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Quelle: dpa/C. Ender

Interview | Linken-Politiker Kocak

"Wir kämpfen auch darum, dass so etwas nie wieder passiert"

Lange hat der Berliner Linken-Politiker Ferat Kocak darum gekämpft, im Prozess um die Neuköllner Anschlagsserie als Zeuge auszusagen. Warum für ihn die Beteiligung an dem Verfahren so wichtig ist und was er von der Kritik hält, erzählt er im Interview.

Der Linken-Politiker Ferat Kocak sagt am Montag im Prozess um die Neuköllner Anschlagsserie als Zeuge aus. Laut Anklage sollen die beiden Hauptverdächtigen Sebastian T. und Tilo P. in der Nacht zum 1. Februar 2018 sein Auto auf dem Grundstück seines Elternhauses in Berlin-Rudow in Brand gesetzt haben. Da die Flammen in unmittelbarer Nähe zur Gasleitung loderten, wäre das Haus samt seiner schlafenden Eltern beinahe in die Luft geflogen.

Seit Ende August wird die Anschlagsserie vor dem Amtsgericht Tiergarten unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen verhandelt. Jo Goll von rbb24 Recherche hat mit Ferat Kocak vor seiner Zeugenaussage gesprochen.

rbb: Herr Kocak, was bedeutet Ihnen diese Zeugenaussage, warum ist es für Sie als Opfer eines mutmaßlich rechtsextrem motivierten Brandanschlages wichtig vor Gericht aussagen zu können?

Ferat Kocak: Seit dem Brandanschlag auf meine Familie und mich, den wir nur durch viel Glück überlebt haben, war es für mich wichtig, den Erfahrungen und das Leid aller Betroffenen der rechten Anschlagsserie in Neukölln Gehör zu verschaffen. Wenn wir als Gesellschaft tatsächlich ein "Nie Wieder" ernst meinen, sind die Stimmen der Betroffenen wichtig. Ich möchte mit meiner Aussage vor Gericht nochmals klarstellen, wieviel Leid dieser Anschlag über meine Familie und mich gebracht, und dass sich unser Leben seit dem grundsätzlich geändert hat.

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Ist das auch eine Art Bewältigungsstrategie, um mit dem Erlebten fertig zu werden?

In die Offensive zu gehen und die Solidarität der Öffentlichkeit einzufordern, ist gewiss eine Bewältigungsstrategie, um mit dem Erlebten fertig zu werden. Hinzu kommt, dass die Öffentlichkeit uns einen gewissen Schutz vor weiteren Anschlägen verschafft. Daher ist vor allem auch die Berichterstattung über diesen Prozess für mich sehr wichtig. Wir kämpfen darum, dass uns Gerechtigkeit widerfährt und dass die Täter verurteilt werden. Aber wir kämpfen auch darum, dass so etwas nie wieder passiert.

Konnten Sie schon feststellen, dass Sie die Beteiligung am Prozess in der Verarbeitung des Erlebten weiterbringt?

Je näher der Gerichtsprozess rückte, umso mehr brauchte ich psychologischen Beistand, um besser mit meinen Ängsten Umgang zu finden. Doch hat der Prozess sowohl mir geholfen, besser damit umzugehen - als auch mir Rückschläge verpasst, wie beispielsweise als meine Nebenklage abgelehnt wurde. Ich wurde dadurch zum dritten Mal Opfer dieses Anschlags. Erst durch den Anschlag selbst, dann als ich erfuhr, dass die Polizei mich hätte warnen können, aber das nicht tat und dann, als die Richterin meine seelischen und körperlichen Folgen durch die Tat nicht für ausreichend empfand.

Was empfinden Sie dabei, wenn Sie die Menschen, die Sie über Monate ausgespäht und als politischen Gegner markiert haben, heute im Gerichtssaal als Zeuge gegenübertreten? Ist da auch psychischer Stress im Spiel?

Auch schon beim Auftakt des Gerichtsprozesses hatte ich diese Situation, die mich sehr getriggert hat. Die Hauptverdächtigen vor sich zu haben, die höchstwahrscheinlich für mein Leid verantwortlich sind, hat mich psychisch sehr belastet. Ich bekomme die Gesichter nun noch weniger aus meinem Kopf und sie verfolgen mich in meinem Schlaf. Auch die Gesichter derjenigen, die diese Menschen verteidigen belasten mich.

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Um als Nebenkläger im Prozess zugelassen zu werden, musste Ihre Anwältin Franziska Nedelmann hart kämpfen, da die Vorsitzende Richterin den entsprechenden Antrag zwei Mal abgelehnt hatte. Warum ist die Beteiligung an diesem Verfahren für Sie so wichtig?

Wenn wir eins aus unserer düsteren Geschichte bis '45 gelernt haben sollten, ist es, dass die Stimmen der Opfer gehört werden müssen. Aller Betroffenen. Ich finde es schade, dass nur meine Stimme und die von Heinz Ostermann [Anmerk. d. Red.: Auch auf das Auto des Buchhändlers wurde ein Brandanschlag verübt] gehört werden.

Gegen Ihre Beteiligung am Prozess, aber auch gegen Ihre Mitgliedschaft im Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus gab es auch Kritik. Es hieß, Sie seien hier Aktivist in eigener Sache. Wir bewerten Sie das?

Ich bin Opfer, ich bin Aktivist, ich bin Politiker. Ich kann diese Rollen voneinander trennen und gehe verantwortungsvoll mit den Vorgaben des Gerichtsprozesses und des Untersuchungsausschusses um. Als Aktivist und Politiker bin ich nicht in eigener Sache, sondern im Interesse einer antirassistischen und antifaschistischen Gesellschaft aktiv und kämpfe für Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Ferat Kocak führte Jo Goll, rbb24 Recherche.

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.10.2022, 07:45 Uhr

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