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Video: Abendschau | 20.05.2022 | A.-M. Deutschmann | Philipp Kosok im Interview | Quelle: dpa/Lothar Steiner

Interview | Philipp Kosok, Verkehrsexperte

"Eine dreimonatige Aktion macht noch keine Verkehrswende"

Das Neun-Euro-Ticket soll zum Umstieg auf den ÖPNV motivieren. Wird damit jetzt die Verkehrswende eingeleitet? Was bedeutet das für Berlin? Und was für Brandenburg? Fragen an den Verkehrsexperten Philipp Kosok vom Thinktank Agora Verkehrswende.

Mit der Einführung des Neun-Euro-Tickets will die Bundesregierung Autofahrer ermuntern, auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. Der Ausbau des ÖPNV ist auch dringend notwendig, wenn Deutschland seine selbstgesetzten Klimaschutzziele bis zum Jahr 2030 einhalten will. Gerade im Verkehrssektor gilt es noch viel aufzuholen, sagt Philipp Kosok, Verkehrsexperte der Agora Verkehrswende. Der Thinktank hat das Ziel, die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor auf Null zu setzen.

rbb|24: Herr Kosok, wie bewerten sie das Neun-Euro-Ticket?

Philipp Kosok: Es ist ein gutes Zeichen für die Fahrgäste und auch gut, dass der Bundesrat heute seine Zustimmung erteilt hat. Denn das Ticket wird ja seit Wochen von den Nahverkehrsunternehmen vorbereitet. Ich denke, viele werden es nutzen. Es ist eine Chance, in die Verkehrswende einzusteigen. Aber diese Aktion allein, wird auf Dauer nur eine sehr begrenzte Wirkung haben.

Philipp Kosok, Verkehrsexperte der Agora Verkehrswende | Quelle: Agora Verkehrswende

Zweieinhalb Milliarden übernimmt der Bund. Einige Länder hatten kritisiert, dass das Geld nicht ausreicht. Es ist gut investiert oder hätte man es anders ausgeben sollen?

Das ist tatsächlich eine sehr kostspielige Aktion. Sie wird auch eine positive Wirkung entfalten. Wir hätten uns aber etwas Nachhaltigeres gewünscht, nämlich, dass mehr Geld in den Ausbau des Angebots mit Bus und Bahn fließt. Die meisten Menschen meiden heute nicht Bus und Bahn, weil sie zu teuer sind, sondern weil bei ihnen zuhause vor der Haustür das Angebot nicht so gut ist. Dort brauchen wir in Zukunft mehr Investitionen und ein verbessertes Angebot.

Aus Sicht der Forschung, was hätten Sie mit dem Geld angefangen?

Berlin ist im bundesweiten Vergleich schon auf einem sehr guten Weg. Es gibt hier einen äußerst attraktiven Nahverkehr und die Menschen fahren hier weniger Auto als sonst irgendwo in Deutschland. Das ist gut, aber die Verkehrsprobleme beginnen oft schon am Stadtrand. Dort ist man zunehmend auf das Auto angewiesen und je weiter man in das Brandenburger Umland kommt, desto spürbarer wird es, hier ist das ÖPNV-Angebot dünn. Dort brauchen wir in Zukunft deutliche Zuwächse im Angebot. Es geht nur in einem Miteinander von Brandenburg und Berlin und deshalb müssen die beiden Länder das Schienennetz deutlich ausbauen.

Dass das Miteinander nicht so einfach ist, zeigte auch der Versuch von Verkehrssenatorin Bettina Jarasch, das Null-Euro-Ticket einzuführen. Warum ist es in Berlin so schwierig, etwas zu verändern?

Jeder, der morgens in Berlin in die U- oder S-Bahn steigt, merkt, wir haben nicht das Problem, dass es an Nachfrage mangelt. Die Bahnen sind sehr voll. Es wurde die letzten Jahre zu wenig investiert. Das versucht die Regierung aktuell nachzuholen. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Tatsächlich sind die Pläne in Berlin auf Ausbau gestellt, es werden neue Wagen gekauft, das ist genau das richtige Signal. Was aktuell noch fehlt, ist der notwendige Rückenwind von der Bundesregierung, denn die bleibt bisher eine Entscheidung schuldig, wie das Ganze auch von den Kommunen und den Ländern gestemmt werden soll.

Verstehe ich Sie richtig, der Bund sollte langfristige finanzielle Zusagen machen?

Eine dreimonatige Aktion macht noch keine Verkehrswende. Wenn überhaupt, dann kann das der Einstieg in eine Verkehrswende sein. Das bedeutet, dass wir nach dem dreimonatigen Aktionszeitraum dauerhaft mehr Mittel für ein besseres ÖPNV-Angebot in Berlin, in Brandenburg und in ganz Deutschland brauchen. Da ist die Bundesregierung bislang eine Erklärung schuldig, wie genau das finanziert werden soll. Klar ist, Verkehrswende geht nur langfristig und mit deutlich mehr Mitteln.

Was heißt das für Berlin? Hängt die Berliner Verkehrswende auch vom Bund ab?

Berlin ist abhängig von der Entscheidung der Bundesregierung. Denn der Bund finanziert bereits heute einen relevanten Anteil des ÖPNV-Angebotes. Die Länder können das gar nicht allein stemmen. Das müssen sie auch nicht. Es geht auch darum, die Klimaschutzziele der Bundesregierung einzuhalten. Und um die gerade im Verkehr zu erfüllen, braucht es mittelfristig eine Verdopplung der Fahrgastzahlen bundesweit.

Welche Kosten werden denn vom Land gedeckt und für welche ist der Bund zuständig?

Die Fahrgäste zahlen knapp die Hälfte der Betriebskosten, die heute beim ÖPNV anfallen. Die verbleibenden Kosten übernehmen Bund und Land zu etwa gleichen Teilen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Bund hier die nächsten Jahre seinen Teil leistet. Aktuell sind es die sogenannten Regionalisierungskosten im Umfang von etwa zehn Milliarden Euro, mit denen der Bund den Nahverkehr in allen Bundesländern unterstützt. Das wird in den nächsten Jahren nicht mehr ausreichen, um Verkehrswende zu machen.

Brauchen wir denn tatsächlich mehr Menschen in Bahnen und Bussen? Viele sind doch jetzt schon voll.

Mit dem heutigen Angebot können nicht mehr Fahrgäste befördert werden, denn Busse und Bahnen sind voll. Das ist keine Frage. Deshalb ist es auch richtig, dass die Stadt aktuell deutlich mehr zusätzliche Züge bestellt, die die nächsten Jahre geliefert werden. Wir brauchen vor allem die Verdichtung von Takten auf den bestehenden Linien, und wir brauchen auch zusätzliche Linien und Strecken. Da ist wichtig, dass die Stadt jetzt das Tempo anzieht im Ausbau, denn wir haben nicht mehr allzu viel Zeit.

Was heißt das, wir haben nicht mehr viel Zeit?

Wenn wir auf die Klimaschutzziele schauen, dann ist der Verkehrssektor das Sorgenkind. Hier hängen wir Jahre hinter den Zielen zurück. Deshalb können wir nicht mehr in dem Tempo der vergangenen Jahre weitermachen. Es braucht jetzt den rasanten Ausbau. Es braucht aber auch andere Maßnahmen, beispielsweise, dass der Autoverkehr unattraktiver gemacht wird, dass wir endlich ein faires Steuersystem haben, dass diejenigen belohnt werden, die klimafreundlich unterwegs sind. Und diejenigen, die mit verbrauchsintensiven Autos unterwegs sind ohne dass sie es müssen, tatsächlich auch höher besteuert werden. Das sind Dinge, die kann vor allem die Bundesregierung angehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Iris Völlnagel

Sendung: Abendschau, 20.05.2022, 19:30 Uhr

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