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Audio: rbb24 Inforadio | 21.11.2022 | Natalija Yefimkina | Quelle: privat

Tagebuch (15): Ukraine im Krieg

"Alle Tiere, die wir hatten, sind weg"

Gemüse anbauen, Tiere füttern, fischen gehen - das war bisher das Leben des ukrainischen Rentners Mykola Ivanovich Smoljarenko. Dann kam der Krieg bis in seinen Garten. Natalija Yefimkina hat in ihrem Ukraine-Tagebuch Mykolas Geschichte aufgeschrieben.

Natalija Yefimkina: Meine Tagebuch-Einträge haben schon mit drei meiner Freunde zu schweren Zerwürfnissen geführt. Aber die Einträge handeln nun mal davon, wie es mir wirklich geht. Jetzt ist eine neue Irritation mit Menschen aus Russland dazugekommen.

Ich habe auch Freunde hier, die Russen sind. Sie sind allesamt nette Menschen. Nur geht es in unseren Gesprächen selten um den Krieg. Man sitzt nicht zusammen und überlegt, was man machen könnte, um dieses Land aufzuwecken, die Menschen zu erreichen, welche Filme gedreht, welche Bücher oder Artikel geschrieben oder welche Demonstrationen noch zu organisieren wären. Die Leute posten, was für eine schöne Theatervorstellung sie gesehen haben oder wo sie im Urlaub waren. Es wird weiterhin zur Arbeit gegangen und danach in die Bar.

Gerne mache ich Essen, helfe Kindern beim Ankommen in Berlin und besorge warme Klamotten. Aber ich kann jetzt nicht über Design reden, über schöne Filme oder nur darüber, dass man ja auch geflohen sei und gegen den Krieg ist.

Es muss ein kollektives Gefühl der Verantwortung her - ein Bewusstsein, in dem klar ist, dass jeder einen Beitrag zur Veränderung leisten muss. Das ist jetzt die Hauptaufgabe für jeden Russen.

Ich telefoniere mit Mykola Ivanovich Smoljarenko, 74 Jahre alt.

Mykola Ivanovich Smoljarenko | Quelle: Natalija Yefimkina/rbb

Woher kommen Sie?

Aus dem Dorf Dudtschany in der Region Cherson. Im Dorf leben wir folgendermaßen: Alle haben private Häuschen und einen eigenen Hof. Und jeder hat so 3.000 bis 4.000 Quadratmeter Land und Hühner, Enten, Gänse, Schweinchen, Ziegen und Kühe. Von den Einnahmen vom Hof leben wir. Wir sind Rentner und bekommen etwa 70 Dollar Rente.

So wenig …

So viel wie uns der Staat eben zahlen kann. Von dieser Rente kaufen wir uns Medikamente, bezahlen die Betriebskosten, kaufen Gasflaschen und Heizholz. Das Holz hacken wir selbst zurecht, denn wir heizen alle mit Öfen.

Ach so, und Zucker und Kaffee kaufen wir natürlich (lacht), auch Tee. Alles was nicht auf unseren Beeten wächst, kaufen wir dazu. So leben wir.

Wer lebt denn mit Ihnen zusammen?

Ich bin mit meiner Frau zu zweit. Sie ist 73 Jahre alt. Unser Sohn lebt in Cherson und unsere Tochter in Polen. Ein Enkel fährt zur See, er arbeitet auf großen Containerschiffen und der andere lebt mit seiner Mutter in Polen. Er hat sehr starke Diabetes und arbeitet was am Computer.

Zur Person

Wie sah denn ihre Wirtschaft aus?

Wir hatten 20 Hühner, drei Ziegen, ein Ferkel und ein Hündchen.

War der Hund an der Kette?

Bei uns sind alle Hunde an der Kette. Er hat seine eigene Hundehütte, sein Häuschen, da ist es warm, denn es ist aus Holz (lacht), das ist bei uns so.

Und wie groß ist das Dorf?

Im Vergleich ist es eher groß, naja, vielleicht mittelgroß, nicht sehr klein und auch nicht sehr groß. Es sind ungefähr 1.000 Menschen. Das Dorf befindet sich in der Mitte zwischen Cherson und Kryvyi Rih. 120 Kilometer bis Cherson und 120 bis Kryvyi Rih. Und bis Dnipro sind es etwas über 200 Kilometer.

Es liegt am Kachowkaer Stausee. Direkt am Wasser. Und wir fischen, vor allem fangen wir Karauschen und Grundeln, manchmal aber auch eine Brasse.

Wie hat für Sie und ihre Frau der Krieg angefangen?

Am 24. Februar kam ein junger Mann zu mir, der mir das Holz hacken sollte. Der fragte mich, ob ich es schon gehört habe? Ich sagte ihm, Sergej, ich habe nichts gehört. Ach was, sagtе er, die ganze Nacht schon schlagen Geschosse in Kachovka ein. Aber die Stadt Kachovka liegt auf der anderen Seite des Stausees, 60 Kilometer Luftlinie von uns weg. Nein, Sergej, sagte ich, das habe ich nicht gehört. Aber was das heißt, hatte ich schon in dem Moment verstanden. So war das.

Es war sehr beunruhigend, als der Krieg immer näher zu uns kam. Ungefähr zehn Tage später fuhr russische Militärtechnik durch unser Dorf Richtung Kryvyi Rih. Denn wir befinden uns direkt an der Hauptstraße von Cherson nach Charkiw.

(Im Hintergrund sagt seine Frau etwas, unterbricht ihn kurz.)

Und dann kam sowas wie eine Polizeieinheit ins Dorf. Wie nennen die sich … FSB [der russische Inlandsgeheimdienst, Anm.d.Red.]. Sie waren vollständig bewaffnet und sind in unser Dorf auf gepanzerten Fahrzeugen rein. Sie fingen an, alle Straßen, alle Höfe zu kontrollieren: ob in unserem Dorf Soldaten sind oder Menschen, die bereits im Donbass gekämpft haben. Damit fing praktisch die Okkupation der Region Cherson an.

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Wie war das?

Sie haben sich, wie soll ich sagen, normal verhalten. Sie haben uns nicht verletzt. Sie hatten nichts an uns auszusetzen, haben uns einfach kontrolliert. Аber die jungen Männer, die 18 Jahre alt waren, nahmen sie mit und kontrollierten sie, die haben sie verhört.

("…in den Kellern", ruft die Frau von Mykola Ivanovich Smoljarenko im Hintergrund)

Meine Frau hilft mir. Ja, die jungen Männer wurden in den Kellern festgehalten, das gab es auch.

Die russische Armee ging weiter Richtung Kryvyi Rih. Sie nahmen zwei Wege und fingen an, die Dörfer Velyka Oleksandrivka und Vysokopilia - alles Dörfer in der Steppe - zu zerstören. Aber als sie durch unser Dorf gingen, haben sie es nicht zerstört. Sie sind bis Novovorontsovka gekommen, unsere Kreisstadt. Aber dort war bereits unsere Armee, die sie dort in Empfang genommen hat - dort haben die Kämpfe begonnen.

Und wir lebten ein normales Leben (lacht). Wie vorher. Wir hatten ja drei Geschäfte im Dorf und unseren Dorfrat und den Vorsteher der Regierung. Die Geschäfte blieben zu. Die Russen haben uns humanitäre Hilfe gebracht und verteilt - Graupen, Konserven und sogar Brot. Und sie haben das nicht nur einmal gemacht, sondern im Laufe der Zeit ungefähr fünf Mal. Auch wir haben diese Graupen und diese Büchsen erhalten. Im Dorf war es ruhig, sie haben uns einmal sogar Hilfe in Form von Geld bezahlt, 5000 Grivna pro Person.

( "… sei mal ruhig, ich werde dich bitten wenn ich Hilfe brauche", sagt Mykola zu seiner Frau im Hintergrund.)

So ging es weiter von März an. Dann kam der September und die Kämpfe kamen zu uns. Unsere Armee hatte die Russen bis hin zu unseren Feldern gedrängt. Am 4. Oktober drangen sie dann bis ins Dorf vor.

Unser Dorf ist von einer Bucht des Stausee in zwei Teile geteilt, die beiden Hälften sind durch eine Straße miteinander verbunden. Das ist eine sehr enge Straße, die über das Wasser führt, wir nennen sie den Damm.

Als die Unsrigen kamen, zogen sich die Russen über den Damm nach Süden zurück und schossen von dort zurück. Als die Militärfahrzeuge über den Damm fuhren, hat unsere Armee sie zerstört. Seither stehen da drei ausgebrannte Militärfahrzeuge. Aber dabei wurde ein Loch in den Damm geschossen und das Wasser strömte rüber. Die Straße wurde somit unpassierbar.

Die Russen waren also auf unserer südlichen Seite und haben sich von hier aus verteidigt. Am Ufer ist ein Waldstück und dort haben sie die Raketenwerfer aufgestellt.

Von unserem Haus bis hin zum Ufer, dort wo sie ihre Technik aufgestellt haben, sind es nur 50 Meter. Das bedeutet, dass in unseren Straßen, unseren Feldern und Vorgärten die Russen waren. Der Krieg war praktisch mitten in unserem Dorf.

Es wurde zwar auf die Raketenwerfer geschossen, aber die Splitter flogen auch zu uns. Kein einziges Geschoss von Seiten der ukrainische Armee hat ein Haus getroffen, aber die Geschosse schlugen in der Nähe ein. Bei manchen Häusern hat die Druckwelle die Fenster rausgeschlagen, so war das.

Wir versteckten uns in den Kellern. Bei uns sagen wir dazu Kartoffelkeller. Wenn der Hauptbeschuss lief, haben wir uns versteckt, und wenn es ruhiger wurde, gingen wir wieder raus und kümmerten uns um unseren Hof, wie immer.

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Wie genau sah Euer Versteck aus?

Wir haben eine Sommerküche, abseits vom Haus, und unter diesem Häuschen ist der Keller. Der ist mit Betonplatten abgedeckt. Er ist mehr oder weniger solide – vor einem direkten Einschlag hätte er uns wahrscheinlich nicht gerettet, aber vor den Splittern und den Einschlägen in der Nähe schon. Wir haben auch die Nächte dort verbracht.

Dann kam der Zeitpunkt, als wir das alles nicht mehr aushalten konnten, die ganzen Explosionen, und alles so nah. Die Menschen begannen langsam Richtung Kryvyi Rih zu fliehen, erst nur ein paar wenige, dann wurden es mehr und mehr.

Seit dem 26. Oktober hatten meine Frau und ich versucht das auszuhalten. Aber dann entschlossen wir uns zu fliehen. Da auf der anderen Seite der Bucht unsere Armee stand, konnte man zu Fuß über den Damm gehen und dort mit dem Bus nach Kryvyi Rih fahren.

Wir nahmen Taschen mit, meine Frau hatte eine und ich auch. Und so kletterten wir über das zerstörte, verkohlte Militärfahrzeug auf dem Damm. Unten war das Wasser. Irgendwie haben wir es geschafft, da rüber zu klettern. Man konnte nicht einfach drüber springen, man musste wirklich klettern. Alle anderen sind auch so rüber.

Und das Loch?

Wir haben das Wasser nicht berührt, sind direkt über das Fahrzeug geklettert, denn es stand genau dort, wo das Loch im Damm war (lacht).

Danach liefen wir so auf der Straße, dass die russischen Scharfschützen einen nicht in den Rücken schießen konnten - dass hatten uns Leute gesagt. Wir liefen vier Kilometer bis wir am Bus waren.

Meistens gingen die Menschen morgens zwischen 7 und 9 Uhr rüber, weil danach der Beschuss losging und neben dem Damm die Geschosse explodierten. Ein Mann, um die 50 Jahre, ist gestorben und ein anderer wurde verwundet auf diesem Damm.

Unser Nachbar sagte, dass er nicht fliehen wird, also haben wir ihn gebeten nach unseren Tieren zu gucken. Er hat zugesagt. Aber als wir raus sind, wurden die Kämpfe noch intensiver und waren direkt vor unserer Haustür, wo wir lebten. Da sind dann alle geflohen. Die Russen haben alle Absperrungen, alle Gatter, alle Türen von den Ställen aufgemacht und die Hühner, Puten, Enten, Schweine und auch die Hunde alle losgebunden. Mache hatten zwei, drei Kühe. Sie haben alle rausgelassen und weglaufen lassen.

Von den 60 Leuten um uns herum, sind nur sechs dageblieben, alle um die 90 Jahre alt.

Wer kümmert sich um sie?

Niemand. Sie hatten Kinder. Die Kinder sind geflohen. Und die Eltern sind geblieben - sie wollten nicht. Sie haben gesagt: Wir sind hier in der Nähe vom Friedhof, wir wollen nicht weiter weg vom Friedhof sein.

Und Ihre Eltern?

Unsere Eltern sind schon begraben. Wir sind die Nächsten an der Reihe.

Das Hündchen habe ich losgebunden, als ich gegangen bin. Ich habe es zum Nachbarn gebracht, ihm Essen da gelassen… aber das war unnütz, denn der hat dann ja auch seine Hunde verlassen, und seine Ferkel und die Hühner, alle Tiere… Alle Tiere, die wir hatten, sind weg.

Das ist der Horror, der dort passiert. Jetzt werden unsere Dörfer, einfache Dörfer, vom linken Ufer aus beschossen. Sie haben ja die Art oder das Ziel, alles zu zerstören. Sie wollen die Ukraine zerstören und alles, was wir haben. Sie zerstören die Dörfer, die Orte. In unserer Kreisstadt gibt es nichts mehr, was steht. In Snihurivka oder Velyka Oleksandrivka, beides Kreisstädte, stehen nur noch drei Häuser im ganzen Ort.

Wie fühlen sie sich jetzt?

Ich fühle mich schlecht. Auch jetzt schlägt mein Herz sehr stark (lacht), sehr oft schlägt es. Beunruhigt bin ich, ich fühle mich nicht gut. Es tut mir leid, dass wir sie verlassen haben, auch das Hündchen haben wir verlassen, das tut mir leid.

Interview | Private Unterkünfte für Ukrainer

"Wir hoffen, dass die Hilfsbereitschaft nicht nachlässt"

Die Notwendigkeit, Geflüchtete aus der Ukraine auch privat unterzubringen, ist weiterhin groß, sagt Georgia Homann. Die Projektleiterin des Vermittlungsportals Unterkunft-Ukraine fordert weniger Bürokratie und stärkere Unterstützung für die Gastgeber.

(Mykola Smoljarenkos Frau kommt im Hintergrund ins Zimmer gestürmt, ruft irgendwas, sie unterhalten sich: "Mit wem hast du geredet?", fragt er. "Mit Lenochka", antwortet die Frau.")

Gerade wurden wir angerufen, dass in unserem Dorf die ukrainische Flagge gehisst wurde, theoretisch ist unser Dorf befreit.

Jetzt, gerade eben?

Ja.

Das ist doch gut!

Ja, das ist sehr gut, sehr! Aber man rät uns nicht zurückzukehren. Man bittet uns sogar darum, nicht jetzt zurückzukehren, weil es noch die Weitstrecken-Artillerie gibt und die reicht bis zu uns. Ich habe ihnen ja erzählt, dass sie vom linken Ufer aus unsere Dörfer bombardieren, obwohl dort keine Soldaten mehr sind.

Wo sind Sie denn jetzt gerade?

Wir sind jetzt in der Stadt Chmelnyzkyj, das ist in der Nähe von Lviv. Hier wohnt unsere Nichte, sie hat uns aufgenommen. Das ist sehr, sehr gut, dass sie uns aufgenommen hat, dass wir nicht zahlen müssen für die Wohnung und die Betriebskosten. Denn wir gehen jetzt ins Krankenhaus, meine Frau bekommt eine Infusionstherapie. Wir geben unser Geld für Medikamente aus. Sie hatte einen leichten Schlaganfall und hat Diabetes.

Am Anfang des Jahres war wieder ein Termin für die Infusionstherapie, zwei Mal im Jahr muss sie diese durchlaufen. Aber sie konnte nicht mal Medikamente einnehmen, weil wir ja okkupiert waren, wir hatten gar keine Medikamente. Und auch die Medikamente bei dem Schlaganfall konnte sie nicht bekommen.

Die ganze Zeit war man unter nervlicher Anspannung, ob es einen nachts trifft oder nicht. Du schläfst nicht, weil du immer zu nachdenkst, ob die Geschosse bis zu dir fliegen - aber so ist Krieg.

Uns haben die Eltern vom Zweiten Weltkrieg erzählt, wie sie das erlebt haben und auch die Zeit nach dem Krieg. Wir wussten von den Erzählungen der Eltern und aus dem Fernsehen, wer Hitler war. Jetzt lernen wir, wer dieser Putin ist.

Beitrag von Natalija Yefimkina

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