Wahlchaos in Berlin - Verfassungsrechtler äußert Zweifel an flächendeckenden Neuwahlen

Do 29.09.22 | 13:36 Uhr
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Eine Frau gibt in einem Wahllokal Wahlzettel für die Wahl des Abgeordnetenhauses und den Volksentscheid in Berlin ab.(Quelle:dpa/S.Gollnow)
Bild: dpa/S.Gollnow

Nachdem das Berliner Verfassungsgericht komplette Neuwahlen in Berlin für möglich hält, zeigt sich Verfassungsrechtler Pestalozza verwundert. Ex-Innensenator Geisel weist unterdessen Rücktrittsforderungen zurück.

Der Staats- und Verwaltungsrechtler Christian Pestalozza kritisiert die vorläufige Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, nach der eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus sowie der Bezirksverordnetenversammlungen erforderlich sei. "Der Umfang einer Wahlwiederholung muss im Verhältnis zu den Wahlfehlern stehen", sagte der Wissenschaftler von der Freien Universität Berlin am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. "Man kann nicht flächendeckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehlerfrei war."

Der Verfassungsgerichtshof sage offenbar: "Wir wollen reinen Tisch machen", so Pestalozza. Das sei aus seiner Sicht aber problematisch. "Man kann nicht aufgrund von Mutmaßungen in größerem Umfang neu wählen lassen, als es wirklich nötig ist. Das geht nicht." Wahlfehler müssten zweifelsfrei festgestellt werden, dann müsse die Mandatsrelevanz geprüft werden. Er hoffe, dass das Gericht nach seiner am Mittwoch vorgetragenen vorläufigen Einschätzung noch einmal in sich gehe.

Bei einer ersten Anhörung des Gerichts zu den Wahlpannen im Jahr 2021 hatte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting am Mittwoch gesagt, eine "vollständige Ungültigkeit" der Wahl komme in Betracht.

Opposition will Neuwahlen

Nach der vorläufigen Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichts hatten sich die Oppositionsparteien bereits in Stellung gebracht.

So sagte CDU-Generalsekretär Mario Czaja den Berliner Christdemokraten bereits Unterstützung zu. "Die Chancen stehen gut, dass die Christdemokraten ganz Berlin erobern - zumal die Parteien der rot-grün-roten Koalition für das Wahlchaos 2021 verantwortlich sind", sagte Czaja.

CDU-Generalsekretär Stefan Evers sagte, Berlin müsse sich nun auf komplette Neuwahlen einstellen. "Franziska Giffey ist mit dem heutigen Tag eine Regierende Bürgermeisterin auf Abruf", so Evers mit Blick auf die SPD-Regierungschefin.

Die Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Kristin Brinker rechnet mit einer kompletten Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl im nächsten Frühjahr. "Ich würde mich wundern, wenn das Gericht da noch einen anderen Ausweg finden würde", sagte Brinker am Rand der mündlichen Verhandlung.

Geisel weist Rücktrittsforderungen zurück

Schon jetzt wurden Forderungen nach einem Rücktritt des SPD-Politikers Andreas Geisel als Senator laut, der zum Zeitpunkt der Wahl im September 2021 Innensenator war und inzwischen an der Spitze der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Bauen steht.

"Er sollte weiteren Schaden vom Ansehen des Senats durch seinen sofortigen Rücktritt abwenden", sagte der Berliner FDP-Landeschef Christoph Meyer. Auch CDU-Generalsekretär Evers hält einen Rücktritt nach eigener Aussage für unausweichlich. "Wer das Vertrauen in Wahlen erschüttert, gefährdet unsere Demokratie. Ich finde es schlimm, dass bis heute weder die SPD, noch der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Geisel Konsequenzen gezogen haben."

Geisel lehnt einen Rücktritt ab. "Es ist nicht so, dass ich nicht Verantwortung spüre. Aber die Frage ist, welche Entscheidung trifft man, um die Sache besser zu machen, und ich habe mich entschlossen zu arbeiten", sagte er am Mittwochabend bei einem Leserforum der "Berliner Morgenpost". "Ich selbst war Kandidat und hätte nicht eingreifen dürfen", betonte Geisel und fragte: "Was würde es besser machen, wenn ich zurücktrete?" Er habe eine Aufgabe in Berlin, die darin bestehe, die Stadt weiterzuentwickeln. "Und wenn ich mich prüfe und mich frage: Hast du die Wahl organisiert, dann sage ich: Nein, du hast die Wahl nicht organisiert. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht dafür zu sorgen haben, dass das nie wieder passiert."

Giffey sagt Unterstützung für mögliche Wahlwiederholung zu

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hat unterdessen eine umfassende Vorbereitung für den Fall einer Wahlwiederholung zugesagt, damit es nicht wieder zu Pannen kommt. "Ich kann das nicht ungeschehen machen, was dort passiert ist, aber ich kann dafür sorgen, jetzt, wo ich politische Verantwortung habe, dass das nicht nochmal passiert und dass wir gut aufgestellt, gut organisiert in eine solche Nachwahl oder Wiederholungswahl gehen", so Giffey am Donnerstag. Sie verwies auch darauf, dass sie zum Zeitpunkt der vorigen Wahl "nicht in politischer Verantwortung", sondern Kandidatin gewesen sei.

Jarasch will keine Wahlkampfblockade

Berlins stellvertretende Regierungschefin Bettina Jarasch (Grüne) will sich trotz einer möglichen Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus auf die Sachthemen konzentrieren. "Wir stehen vor einem heftigen Krisenwinter und tragen als Senat die Verantwortung dafür, dass wir jetzt nicht in einen Stillstand geraten", sagte die Senatorin für Umwelt und Verkehr am Donnerstag der Deutschen-Presse-Agentur. So gelte es unter anderem, ein Entlastungspaket zu schnüren und einen Nachtragshaushalt aufzustellen. "Das letzte, was die Berlinerinnen und Berlin jetzt brauchen, ist gegenseitige Wahlkampfblockade", betonte Jarasch.

Am 26. September 2021 waren die Berlinerinnen und Berliner gleich zu vier Abstimmungen aufgerufen. Gewählt wurden der Bundestag, das Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen. Dazu kam noch ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Es bildeten sich lange Warteschlangen an Wahllokalen. Manche hatten deutlich länger als 18 Uhr offen, weil Stimmzettel fehlten oder im falschen Wahllokal ausgereicht wurden. Die Berliner Landeswahlleitung zählte allein in 207 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.09.2022, 08:00 Uhr

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51 Kommentare

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  1. 51.

    Es bleibt zu hoffen, dass die Berliner aus ihrer Farbblindheit und Lethargie erwachen !

  2. 49.

    Grundsätzlich wäre "Umorientierung" natürlich lupenreine Demokratie.
    Nur eben keine verfassungsgemäße Garantie auf 4 Jahre Amtszeit, einige Sonderfälle, wie Misstrauensanträge, ausgenommen.
    Wenn ich im Berliner Landtag sitzen würde, wohlwissend, in meinem Wahlkreis ist alles korrekt abgelaufen, dann fände ich Neuwahlen ebenfalls nicht fair. Der Gedanke, durch diesen Schlamassel gewinnt eine bestimmte undemokratische Gruppierung soviel dazu, dass sie relevant wird, bringt mir mein Essen zurück.

  3. 48.

    "bezahlte Schreiberlinge der AfD"

    Ihr unterstellendes Irrlichtern erinnert selbst aber doch sehr stark an AFD-Sprech.

  4. 47.

    Lieber Immanuel,

    ja, dafür entschuldige ich mich, das war unbedacht.

    Aber warum haben Sie denn hier nach der Wahl auf Oberlehrerart alle Meinungen, die eine komplette Neuwahl als notwendig beurteilt haben, abgekanzelt? Hatten Sie dafür ein Mandat?

  5. 46.

    "Und seine Argumente sind stichhaltig!"

    Welche genauen Argumente stützt der Verfassungsrechtler denn auf welche genauen Wahlerkenntnisse?

    Nach meiner Kenntnis kam gestern nur die "Spitze des Eisbergs" zu Tage.

    Mir ist nicht bekannt, dass der anerkannte Professor tiefgreifende Akteneinsicht gehabt hätte.

    Aber ich lasse mich hier gerne eines anderen Sachverhalts belehre.

    Ggf. hätten Sie einen Link o. a., auf welcher Basis der Professor seine "stichhaltigen Argumente" stützt?

  6. 45.

    "Rechtsextremismus"

    Auch Sie sind u. a. mitverantwortlich dafür, dass diverse rechte Begriffe zwischenzeitlich durch den inflationären Gebrauch bei zunehmender Zahl unter den Bürgern Europas nicht mehr wirklich als Abschreckung zünden - ich bedauere diesen Umstand des inflationären Gebrauchs mit seinen linken schwarz/weiß-Unterstellungen zutiefst.



  7. 44.

    "Nein, Rechtsextremisten werden weiterhin alles daransetzen unsere Demokratie weiter zu beschädigen."

    Erstens sind nicht alle Rechtsextremisten - das gilt für Abgeordnete und auch deren Wählerklientel, s. auch linke Wähler. Fakt.

    Darüber hinaus lassen Sie sich nun einfach überraschen, was Italien nun ggf. liefert.

    Weder Sie noch ich, aber auch andere Foristen ändern auch nur irgendetwas in Schweden, Italien, Ungarn oder sonst wo.

    Die größte Angst der etablierten Parteien ist, dass rechte Parteien aufgrund von Erfolgen dauerhaft wählbar blieben.

    Es wird also nun noch spannender.

  8. 40.

    Müller's Detlef:
    "R-G-R könnte das Landes- Verfassungsgericht doch einfach verbieten !
    Wäre doch die ehrlichste Lösung ?"

    Wo leben Sie? Kommen Sie doch einfach mal nach Deutschland, wenn Sie wissen wollen, wie ein demokratischer Rechtsstaat funktioniert und was da möglich und was nicht möglich ist! Ich glaube Sie haben da Nachholbedarf.

  9. 39.

    "Hier verwechseln offensichtlich viele Kommentatoren die fehlerhafte Durchführung der Wahl mit dem aus ihrer Sicht fehlerhaften Wahlergebnis. Mittlerweile muss sich das Gericht ohnehin die Frage gefallen lassen, inwiefern man noch von einer Wahlwiederholung sprechen kann, wenn diese nach der Hälfte der Wahlperiode erfolgt."

    Das sind aber keine Kommentatoren, sondern bezahlte Schreiberlinge der AfD wie man deutlich sehen kann.

    "Das sind dann tatsächlich vorgezogene Neuwahlen, und für diese gibt es keinen verfassungsmäßigen Grund." Richtig.

  10. 38.

    Es spricht der typische AfD Wähler. Keine Ahnung von demokratischen Grundsätzen aber gegen die "da oben" pöbeln.

    Es heißt Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin (BerlVerfGH)und wird vom Abgeordnetenhaus von Berlin gewählt und nicht vom amtierenden Senat!

    "Der Präsident und die acht weiteren Mitglieder des Gerichts werden vom Berliner Abgeordnetenhaus mit Zweidrittelmehrheit für die Dauer von sieben Jahren gewählt. Drei Mitglieder müssen Berufsrichter sein, drei weitere Mitglieder müssen die Befähigung zum Richteramt haben. Zudem ist festgelegt, dass Frauen und Männer jeweils mindestens drei Verfassungsrichter stellen müssen. Die Wiederwahl der Verfassungsrichter ist nicht zulässig. "

  11. 37.

    Volle Zustimmung! Hier verwechseln offensichtlich viele Kommentatoren die fehlerhafte Durchführung der Wahl mit dem aus ihrer Sicht fehlerhaften Wahlergebnis. Mittlerweile muss sich das Gericht ohnehin die Frage gefallen lassen, inwiefern man noch von einer Wahlwiederholung sprechen kann, wenn diese nach der Hälfte der Wahlperiode erfolgt. Das sind dann tatsächlich vorgezogene Neuwahlen, und für diese gibt es keinen verfassungsmäßigen Grund. Sie würden jedoch denen sehr gefallen, die jetzt auf eine Mobilisierung der rechten Kräfte hoffen, weil sich die politische Großwetterlage grundlegend verändert hat. Und das nicht etwa aufgrund des Versagens der Landesregierung, sondern aufgrund der Verbrechen des Lieblings der Rechten, der die Welt von Moskau aus destablilisiert.

  12. 36.

    Auch ich denke, dass in einer Demokratie einem Abgeordneten, der unzweifelhaft - weil ohne mandatsrelevante Fehler - für 4 oder 5 Jahre gewählt wurde, nicht einfach so dass unzweifelhaft errungene Mandat wieder entzogen werden kann, nur weil es irgendwoanders mandatsrelevante Fehler gab, die seine Wahl in keinster Weise berühren. Der demokratische Grundsatz "Gewählt ist gewählt!" bedeutet "Unzweifelhaft demokratisch gewählt ist gewählt!"

    Ein Abgeordneter, dem sein Mandat nur deshalb entzogen werden soll, weil es bei der Wahl anderer Abgeordneter mandatsrelevante Fehler gab, kann sicher erfolgreich dagegen klagen. Denn in einer Demokratie dürfen demokratisch errungene Mandate nicht einfach so wieder entzogen werden.

    Es sei denn, im Wahlgesetz steht etwas anderes.

  13. 35.

    Günther:
    "Welcher Partei gehört der Herr Verfassungsrechtler an?"

    Es kommt hier nicht auf die eventuelle Parteizugehörigkeit dieses Verfassungsrechtlers an, sondern auf seine Argumente!

    Und seine Argumente sind stichhaltig!

  14. 34.

    F.T.S.:
    "Lieber Herr Geisel, die Menschen haben kein Vertrauen, dass Sie es in Zukunft besser machen."

    Liebe(r) F.T.S.,
    sprechen Sie bitte nur von sich und nicht von "den Menschen"! Sie haben kein Mandat, für uns zu sprechen!

  15. 33.

    R-G-R könnte das Landes- Verfassungsgericht doch einfach verbieten !
    Wäre doch die ehrlichste Lösung ?

  16. 32.

    Ist diese "Umorientierung" nicht gerade das Wesen von Demokratie?
    Es werden immer mehr Mängel des Senats in der Regierungsverantwortung für Berlin sichtbar. Gerade in den letzten Monaten.

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