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Audio: rbb 88,8 | 15.07.2022 | Matthias Bartsch | Quelle: dpa

Erstmals Zahlen erhoben

Mehr als 27.000 wohnungslose Menschen in der Region leben in Notunterkünften

Wie viele Menschen im Land kein festes Zuhause haben, lässt sich nur schätzen. Nun gibt es zum ersten Mal auch für Berlin und Brandenburg Zahlen, wie viele Wohnungslose in Unterkünften übernachten - mit großen Unterschieden. Von Sebastian Schneider

Morgens raus auf die Straße, abends oft wieder auf der Suche nach einem Schlafplatz: Das Leben vieler wohnungsloser Menschen in Deutschland entzieht sich amtlichen Versuchen, es zu erfassen. Vor allem über Schätzungen und Hochrechnungen kamen die Behörden und Hilfsorganisationen der Frage näher, wie groß die Not derjenigen ist, die durch die meisten Sicherheitsnetze gefallen sind.

Das Statistische Bundesamt hat am Donnerstag zumindest für einen Teil dieser Menschen erstmals bundesweite Daten vorgelegt: diejenigen, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften oder in vorübergehenden Quartieren leben. Demnach waren Ende Januar dieses Jahres in Deutschland rund 178.000 wohnungslose Menschen in solchen Unterkünften untergebracht. Das entspricht knapp der Einwohnerzahl von Potsdam. "Die jetzt veröffentlichten Zahlen sind ein wichtiger Schritt und besser als bisherige Schätzungen", sagte die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetags, Verena Göppert.

Nicht mal ein Zehntel

Berlin kann Ansprüche auf Sozialwohnungen bei weitem nicht erfüllen

Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten viele Berliner Haushalte, doch selbst wenn diese erfolgreich einen Wohnberechtigungsschein beantragen, fehlt es an verfügbaren Wohnungen. Dazu kommt: Die Wohnungen werden nicht mehr, sondern weniger.

Knapp 26.000 Betroffene in Berlin festgestellt - knapp 1.300 in Brandenburg

Berlin liegt im Ländervergleich auf Platz drei hinter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, allerdings bei der absoluten Zahl der wohnungslosen Menschen in Unterkünften: knapp 26.000 Betroffene wurden Ende Januar gezählt, Brandenburg hatte mit knapp 1.300 Menschen nur einen Bruchteil.

Auf die Gesamtbevölkerung umgerechnet, liegt bundesweit nur Hamburg (0,99 Prozent) vor Berlin (0,68 Prozent). Dass Metropolen für wohnungslose Menschen auf der Suche nach Unterkünften attraktiver sind, ist nichts Ungewöhnliches - ein Hauptgrund dafür ist, dass es dort schlichtweg mehr Übernachtungsmöglichkeiten und andere Hilfsangebote gibt.

Bislang waren in Berlin mehr als 31.000 Wohnungslose erfasst. Wohnungslos bedeutet nicht gleich obdachlos: Die meisten Betroffenen bleiben über drei Jahre hinweg und länger ohne eigene vier Wände in Unterkünften. Die Dunkelziffer wird aber auf bis zu 50.000 Personen geschätzt.

Die Kommunen und Landkreise registrierten diesmal Menschen, die zum Stichtag 31. Januar 2022 in Räumen oder Übernachtungsgelegenheiten lebten, welche ihnen von Gemeinden oder mit Kostenerstattung durch andere Träger von Sozialleistungen zur Verfügung gestellt wurden. Auch Menschen im betreuten Wohnen zählten dazu, Geflüchtete nur, dann wenn ihr Asylverfahren erfolgreich verlaufen war.

Zwei Drittel männlich, in Berlin zum größten Teil nichtdeutsche Staatsbürger

Die deutliche Mehrheit der Betroffenen ist männlich, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Das bestätigt sich auch in Berlin und Potsdam: Knapp zwei Drittel der Wohnungslosen, die am 31. Januar in einer Unterkunft registriert wurden, waren Männer.

Bei der Verteilung der Staatsangehörigkeit zeigt sich in Berlin und Brandenburg ein großer Unterschied: Während in Berlin etwa 72 Prozent der Betroffenen nichtdeutsche Staatsbürger waren, galt das in Brandenburg für knapp 40 Prozent. Genauer wurden die Nationalitäten vom Statistischen Bundesamt nicht aufgeschlüsselt. Im Bundesdurchschnitt hatte ein knappes Drittel die deutsche Staatsangehörigkeit, 64 Prozent waren ausländische Staatsbürger.

Knappe Mehrheit in Berlin alleinstehend - aber auch größere Haushalte betroffen

Die knappe Mehrheit der Menschen in den Berliner Unterkünften lebte dort allein. Die zweitgrößte Gruppe aber waren Haushalte mit fünf oder mehr Personen, auch Paare mit Kindern waren vergleichsweise stark vertreten - das verdeutlicht den Unterschied zur Situation von obdachlosen Menschen, mit denen Wohnungslose oft missverständlich gleichgesetzt werden.

"Diese Menschen gehen ganz normal zur Arbeit und zur Schule. Nur anschließend nicht in ihre Wohnung, sondern in eine Wohnungslosenunterkunft. Wir dürfen diese Menschen nicht aus den Augen verlieren", sagte Taylan Kurt, Sprecher für Soziales der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, im vergangenen Februar dem rbb. Wohnungslosigkeit sei im Alltag kaum sichtbar.

Menschenrechtsinstitut: "Zusammenleben häufig geprägt von Angst und Konflikten"

In der Hauptstadt lebte die größte Gruppe der registrierten Menschen acht Wochen bis sechs Monate lang in einer Unterkunft für Wohnungslose. In Brandenburg war die mit Abstand größte Gruppe mindestens zwei Jahre in einer solchen Unterkunft untergebracht. "Wohnungslose Menschen, die in kommunalen Notunterkünften leben müssen, erleben häufig verdreckte und beschädigte Sanitäranlagen, Mehrbettzimmer, keine Privatsphäre und ein Zusammenleben geprägt von Angst und Konflikten", sagte Claudia Engelmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Menschenrechtsinstituts, am Donnerstag.

Für viele Betroffene und Familien sei dies kein Zustand von wenigen Tagen, sondern von Monaten und Jahren." Diese Menschen sind nicht nur in ihrem Recht auf Wohnen eingeschränkt, auch das Recht auf Familie, auf Gesundheit und auf Schutz vor Gewalt ist oftmals nicht gewährleistet", sagte Engelmann. Das Institut forscht eigenen Angaben zufolge zu menschenrechtlichen Fragen und beobachtet die Menschenrechtssituation in Deutschland, berät Politik, Justiz und Wirtschaft bei der Umsetzung von Menschenrechtsabkommen.

Der Staat ist per Gesetz verpflichtet, zu helfen

Engelmann nannte die Veröffentlichung der Zahlen am Donnerstag einen "ersten Schritt", forderte aber Mindeststandards für die kommunale Notunterbringung. Bund, Länder und Kommunen müssten verstärkt die Verantwortung für menschenwürdige Unterkünfte und kurze Aufenthaltszeiten übernehmen. Besonders die Länder sollten eine stärkere Rolle einnehmen.

Wer in Berlin wohnungslos ist, der kann sich beim Amt für Soziales im Bezirk melden, das dann einen freien Unterkunftsplatz zuweist. So regelt es das Gesetz. Der Staat ist verpflichtet, zu helfen. Außerdem unterstützt die Berliner Sozialverwaltung bislang 25 Einrichtungen und Dienste der Berliner Wohnungslosenhilfe wie etwa Beratungsstellen, Straßensozialarbeit und medizinische Versorgung.

Bundesregierung will genaueres Bild gewinnen

Die Ampel-Koalition hat angekündigt, den sozialen Wohnungsbau mit mehreren Milliarden Euro zu stärken, zuletzt war die Zahl der Sozialwohnungen in vielen Bundesländern trotz aller Beteuerungen der Verantwortlichen in den Vorjahren sogar gesunken [tagesschau.de]. Wie viele Menschen heute insgesamt ohne Wohnung leben, weiß die Regierung nicht. Deshalb habe das Bundesarbeitsministerium ergänzend eine umfangreiche repräsentative Erhebung in Auftrag gegeben, die verlässliche Zahlen zur Wohnungslosigkeit liefern solle, sagte der Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) am Donnerstag. Damit solle ermittelt werden, "wie viele wohnungslose Menschen ohne Unterkunft (Straßenobdachlosigkeit) oder verdeckt wohnungslos sind, also bei Bekannten oder Angehörigen unterkommen".

Auf dieser Grundlage könne die Regierung "zielgenaue Hilfen entwickeln, um das Übel der Wohnungslosigkeit zurückzudrängen", sagte Heil, ohne konkreter zu nennen, wie diese Hilfe aussehen könnten. Einen entsprechenden Bericht mit Empfehlungen kündigte Heil für den Herbst an.

Obdachlose nicht erfasst

Zum ersten Mal hat eine deutsche Regierung nun also zumindest Anhaltspunkte für das Ausmaß der Wohnungslosigkeit. Dass diese Not in der ansonsten durchaus statistikverliebten Bundesrepublik bisher nie systematisch festgestellt worden ist, zeigt, welche Bedeutung die Verantwortlichen ihr beigemessen haben.

Nicht erfasst wurden weiterhin Wohnungslose, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen, und Obdachlose, die auf der Straße leben. Sie können nur in Notunterkünften übernachten, die vor allem von der Kältehilfe bereitgestellt werden. Sie haben keine eigene Bleibe und können auch nicht bei Bekannten unterkommen. Wie viele Betroffene in Berlin leben, weiß niemand. Schätzungen gehen von bis zu 10.000 obdachlosen Menschen in der Stadt aus.

Sendung: rbb24 Inforadio, 14.07.2022, 22 Uhr

Beitrag von Sebastian Schneider

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