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Audio: Inforadio | 14.03.2021 | Maria Ossowski | Quelle: dpa/Britta Pedersen

Kommentar | Bund-Länder-Beschlüsse

Einer Kulturnation unwürdig

Sehr langsam nur werden Kultureinrichtungen öffnen können. Zuerst wohl Museen - aber wie geht es mit Theatern, Opern, Cabarets weiter? Das hängt an vielen Zahlen und Bedingungen. Für Maria Ossowski ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen.

"Kommt Ihr Töchter, helft mir klagen": Werden wir in dieser Karwoche den Eingangschor der Matthäuspassion in Kirchen oder Konzertsälen erleben? Wohl kaum. Wenn Kultur erlaubt wird, dann ganz vorsichtig, regional begrenzt, abhängig von Fallzahlen, jedenfalls immer mit vielen Hindernissen, Tests und drohender Notbremse - und all dies trotz ausgefeilter, teurer Hygienekonzepte, die viele Veranstalter längst geplant und bereits im Sommer erfolgreich umgesetzt hatten.

Es ist an der Zeit, ein Fazit zu ziehen. Über ein Jahr liegt mittlerweile das kulturelle Leben dieses Landes brach. Das ist eine Katastrophe aus vier Gründen:

1. Ein ganzer Berufsstand wird pauschal entwertet

Es wird eine ganze Branche, deren Bruttowertschöpfung die zweitgrößte ist nach der Autoindustrie, komplett entwertet. Die Kultur und alle, die von und mit ihr leben, sind nichts wert. Das hat das Coronamanagement deutlich gezeigt, allen Milliarden zum Trotz, die den Neustart ankurbeln sollen. In diesem Land kann man Schrauben produzieren oder Würstchen, Kettenradgarnituren oder synthetischen Kautschuk, alle Fabriken und Produktionsstätten blieben und bleiben immer geöffnet, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort fühlen sich gebraucht. Für Musikerinnen und Schauspieler, für Autorinnen auf Lesereise und Tänzer, für Sänger, Galeristinnen und DJs galt und gilt das Berufsverbot. Diese pauschale Entwertung eines ganzen Berufsstandes, ohne zu differenzieren, ist einer Kulturnation absolut unwürdig.

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2. Viele Kulturschaffende stehen vor dem Nichts

Die meisten Kulturschaffenden sind ungebremst im sozialen Nichts gelandet. Kein Publikum, keine Gagen, viel zu spät ausgezahlte Hilfen trafen jene, die ohnehin wenig besitzen. 13.000 Euro brutto verdiente vor Corona eine freie Musikerin, ein freier Musiker. Diese Menschen sind verzweifelt. Sie müssen Familien ernähren. Spenden helfen nur punktuell. Die Grundsicherung bewahrt vor Obdachlosigkeit und Hunger, aber mehr auch nicht.

3. Gerade junge Kunstschaffende sind entmutigt

Das Wissen, nicht gebraucht zu werden, nichts mit der eigenen Kunst zu verdienen, trifft vor allem junge Künstlerinnen und Künstler in oder nach der Ausbildung. Die kommunalen Kassen sind leer, Theatern und Opern drohen massive Kürzungen. Wozu haben Studierende die Mühsal einer langen Ausbildung, oft seit früher Kindheit, auf sich genommen? Wer ermutigt junge Künstlerinnen zukünftig, zu üben, wenn sie wissen, dass sie bei der nächsten Pandemie, die garantiert kommt, wieder vor dem Nichts stehen?

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4. Ohne Kultur lässt sich der Lockdown schwerer ertragen

Viertens: Kunst und Literatur, Musik und Theater sind nicht nur schön oder anregend, bildend oder herausfordernd. Sie trösten auch in schweren Zeiten. Ohne jede Sentimentalität sei hier kurz derer gedacht, die an unheilbaren Krankheiten leiden und vielleicht gern noch einmal Lohengrin oder Max Raabe erlebt hätten. Selbst gutes Streaming und die Kulturangebote der Fernsehprogramme ersetzen keine Live-Erlebnis. Viele Seelen brauchen Kultur. Um wievieles leichter hätten wir die Lockdowns ertragen mit einem gut gelüfteten, maskenbewehrten und hygienisch einwandfreien Konzert, einem Cabaretabend, einem Kinobesuch, einem Nachmittag im Museum.

Und so? Jene, die Kultur schaffen und jene, die sie lieben und brauchen, hören Karfreitag den Schlusschor der Matthäuspassion einsam auf Spotify. "Wir setzen uns mit Tränen nieder."

Beitrag von Maria Ossowski

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