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Quelle: dpa/S.Gollnow

Wahlchaos in Berlin

Verfassungsrechtler äußert Zweifel an flächendeckenden Neuwahlen

Nachdem das Berliner Verfassungsgericht komplette Neuwahlen in Berlin für möglich hält, zeigt sich Verfassungsrechtler Pestalozza verwundert. Ex-Innensenator Geisel weist unterdessen Rücktrittsforderungen zurück.

Der Staats- und Verwaltungsrechtler Christian Pestalozza kritisiert die vorläufige Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, nach der eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus sowie der Bezirksverordnetenversammlungen erforderlich sei. "Der Umfang einer Wahlwiederholung muss im Verhältnis zu den Wahlfehlern stehen", sagte der Wissenschaftler von der Freien Universität Berlin am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. "Man kann nicht flächendeckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehlerfrei war."

Der Verfassungsgerichtshof sage offenbar: "Wir wollen reinen Tisch machen", so Pestalozza. Das sei aus seiner Sicht aber problematisch. "Man kann nicht aufgrund von Mutmaßungen in größerem Umfang neu wählen lassen, als es wirklich nötig ist. Das geht nicht." Wahlfehler müssten zweifelsfrei festgestellt werden, dann müsse die Mandatsrelevanz geprüft werden. Er hoffe, dass das Gericht nach seiner am Mittwoch vorgetragenen vorläufigen Einschätzung noch einmal in sich gehe.

Bei einer ersten Anhörung des Gerichts zu den Wahlpannen im Jahr 2021 hatte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting am Mittwoch gesagt, eine "vollständige Ungültigkeit" der Wahl komme in Betracht.

Mögliche Wahlwiederholung

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Urteilen der Justiz haftet immer wieder der Vorwurf der Unvereinbarkeit mit dem Volksempfinden an. Die Berliner Verfassungsrichter haben gezeigt, dass es auch anders geht. Von Christoph Reinhardt

Opposition will Neuwahlen

Nach der vorläufigen Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichts hatten sich die Oppositionsparteien bereits in Stellung gebracht.

So sagte CDU-Generalsekretär Mario Czaja den Berliner Christdemokraten bereits Unterstützung zu. "Die Chancen stehen gut, dass die Christdemokraten ganz Berlin erobern - zumal die Parteien der rot-grün-roten Koalition für das Wahlchaos 2021 verantwortlich sind", sagte Czaja.

CDU-Generalsekretär Stefan Evers sagte, Berlin müsse sich nun auf komplette Neuwahlen einstellen. "Franziska Giffey ist mit dem heutigen Tag eine Regierende Bürgermeisterin auf Abruf", so Evers mit Blick auf die SPD-Regierungschefin.

Die Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Kristin Brinker rechnet mit einer kompletten Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl im nächsten Frühjahr. "Ich würde mich wundern, wenn das Gericht da noch einen anderen Ausweg finden würde", sagte Brinker am Rand der mündlichen Verhandlung.

Geisel weist Rücktrittsforderungen zurück

Schon jetzt wurden Forderungen nach einem Rücktritt des SPD-Politikers Andreas Geisel als Senator laut, der zum Zeitpunkt der Wahl im September 2021 Innensenator war und inzwischen an der Spitze der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Bauen steht.

"Er sollte weiteren Schaden vom Ansehen des Senats durch seinen sofortigen Rücktritt abwenden", sagte der Berliner FDP-Landeschef Christoph Meyer. Auch CDU-Generalsekretär Evers hält einen Rücktritt nach eigener Aussage für unausweichlich. "Wer das Vertrauen in Wahlen erschüttert, gefährdet unsere Demokratie. Ich finde es schlimm, dass bis heute weder die SPD, noch der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Geisel Konsequenzen gezogen haben."

Geisel lehnt einen Rücktritt ab. "Es ist nicht so, dass ich nicht Verantwortung spüre. Aber die Frage ist, welche Entscheidung trifft man, um die Sache besser zu machen, und ich habe mich entschlossen zu arbeiten", sagte er am Mittwochabend bei einem Leserforum der "Berliner Morgenpost". "Ich selbst war Kandidat und hätte nicht eingreifen dürfen", betonte Geisel und fragte: "Was würde es besser machen, wenn ich zurücktrete?" Er habe eine Aufgabe in Berlin, die darin bestehe, die Stadt weiterzuentwickeln. "Und wenn ich mich prüfe und mich frage: Hast du die Wahl organisiert, dann sage ich: Nein, du hast die Wahl nicht organisiert. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht dafür zu sorgen haben, dass das nie wieder passiert."

Interview | Politikwissenschaftler Faas

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Wegen des Wahlchaos vor einem Jahr stellt das Berliner Verfassungsgericht komplette Neuwahlen in Aussicht. Politikwissenschaftler Thorsten Faas zeigt sich überrascht: Frühere Rechtsprechungen würden diese Einschätzung nicht unbedingt nahelegen.

Giffey sagt Unterstützung für mögliche Wahlwiederholung zu

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hat unterdessen eine umfassende Vorbereitung für den Fall einer Wahlwiederholung zugesagt, damit es nicht wieder zu Pannen kommt. "Ich kann das nicht ungeschehen machen, was dort passiert ist, aber ich kann dafür sorgen, jetzt, wo ich politische Verantwortung habe, dass das nicht nochmal passiert und dass wir gut aufgestellt, gut organisiert in eine solche Nachwahl oder Wiederholungswahl gehen", so Giffey am Donnerstag. Sie verwies auch darauf, dass sie zum Zeitpunkt der vorigen Wahl "nicht in politischer Verantwortung", sondern Kandidatin gewesen sei.

Jarasch will keine Wahlkampfblockade

Berlins stellvertretende Regierungschefin Bettina Jarasch (Grüne) will sich trotz einer möglichen Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus auf die Sachthemen konzentrieren. "Wir stehen vor einem heftigen Krisenwinter und tragen als Senat die Verantwortung dafür, dass wir jetzt nicht in einen Stillstand geraten", sagte die Senatorin für Umwelt und Verkehr am Donnerstag der Deutschen-Presse-Agentur. So gelte es unter anderem, ein Entlastungspaket zu schnüren und einen Nachtragshaushalt aufzustellen. "Das letzte, was die Berlinerinnen und Berlin jetzt brauchen, ist gegenseitige Wahlkampfblockade", betonte Jarasch.

Am 26. September 2021 waren die Berlinerinnen und Berliner gleich zu vier Abstimmungen aufgerufen. Gewählt wurden der Bundestag, das Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen. Dazu kam noch ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Es bildeten sich lange Warteschlangen an Wahllokalen. Manche hatten deutlich länger als 18 Uhr offen, weil Stimmzettel fehlten oder im falschen Wahllokal ausgereicht wurden. Die Berliner Landeswahlleitung zählte allein in 207 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.09.2022, 08:00 Uhr

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