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Quelle: imago images/Laci Perenyi

Interview | Berliner Islamwissenschaftler Sebastian Sons

"Für Katar ist die WM der größte symbolische Erfolg in der jungen Staatsgeschichte"

Der Berliner Wissenschaftler Sebastian Sons ist Kenner der arabischen Welt. In seinem neuesten Buch beschäftigt er sich mit der WM in Katar und der Kritik. Ein Interview über politische Machtspiele, die Boykott-Debatte - und eine westliche Doppelmoral.

rbb|24: Herr Sons, Sie sind seit Jahren häufig in arabischen Ländern unterwegs. Besuchen Sie dort auch Fußballspiele?

Sebastian Sons: In Katar habe ich es noch nicht getan, aber in Saudi-Arabien.

Katar hat 200 Milliarden Dollar in die WM investiert. Welchen politischen und wirtschaftlichen Gewinn verspricht sich das Land davon?

Sport spielt seit der Unabhängigkeit von den Briten und der Staatsgründung Anfang der 1970er Jahre eine entscheidende Rolle. Vor allem Fußball ist ein wichtiges Geschäftsmodell der Herrscherfamilie und Teil einer langfristigen Strategie, das eigene Überleben, politischen Einfluss und wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. Für Katar ist die WM der größte symbolische Erfolg in der jungen Staatsgeschichte.

Sebastian Sons im Kurzporträt

Sebastian Sons studierte Islamwissenschaft, Neuere Geschichte und Politikwissenschaften in Berlin und Damaskus. Er war unter anderem als Wissenschaftler beim Deutschen Orient-Institut in Berlin tätig sowie. Jüngst erschien von ihm das Buch "Menschenrechte sind nicht käuflich. Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss" (Atrium Verlag). Sebastian Sons lebt in Berlin und bereist oft die arabischen Länder.

Worin zeigt sich diese besondere Bedeutung ganz konkret?

Für das Herrscherhaus ist ein Kriterium entscheidend: Wie manifestiert es seine eigene Macht und wie legitimiert es sie gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Welt. Katar will in der Welt nicht nur als attraktiver Geschäftspartner wahrgenommen werden. Es wurde und wird auch sehr viel in Kultur, Wissenschaft, Bildung und Sport investiert.

Diese Softpower-Strategie zielt darauf ab, stärker als die arabischen Rivalen zu sein und die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Erdgas zu mindern. Deshalb wurde stark in internationale Unternehmen investiert, darunter VW und Siemens. Zugleich nutzt man die Sponsoren-Partnerschaft mit dem FC Bayern, um ein eigenes Staatsunternehmen wie Qatar Airways bekannter zu machen. Es geht also darum, das eigene Land als Marke zu stärken. Es geht um Nation Branding.

Gehört es zum politischen Überleben, sich auch gegen Bedrohungen von außen abzusichern und die WM dafür zu nutzen?

Katar betrachtet den Fußball und die WM als Schutzgarantie vor externen Bedrohungen. Insbesondere von den saudischen und kuwaitischen Herrscherfamilien gab es Versuche, die Al Thani-Familie in Katar zu entmachten. Das hängt mit dem geostrategischen Interesse an der katarischen Halbinsel zusammen. 2017 gab es die jüngste Golfkrise, als einige Nachbarstaaten Katars, inklusive Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, das Land mit einer Blockade in die Knie zwingen wollten. Man wollte dem kleinen Emporkömmling eine Lektion erteilen, und offensichtlich war man neidisch, dass Katar die WM allein ausrichten darf.

Deshalb wurde übrigens damals die Fifa dazu gedrängt, die WM schon jetzt von 32 auf 48 Teams zu vergrößern, denn das hätte dazu geführt, dass Katar mit nur acht Stadien und wenig Platz für Gäste nicht mehr in der Lage gewesen wäre, das Turnier allein auszurichten. Eine Reaktion von Katar auf die Blockade war der teuerste Fußballer-Transfer aller Zeiten. 2017 holten sie Neymar zu Paris Saint-Germain.

Queere Community und Fußball-WM in Katar

Kein Platz für den Regenbogen

Die umstrittene Fußball-WM in Katar steht vor der Tür. Zwar gibt sich das Emirat im Vorfeld weltoffen, doch es wird wohl kein Turnier für alle Menschen werden. Gerade in der queeren Community löst das Sportevent in der Wüste Fassungslosigkeit aus. Von Lukas Witte

Die WM hat ihren Teil dazu beigetragen, dass Katar die bis 2021 dauernde Golfkrise überlebt hat. Nachdem sich Saudi-Arabien und die Emirate zähneknirschend mit dem Scheitern der Blockade abfanden, erarbeiteten sie Konzepte, selbst von der WM zu profitieren, durch tägliche Flüge nach Katar und Unterkünfte für Fantouristen.

Viele Fußballfans betrachten die WM als Symbol alles Schlechten, das den Fußball zerstört. Wie blicken Sie auf die Boykottdebatte?

Die Kritik gegen Katar findet auf zwei unterschiedlichen Ebenen statt: Zum einen konzentriert sie sich auf die Menschenrechtsverletzungen im Land und die Ausbeutung auf den WM-Baustellen. Zum anderen auf die fehlende Fußballkultur im Land, die Winter-WM und die Korruption bei der Vergabe. Korruption schien Standard gewesen zu sein, Stichwort Sommermärchen 2006. Da muss man wohl an erster Stelle die Fifa selbst in Haftung nehmen.

Zum Kritikpunkt der fehlenden Fußballkultur: Ich kann sagen, dass die Katarer diese Kritik als höchst respektlos, doppelmoralisch, postkolonial und eurozentristisch empfinden. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass immer bei Großturnieren außerhalb des globalen Nordens eine ähnliche Debatte aufkommt. Bei der WM 2010 in Südafrika war es ähnlich, in Katar ist die Kritik noch zugespitzter: Ein winziges Land, in dem man nicht im Sommer spielen kann und das keine Fußballkultur besitzt - es ist deshalb einer WM nicht würdig. Die Kritik am Zeitpunkt der WM und an fehlender Fußballkultur ist aus meiner Sicht hochproblematisch.

Zumal ja auch im europäischen Fußball alles durchkommerzialisiert ist.

Eben. Viele Kritiker haben kein Problem damit, dass in Europa alles aus der Marke Fußball abgeschöpft wird, was nur geht.

Zur Menschenrechtsfrage: Hätte die ernsthafte Drohung eines WM-Boykotts etwas zum Guten verändern können?

Bei dieser Boykott-Diskussion gibt es zwei Pole: Katar auf der einen Seite und den Westen mit seinen Menschrechtsfragen auf der anderen. Mir fehlen dazwischen die Menschen, um die es eigentlich geht: die Migranten. Ein Boykott hätte dazu geführt, dass der Bedarf an Arbeitskräften gesunken wäre. Viele Menschen, die in ihren Heimatländern in großer Armut leben, hätten nicht die Möglichkeit bekommen, nach Katar zu gehen - und hier mehr Geld zu verdienen als zu Hause.

Auch wenn sie es unter übelsten Bedingungen tun?

Ich weiß, dass es zynisch klingt: Aber die Menschen, die der Armut in Ländern wie Äthopien, Nepal, Bangladesch entfliehen, wissen meistens, was sie in Katar erwartet. Sie nehmen es unter großen Opfern in Kauf, weil ihnen keine Wahl bleibt. Das heißt, die Ausbeutung der Migranten beginnt nicht erst in Katar, sondern mit der dramatischen soziökonomischen Situation in den Heimatländern. Sie wollen mit dem Geld, das sie in Katar verdienen, ihren Familien helfen. Diese Perspektive kommt in der ganzen Diskussion oft zu kurz. Das System der Ausbeutung ist grenzüberschreitend und findet nicht allein in Katar statt. Die Entsendestaaten stehen ja in gravierender Abhängigkeit zu den Golfstaaten. Allein in Nepal machen die Rücküberweisungen ein Viertel des Bruttosozialprodukts aus.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Menschenrechte anzumahnen sei zur Folklore eines in sich gespaltenen Westens geworden. Harte Worte.

Was ich damit meine, ist, dass die Debatte in weiten Teilen mit einer gewissen Doppelmoral geführt wird. Selbstverständlich hat der Westen eine Verantwortung, Menschenrechte einzufordern, auch in Katar. Ich erwarte das sogar von unseren Politikern und Medien. Was ich kritisiere: Sobald politische oder wirtschaftliche Interessen Deutschlands berührt werden, flaut die Diskussion ab. Die WM öffnet durch die auf ihr liegende Aufmerksamkeit ein kleines Zeitfenster für eine tiefer gehende, auch selbstkritische Diskussion.

Wo sehen Sie denn konkrete Möglichkeiten für Deutschland in der Golfregion, unsere Werte sowie die realpolitischen und wirtschaftlichen Interessen in Balance zu halten?

Wir haben in vielen Bereichen ähnliche Interessen wie die Golfstaaten: Wirtschaft, Stabilität, Sicherheit, Energieversorgung. Die große Frage lautet, welchen moralischen Preis wir für die Zusammenarbeit zahlen. Wir könnten aber auch schauen, in welchen Feldern es Gemeinsamkeiten gibt. Dazu gehört zum Beispiel die Entwicklungspolitik. Weitere Kooperationsfelder wären ein gemeinsames Migrationsmanagement, die Entwicklung von Techniken im Bereich Erneuerbare Energien, der Kulturaustausch oder die Entwicklung des Breitensports. In diesen Bereichen wird Deutschlands Expertise sehr geschätzt. Gerade der Sport bietet einige Chancen zur Zusammenarbeit.

An was denken Sie da konkret?

Man könnte gemeinsam in Asien und Afrika den Frauenfußball fördern oder Sportturniere organisieren, die den inneren Zusammenhalt stärken. Sportvereine, die in die zivilgesellschaftliche Infrastruktur eingebunden sind, wären ein Beitrag zur Extremismusprävention. Und ganz konkret: In Katar wird seit 2013 ein "Workers Cup" ausgetragen, an dem Wanderarbeiter aus diversen Herkunftsländern teilnehmen.

Wenn der FC Bayern seine Trainingslager weiterhin in Katar abhält, was sie ja tun können, warum tragen sie dann nicht mal ein Freundschaftsspiel gegen eine Auswahl von Arbeitsmigranten aus? Oder warum reisen sie oder ein anderer deutscher Klub nicht mal nach Nepal oder Pakistan für ein Spiel? Oder sie laden ein Team nach Deutschland ein. Wir reden ständig von den Arbeitsmigranten, aber im Grunde wissen wir wenig über sie. Es geht darum, diese Menschen auch mal sichtbar werden zu lassen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Gunnar Leue für die Sportredation des rbb.

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