#wiegehtesuns | Die Inklusionspädagogin - "Sonderpädagogik ist einer der ersten Bereiche, wo gestrichen wird"

Fr 30.06.23 | 07:32 Uhr
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Stühle stehen in einer Schule in Berlin auf den Tischen. (Quelle: dpa/Kay Nietfeld)
Bild: dpa/Kay Nietfeld

Helen Schiller arbeitet als Integrationpädagogin an einer Berliner Gemeinschaftsschule. Die Arbeitsbedingungen dort haben sie an die Grenzen ihrer Kräfte gebracht. Jetzt zieht sie Konsequenzen. Ein Gesprächsprotokoll.

In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Helen Schiller (Name geändert) ist studierte Deutsch- und Musikpädagogin, mit Zusatzqualifikation Sonderpädagogik. Ihr Referendariat hat sie an einer Gesamtschule gemacht, seit einem Jahr ist sie dort in Vollzeit als Lehrerin beschäftigt. An ihrer Schule lernen mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche von der 1. bis zur 13. Klasse.

Als Inklusionspädagogin unterrichtet sie Kinder und Jugendliche in der Mittelstufe mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dabei bekommt sie den rauen Schullalltag täglich zu spüren.

Ich habe mir diese Schule bewusst ausgesucht. Ich wollte an eine Gemeinschaftsschule, ich wollte an eine inklusive Schule, weil mich als Sonderpädagogin beziehungsweise Inklusionspädagogin interessiert hat, wie Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen.

Meine Schule gehört von den Rahmenbedingungen zu denen, die noch okay ausgestattet sind: Wir haben zumindest auf dem Papier genug Lehrerinnen und Lehrer. Aber im vergangenen Jahr ist ein deutlicher Rückgang zu spüren gewesen. Zum Beispiel kann ich nicht so viel in Sonderpädagogik eingesetzt werden, weil wir nicht genug Musiklehrkräfte haben und ich dort den Fachunterricht abdecken muss. In Bezug auf die nächsten Jahre machen wir uns auch in den Hauptfächern große Sorgen.

Der Bereich Sonderpädagogik ist einer der ersten Bereiche, wo gestrichen wird. Das ist die Desillusionierung, die ich in den vergangenen Jahren erlebt habe, weil ich mir die Gemeinschaftsschule ja ganz bewusst ausgesucht habe. Ich habe das Gefühl, die Rahmenbedingungen lassen Inklusion kaum zu. Wenn Lehrerinnen und Lehrer ausfallen, werde ich oft abgezogen aus der Doppelsteckung. [Doppelsteckung: Einer Klasse sind zwei Lehrkräfte zugeordnet, Anm. d. Red.].

Das bedeutet, dass Kinder, die Förderbedarf und ein Recht auf individuelle Förderung haben, diese nicht immer bekommen. Also die Kinder, die es sowieso schon sehr schwer im System haben, erhalten die Förderung nicht.

Ich habe mal eine Talent-Show in der Schule auf die Beine gestellt. Sowas interessiert viele Schülerinnen und Schüler. Eigentlich brauchen wir solche Events viel mehr, denn die Kinder und Jugendlichen sind auch grade nach den Corona-Jahren unglaublich bedürftig nach sowas. Aber solche Events zu stemmen, ist für uns ein wahnsinniger Kraftakt.

Wir Lehrkräfte müssen immer mehr Verwaltungsaufgaben übernehmen. Dazu kommen Willkommensklassen und zusätzlich Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Dann haben wir unerfahrene Vertretungslehrkräfte, die man irgendwie mit einbeziehen muss und Kinder, für die viel Beziehungsarbeit notwendig ist. Das alles soll man im Blick haben. Mich beschäftigt das sehr, ich nehme das oft auch mit nach Hause.

Ich fühle mich der Inklusion sehr verpflichtet, aber so wie ich sie bei uns erlebe, erfüllt mich das nur mit wenig Wirksamkeitserfahrung.

Ich wünsche mir kleinere Klassen. In unserer Schule wird die vorgeschriebene Höchstzahl an Schüler:innen oft überschritten. Außerdem brauchen wir Lehrmaterialien für differenzierten Unterricht und ganz dringend Verstärkung in der Verwaltung, um uns Lehrkräfte zu entlasten.

Wir haben ein tolles Kollegium, ein politisches Kollegium, wo auch gestreikt wird, wenn dazu von der Gewerkschaft aufgerufen wird. Wir haben eine positive Stimmung.

Von der Schülerklientel her erlebe ich es in der Mittelstufe als sehr rau: Da gibt es schon mal Gewaltvorfälle, Schlägereien und mitgebrachte Messer. (Cyber-)Mobbing ist auch ein Thema, das uns in Atem hält. Das geht so weit, dass sich manche Mädchen nicht mehr zur Schule trauen.

Wir müssen Schüler:innen in Extremfällen auch mal suspendieren, auch wenn wir vorab immer alle alternativen pädagogischen Möglichkeiten ausschöpfen. Wir versuchen viel über die Beziehungsebene und die Eltern zu erreichen, doch schaffen wir es nicht immer, die Situation zu entschärfen.

Neulich hatten wir sogar bei einem Konzert einen Gewaltvorfall, wo es zu einer Schlägerei kam. Beim nächsten Konzert wird es Security geben. All diese Aktivitäten wie Konzerte und Veranstaltungen machen wir übrigens zusätzlich, über die Unterrichtszeit hinaus.

Ich fühle mich der Inklusion sehr verpflichtet, aber so wie ich sie bei uns erlebe, erfüllt mich das nur mit wenig Wirksamkeitserfahrung. Ich habe als Musiklehrerin und Inklusionspädagogin für mich die Konsequenz gezogen: Ich gehe jetzt in eine kleine Schule mit etwas anderen Bedingungen. Ich hoffe, dass es für mich besser wird.

Ich glaube übrigens, dass der Lehrerberuf ein wunderbarer Beruf sein kann. Ich denke allerdings, man muss sich dafür einsetzen, dass die Zustände nicht so bleiben - besonders da, wo Kinder uns am meisten brauchen.

Gesprächsprotokoll: Steve Neuwirth

2 Kommentare

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  1. 2.

    Dem kann ich mich nur anschließen. Familien von Kindern, die ganz offensichtlich hohen Förderbedarf haben, werden viele Steine in den Weg gelegt. Kindern mit seelischer Behinderung - wie in unserem Fall - fehlen entsprechend ausgestaltete Ansprüche. Selbst das sonderpädagogische Feststellungsverfahren ist hierzulande ein Bürokratiemonster. Die Umsetzung von Inklusion im Berliner Schulalltag wird dabei angesichts Personalmangels zur Glückssache.

  2. 1.

    Schön, dass die Lehrerin sich so für Inklusion einsetzt. Aber das ist nur ihr Beruf. Es sollte vielmehr dargestellt werden, wie es den Familien mit besonderen Kindern geht. Die finden keinen Platz, schlechte Betreuung bedeuten schlechte Chancen und dauerndes Kümmern. Da steckt doch die Dramatik! Die Last der Familie und die Diskriminierung der Kinder.

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