Frühkritik | Psychologisches Schauspiel am Deutschen Theater - Minna in Moll

So 16.10.22 | 12:00 Uhr
"Minna von Barnhelm" am Deutschen Theater in Berlin (Quelle: Arno Declair)
Bild: Arno Declair

Die Regisseurin Anne Lenk ist Expertin für Klassiker. Am Deutschen Theater verdunkelt sie Lessings berühmtes Lustspiel "Minna von Barnhelm" zu einem Drama um Kapitalismus, Krieg und Männlichkeit. Von Barbara Behrendt

"Sie sagen: Ein Mann ist ein Mann, wenn er für sich selbst sorgt. Sie sagen: Ein Mann ist kein Mann, wenn er sich Geld borgt. Sie sagen: Es kann jeder schaffen. Vielleicht jeder, doch nicht alle, aber das ist Nebensache. Ich spiel das Spiel, auch wenn ich die Regeln hasse."

Musikalische Untermalung durch Rapper Fatoni

Mit harten, schweren Songs wie diesem hätte man bei Lessings berühmtem Lustspiel nun wirklich nicht gerechnet. Der Rapper Fatoni hat sie geschrieben und Camill Jammal sie vertont – sie handeln von Krieg, Schuld, Geld, von Männlichkeit und vom Kapitalismus. Diese Themen stecken durchaus in Lessings Drama. Da ist der gerade zu Ende gegangene Krieg, der die Menschen orientierungs- und arbeitslos zurücklässt. Da ist der zu Unrecht beschuldigte Major Tellheim, dem Korruption vorgeworfen wird, und der sich daher zu unehrenhaft fühlt, um seine Verlobte Minna zu heiraten. Und zu mittellos.

Düsteres Bühnenbild

Immer wieder werden diese Lieder eingestreut, um auf die Gegenwart zu verweisen, die ja in der Tat alles andere als rosig leuchtet: "Macht das bisschen Friede so vergesslich, ja? Ist das bisschen Friede so verlässlich, ja? Der Krieg hat nur geschlafen, nein, er war nie tot. Wann geht’s wieder los?"

Und nicht nur diese Songs sind düster. Die Bühne ist in zwei große übereinanderstehende Zimmer geteilt, beide ganz in Violett gehalten. Oben die karge, geflieste Kammer, in die Tellheim vom Wirt des Gasthofs verfrachtet wird, als Minna anreist. Unten das mit Samt ausgelegte Zimmer Minnas. Immer wieder huschen Schatten über die Vorhänge, Wölfe scheinen zu heulen und die Samtwände lebendig zu werden. Auch die Figuren wirken leicht psychedelisch mit ihren übergroßen Schleifen und Plateauschuhen oder dem zotteligem Haar und den weiß geschminkten Gesichtern.

Trotz aller Künstlichkeit des Ambientes spielt das Ensemble jedoch nuancenreiches psychologisches Theater. Max Simonischek gibt den Major von Tellheim als einen an seinen Geschlechterprinzipien leidenden, bierernsten und depressiven Kriegsversehrten. Auch Natali Seeligs Minna schlägt eher Moll-Töne an, wenn sie Tellheim mit seinen eigenen Waffen schlägt und ihm vorgaukelt, enterbt zu sein – und daher genau so arm und ehrlos wie dieser selbst. Ein sogenannter echter Mann, so scheint schon Lessing augenzwinkernd anzumerken, kann eben keine stärkere, reichere Frau an seiner Seite akzeptieren.

Das Lustspiel bliebe an diesem Abend also eine bleischwere Angelegenheit – wären da nicht die komödiantischen Nebenfiguren und die virtuosen Spieler:innen, die sie verkörpern. Franziska, Minnas Vertraute, und Paul Werner, Tellheims Freund, spiegeln die melancholischen Hauptfiguren als herrlich verschrobenes und doch emanzipiertes Liebespaar. Das ist umso erstaunlicher, da Seyneb Saleh erst fünf Tage vor der Premiere für die erkrankte Franziska Machens eingesprungen ist. Und auch Bernd Moss als misanthropischer, miesepetriger Diener ist ungeheuer komisch.

Versiert, psychologisch nachvollziehbar und sprachlich genau

Insgesamt betrachtet verkompliziert, zerdehnt und verdunkelt Anne Lenk Lessings glasklares Aufklärungsstück allerdings unnötig und nimmt der taffen Minna ihre Leichtigkeit. Das ist schade, denn diese kluge Feministin aus dem Jahr 1767 könnte man ohne den melancholischen Überbau deutlich euphorischer feiern – und sich höchstens fragen, wie die Gleichberechtigung 250 Jahre derart ins Stocken geraten konnte. Die pragmatische Minna, die ihrem Verlobten das überzogene Ehrgefühl austreibt, ist eine der seltenen starken, überlegenen Frauenfiguren der Theatergeschichte, die am Ende nicht tot am Boden liegen.

Eine so intellektuell anregende und spritzige Interpretation wie bei Schillers "Maria Stuart" gelingt Anne Lenk diesmal also nicht. Trotzdem gibt es derzeit keine zweite Regisseurin, die sich mit den Klassikern des Dramenkanons so versiert, psychologisch nachvollziehbar und sprachlich genau befasst wie sie.

Sendung: rbb24 Inforadio, 17.10.2022, 7:00 Uhr

Nächster Artikel