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Quelle: DPA/Wolfram Steinberg

Sozialverbände in Sorge

Wie Corona die Lage der Ärmsten verschärft

Die Corona-Pandemie trifft arme Menschen besonders hart. Unterstützende Stellen sind oftmals überlastet, viele Ämter geschlossen. Viele soziale Verbände schlagen Alarm und fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Von Carmen Gräf

Emil Sommer, der in Wirklichkeit anders heißt, gehört zu den vielen Verlierern der Corona-Pandemie. Er verlor seinen Job in der Gastronomie und lebte vorübergehend auf der Straße. Dann hatte er endlich eine Wohnung in Aussicht. Dafür brauchte er jedoch eine Genehmigung vom Jobcenter. Dieses war während des Lockdowns jedoch für ihn nicht erreichbar - so bekam er die Wohnung nicht und lebt heute in einer Unterkunft für Obdachlose.

So wie Emil Sommer geht es vielen. Behörden gingen in den Lockdown - Betroffene fühlten sich im Stich gelassen. Das bestätigen eine wissenschafltiche Stellungnahme der Alice-Salomon-Hochschule und eine Umfrage der Landesarmutskonferenz Berlin. 16 Einrichtungen in Berlin und Brandenburg wurden befragt - das sind mehr als ein Fünftel ihrer Mitglieder - aus der Wohnungsnotfallhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der allgemeinen Sozialberatung und aus ehrenamtlichen Unterstützungsangeboten.

Keine Versicherung, kein Ausweis

"Impfungen sollten unabhängig vom Aufenthaltsstatus sein"

Auch Menschen ohne Aufenthaltsstatus haben ein Recht auf eine Corona-Impfung. Es fehlt jedoch das Vertrauen in die Behörden. Hilfsorganisationen wollen vermitteln - in Berlin gibt es Bemühungen, Brandenburg hinkt hinterher. Von Oliver Noffke

Rückfälle in Sucht, Überforderung von Familien, insbesondere Frauen"

Das Ergebnis: Die Mitarbeitenden dieser Einrichtungen sind chronisch überlastet, weil sie immer mehr hilfsbedürftige und arme Menschen betreuen müssen. Exakte Zahlen sollen dazu noch erhoben werden. Derzeit gelten 16,3 Prozent der Menschen in Berlin als arm - mehr als im Bundesdurchschnitt.

"Wir mussten noch nie so viel tun, um den Folgen der Pandemie zu begegnen", sagte Nicole Trielow vom Netzwerk Alleinerziehender Lichtenberg bei einer Online-Konferenz am Montagabend, bei der auf Einladung der Landesarmutskonferenz Vertreter:innen der Wohlfahrtsverbände und der Sozialpolitik anwesend waren. "Das, was von den Behörden nicht bearbeitet wurde, nahm dramatische Auswüchse an. Unseren Klienten drohten Kündigungen und Räumungsklagen", so Nicole Trielow weiter. "Solche zugespitzten Fälle landeten bei uns in der Beratung."

Viele von Armut betroffene Menschen wendeten sich an die Sozialverbände, weil ihnen die Schließung von Ämtern und Behörden zu schaffen machte. Sie konnten keine finanzielle Leistungen oder Unterlagen, die sie brauchten, beantragen. Vor allem Älteren, Migrantinnen und Migranten und Menschen mit mangelnder Schulbildung fiel es schwer, die Online-Alternativen wahrzunehmen. "Weil der Zugang zu Bezirksämtern, Jobcentern und Gerichten erschwert war, stagnierten viele Hilfeprozesse," berichtete der Leiter der Berliner Stadtmission, Achim Wurster. "Psychotherapien mussten aufgeschoben werden. Das Ergebnis: Rückfälle in Sucht, Überforderung von Familien, insbesondere Frauen."

Interview | Armutsbeauftragter Diakoniewerk Simeon

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Etwa 16,4 Prozent der Menschen in Berlin gelten als arm. Damit liegt die Hauptstadt über dem Bundesdurchschnitt. Warum die Corona-Krise die Armut noch verschärft hat, erklärt der kirchliche Armutsbeauftragte Thomas de Vachroi. Von Georg-Stefan Russew

Keine Schutzausrüstung für Streetworker

Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, bestätigte das: "Leute sind durch das Raster gerutscht. Viele junge Menschen wurden nicht mehr von der Jugendberufsagentur beraten. Da werden Armutskarrieren begründet." Antje Trölsch von Berliner Tafel sagte: "Wir haben die ganze Zeit durchgearbeitet auf dem Berliner Großmarkt. Die Tafel hat mehr Kunden als vor Corona". Zeit, genaue Zahlen zu erfassen, bleibe jedoch nicht.

"Die Pandemie macht Schwachstellen im System sichtbar, die schon vorher da waren und verstärkt diese", sagte Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule. Als Konsequenz fordert sie gemeinsam mit der Landesarmutskonferenz Pandemieschutzpläne für Berlin und Brandenburg. "Denn nach Corona ist vor Virus XY."

Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) berichtete, dass es am Anfang der Pandemie keine Schutzausrüstung gegeben habe. Man bräuchte diese jedoch für Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten können. Etwa Mitarbeitende der Kältehilfe oder Streetworker und Streetworkerinnen.

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Jobcenter in Köpenick blieb in Kontakt mit den Kunden

Sandra Born von der Arbeitsgruppe Kinderarmut des Bezirksamtes Lichtenberg betonte: Um Armutskarrieren zu beenden, bräuchte man Mentoring- und Patenschaftsprogramme wie etwa Schuldnerberatungen an Schulen, um die Finanzkompetenz der Jugendlichen zu stärken. Kinderarmut und Bildungsbenachteiligung müssten bekämpft werden, da Kinder und Jugendliche Leidtragende der Pandemie seien.

Außerdem forderte die Landesarmutskonferenz: Nicht nur Behörden, sondern auch freien Träger müssten als systemrelevant eingestuft werden. Politik und Behörden dürften sich nicht abschotten. Persönliche Beratung müsste auch während eines Lockdowns gewährleistet sein. "Wenn ich im Supermarkt einkaufen darf, muss auch persönliche Beratung mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen möglich werden", so Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule.

Mehtab Caglar vom Jobcenter Köpenick zeigte auf, wie das geht: "Unser Haus war nie geschlossen. Wenn ein Kunde persönlichen Kontakt gesucht hat, haben wir uns diesem Kontakt angenommen. Wir sind zum Teil auf die Straße gekommen. Wir haben Service-Hotlines eingerichtet und versucht, gleich am nächsten Tag zurückzurufen."

Ein Beispiel, das nicht repräsentativ ist für die Berliner und Brandenburger Behörden und das dennoch zeigt, wie viel möglich ist mit Engagement und gutem Willen. Die Landesarmutskonferenz Berlin forderte: "Pandemiebekämpfung darf der Staat nicht auf die Wohlfahrtspflege abwälzen."

Beitrag von Carmen Gräf

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