telekom zu tun??

  9. 11.

    ".....was machen die Menschen die sich kein Telefon leisten können?..... die sind dadurch von der Aussenwelt ganz+gar abgeschottet." Im Gegenteil, die müssen dann mit Nachbarn, Freunden usw. sprechen, um ggf. deren Telefon benutzen zu können.

  10. 10.

    Da spart die Telekom doch jetzt viel Geld, ebenso wie bei den geschlossenen Postfilialen, den reduzierten Briefkästen und Zustellern. Also, wo bleibt die Marie? Bei den Gehältern der Vorstände? Der Kunde merkt jedenfalls nichts!

  11. 9.

    Ganz schön+gut,was machen die Menschen die sich kein Telefon leisten können?Ich kenne viele solcher Menschen die sind dadurch von der Aussenwelt ganz+gar abgeschottet.

  12. 8.

    Den Ausfall hatte es übrigens nur einem einem von drei Mobilfunknetzen gegeben.

  13. 7.

    Wenn ich heute irgendwo ein DIXXI Toilettenhäuschen sehen, denke ich unweigerlich an die gute alte Telefonzelle. Warum nur... Weil die Größe fast dieselbe ist? Weils drinnen auch meist nach Urin und anderen Ausscheidungen roch? Weil die neu aufgestellt immer auch gute Wetterhäuschen waren? Weil man Toilettenhäuschen heute genauso oft sieht wie früher Telefonzellen?
    Was im Artikel völlig zu kurz kommt, ist die Telefonzelle in der DDR. Das war die einzige zeitnahe Kommunikationsmöglichkeit in die Ferne. Ein ganzes Land stand in Telefonzellen. Und es wurde nicht einfach wie heute endlos gelabert, sondern kurz und bündig das wichtigste mitgeteilt.

  14. 6.

    Völlig irre. Warum, haben damarco und Berliner schon geschrieben.

  15. 5.

    Lol, hat man doch letztens gemerkt wie ausfallsicher die Mobilfunknetze sind.

  16. 4.

    Es ist ein Fehler vollkommen auf die Münztelefone zu verzichten. Wir werden sie noch brauchen.

  17. 3.

    Der Artikel ist voll am Thema vorbei.
    Es sollte um das Aus für Telefonzellen gehen.
    Hier ist ein Artikel über Arno Funke zu lesen.

  18. 2.

    Die Anzahl der stromlos funktionierenden öffentlichen Telefone ist doch zu erhöhen. Findet sich da kein Unternehmer mehr?

  19. 1.

    Wieder ist zu sehen wie ein privates Unternehmen mit Hilfe der Politik Infrastruktur zurück baut um später festzustellen das Sie im Notfall nützlich war. Sie werden nicht einmal an gewissen öffentlichen Punkten durch Notrufsäulen ersetzt, diese auch ohne lokale Stromversorgung funktionsfähig bleiben. Ich bin gespannt wie Krisenfest der Mobilfunk sein wird mit überlasteten Zellen mit Ersatzversorgung.

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