20-Jähriger vor Berliner Gericht - Knapp neun Jahre Jugendhaft nach Tod einer Fünfjährigen in Pankow

Di 14.11.23 | 18:11 Uhr | Von Ulf Morling
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Blumen zum Gedenken an getötete Fünfjährige in Pankow (Quelle: imago-images/SergejxGlanze)
Video: rbb24 Abendschau | 14.11.2023 | Uwe Wichert | Bild: www.imago-images.de/SergejxGlanze

Im Februar wurde in Pankow eine Fünfjährige erst vermisst und dann tödlich verletzt gefunden. Schnell fiel der Verdacht auf ihren Babysitter, einen Bekannten der Mutter. Der Mann wurde nun zu einer Jugendstrafe von fast neun Jahren verurteilt. Von Ulf Morling

"Das war eine unglaublich schwere Gewalttat, ein grässlicher Vertrauensbruch dem Kind gegenüber", sagte der Vorsitzende Richter der 39. Jugendkammer am Berliner Landgericht, Uwe Nötzel, im Urteil. Das Motiv hätte in dem dreimonatigen Prozess nicht aufgeklärt werden können, es blieben lediglich Spekulationen, die sich für einen Strafprozess verböten.

In die Psychiatrie wird der Angeklagte mit dem Urteil im Prozess um den Tod einer Fünfjährigen in Berlin-Pankow aber nicht eingewiesen, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert. Es sei laut dem Sachverständigen nicht erwiesen, dass der 20-jährige am Tattag wirklich vermindert schuldfähig gewesen sei. Da aber der Grundsatz gelte, dass im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden sei, dürfe man ihn nicht in die Psychiatrie einweisen. Es müsse aber gewährleistet werden, dass der Angeklagte nie wieder eine solche Gewalttat begehen könne, die Allgemeinheit müsse geschützt werden, wurde im Urteil betont.

Am Nachmittag des 21. Februar dieses Jahres hatte der Angeklagte die vier Kinder der 25-jährigen Bekannten seiner Familie betreut. Er war mit den vier Mädchen in den Bürgerpark Pankow gegangen und kurz darauf wohl mit der Ältesten, der fünfjährigen Anissa, verschwunden. Das hätten Zeugen und Überwachungsaufnahmen von Kameras eindeutig bewiesen, hieß es im Urteil. Erst Stunden später hatte die alarmierte Polizei das Kind leblos und lebensgefährlich mit sieben Messerstichen verletzt in einem Gebüsch in der Nähe gefunden. Im Krankenhaus war das Mädchen seinen Verletzungen erlegen.

Warum ersticht ein 19-Jähriger ein Kind?

"Keine Erklärung, keine Einlassung", stellten die beiden Verteidiger des Angeklagten schon zu Beginn des ersten Prozesstages im August klar. Seit seiner Festnahme am Tag der Tötung des Kindes bis zur Möglichkeit des letzten Wortes in seinem Prozess hatte der heute 20-jährige geschwiegen. Immer wieder hatte es Unruhe und Gefühlsausbrüche im Zuschauerraum gegeben.

Bis heute liegt das Motiv für die sieben tödlichen Messerstiche auf die Fünfjährige im Dunkeln, auch bei der Urteilsbegründung am 14. Verhandlungstag. 16 Wachtmeister mussten bei der Urteilsverkündung im Saal für Ruhe sorgen. Er habe wenigstens ein bisschen Mitgefühl erwartet gegenüber einer Mutter, die ihr Kind verloren habe, sagt der Vorsitzende Richter Nötzel. Davon habe er nichts bemerkt im Gerichtssaal.

Gökdeniz A. soll in der Nacht vor der Tat am 21. Februar 2023 bei der Mutter Sibel C. und ihren vier Kindern übernachtet haben. Sie habe dem seit Jahren Bekannten die Wäsche gewaschen, ihm zu Essen gegeben und sich für ihn verantwortlich gefühlt, hatte die 25-Jährige im Prozess berichtet. Denn sie sei selbst im Heim groß geworden und wisse, was es bedeute, niemanden zu haben, der sich um einen kümmere.

Nachdem sie am Nachmittag des Tattages Gökdeniz A. mit ihren vier Töchtern nach unten in den Park geschickt habe, sei später einer der Sozialarbeiter ihrer Wohngruppe erschienen und habe ihr mitgeteilt, dass die fünfjährige Anissa verschwunden sei. A. sei bei der Suche nach dem Mädchen im Bürgerpark nach Zeugenaussagen nicht hilfreich gewesen, so dass erst nach Stunden der leblose Körper des Mädchens in einem Gebüsch gefunden worden sei, tödlich verletzt mit sieben Messerstichen.

Gökdeniz A. war am Abend desselben Tages verhaftet worden und schweigt seitdem zu den Tatvorwürfen.

Jahrelang bekannte und entwurzelte Protagonisten

Weil der Verurteilte zur Tatzeit Heranwachsender war, war eine Jugendkammer für den Fall zuständig. Bei Verdächtigen zwischen 18 und unter 21 Jahren haben die Richter die Wahl, ob eine Verurteilung nach Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht erfolgt. Entscheidend dafür ist der Entwicklungsstand beziehungsweise die geistige Reife des Betroffenen.

Sowohl Gökdeniz A. als auch die Mutter der getöteten Anissa sollen unter schwierigsten sozialen Verhältnissen groß geworden sein, in Konfrontation mit Drogen, Prostitution und fehlender familiärer Wärme, hieß es gegenüber dem rbb. Deshalb soll Sibel C. mit ihren vier Mädchen in einer Wohn- und Hilfseinrichtung des Jugendamtes betreut worden sein.

Bei A. sollen laut einer Psychiaterin bereits in seiner Schulzeit massive psychosoziale Fehlentwicklungen aufgetreten sein. So habe er als Jugendlicher Mitschülerinnen an den Haaren gezogen, mit spitzen Bleistiften gestochen und an ihre bekleideten Intimstellen gefasst. Die Psychiaterin hatte eine "emotionale Überforderung" und eine Intelligenzminderung beim Angeklagten festgestellt. Nach dem Ende seiner Schulzeit 2020 sollen sich A. und C. schließlich in Berlin wieder begegnet sein, nachdem die 25-jährige mit ihren Kindern wieder in die Hauptstadt gezogen war.

Gegen das Urteil kann Revision eingelegt werden.

Archivbild: Blick in einen Gerichtssaal im Kriminalgericht Moabit. Hier hat vor dem Berliner Landgericht ein Prozess gegen den inzwischen 20 Jahre alten Mann begonnen, der am 21. Februar 2023 im Bürgerpark ein fünf Jahre altes Mädchen getötet haben soll. (Quelle: dpa/P. Zinken)Kriminalgericht Moabit: Hier hat lief Prozess gegen den inzwischen 20 Jahre alten Mann

Sendung: rbb24 Inforadio, 14.11.2023, 15:00 Uhr

Beitrag von Ulf Morling

39 Kommentare

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  1. 39.

    Nach JGG § 105 Abs. 3 ist bei Mord in Ausnahmefällen auch 15 Jahre möglich.

  2. 38.

    Wenn ich es nicht wüsste, würde ich nicht kommentieren, gelle "Ansgar".

  3. 37.

    Jugendgerichtsgesetz (JGG)
    § 18 Dauer der Jugendstrafe
    (1) Das Mindestmaß der Jugendstrafe beträgt sechs Monate, das Höchstmaß fünf Jahre. Handelt es sich bei der Tat um ein Verbrechen, für das nach dem allgemeinen Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe angedroht ist, so ist das Höchstmaß zehn Jahre. Die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gelten nicht.
    (2) Die Jugendstrafe ist so zu bemessen, daß die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist.

  4. 35.

    Man muss sich zuerst einmal aktiv als Schöffe bewerben. Wissen Sie überhaupt, wie ein Schöffengericht funktioniert und wann dieses eingesetzt wird?

    Ach, Sie sind das, "Dagmar"...

  5. 34.

    @Steffen

    Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass eine Verzerrung in der Statistik vorliegt.
    Mutmaßlich werden eher Jugendliche mit schlechter Bildung und schwierigen Familienverhältnissen kriminell als solche aus einer stabilen Familie, die das Gymnasium besuchen und 3 mal die Woche die Möglichkeit haben zum Verein oder in die Nachhilfe zu gehen.

    Die Jugendlichen, die aus abgehängten Familien stammen, werden dazu auch deutlich weniger zu Wahl gehen mit 16/18, zumal vermutlich schon die Eltern nicht wählen gehen oder durften. Demokratische und gesellschaftliches Werte werden also nicht vorgelebt.

    Und ein Führerschein, der um die 2000€ kostet, ist für diese Jugendlichen erst recht nicht drin, daher auch kein Autofahren mit 17.

    @freden
    Mit 16 darf man kein Auto fahren. Jugendliche dürfen die theoretischen Kurse für Klasse B in der Fahrschule ab 16,5 Jahren besuchen.

  6. 33.

    "Das Jugendstrafrecht sieht (leider) keine Strafen oberhalb von 10 Jahren Haft vor. " Das stimmt ncht ganz, bei Straftaten, die bei Erwachsenen mit lebenslang bestraft werden können, sind nach Jugendstrafrecht auch 15 Jahre möglich.

  7. 32.

    9 Jahre ….. wieder einmal ein heftiger Schlag ins Gesicht für die Hinterbliebenen ! Mein Beileid

  8. 31.

    Wie erklären Sie sich dann, dass Menschen die angeblich keine Ahnung haben. denoch von Landgerichten als Schöffen berufen werden, um bei anstehenden gerichtlichen Strafverfahren über die Tat und das Urteil mit zu entscheiden?

  9. 30.

    "Zu 95 Prozent stellen nun Menschen auf sehr emotionale Weise zur Schau, dass Sie keine Ahnung von unserem Rechtssystem haben"
    Das müssen sie auch nicht, trotzdem darf man sich zu äußern und darüber diskutieren.
    Was vielen Bürgern auf den Magen schlägt ist das Verhältnis Alter/Jugendstrafe. Darüber sollte auch n.m.M. mal ernsthaft von den politisch Verantwortlichen diskutiert werden.

  10. 29.

    Erster Satz stimmt. Zweiter Satz stimme ich teilweise zu. Dritter Satz finde ich herablassend gegenüber vielen Menschen, die schlichtweg ihre Ansichten äußern ohne Jurastudium mit Abschluss. Emotionales Thema- viele Reaktionen. Die lassen alle Dampf ab, weil Thema sehr berührt hat und noch immer schockiert.

  11. 28.

    "Zu 95 Prozent stellen nun Menschen auf sehr emotionale Weise zur Schau, dass Sie keine Ahnung von unserem Rechtssystem haben"

    Aua, da haben sie sich ein schönes Eigentor geschossen.
    Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde für 18-21jährige (Heranwachsende) vor 10 Jahren abgeschafft.

  12. 27.

    Nur mal zum Nachdenken für Sie: Es gibt auch "Erwachsene", die nicht wirklich reif sind, aber trotzdem uneingeschränkt wählen dürfen. Straftaten passieren nicht nur bei 16-Jährigen. Sogar 70-Jährige stehen gelegentlich vor Gericht. Wegen zum Teil schlimmster Vergehen bis hin zum Mord. Und nun?

  13. 26.

    Hoffentlich finden der Täter und beide Familien zur Ruhe, etwas, nach und nach. Hoffentlich versteht die Familie des Täters, welchen Beitrag sie trifft.
    Hoffentlich versteht die Gesellschaft den Beitrag, den sie trifft.

  14. 24.

    Eine anschließende Sicherungsverwahrung ist doch gar nicht ausgeschlossen. Ich frage mich, warum bei diesem sensiblen Thema überhaupt die Kommentarfunktion freigeschaltet ist. Zu 95 Prozent stellen nun Menschen auf sehr emotionale Weise zur Schau, dass Sie keine Ahnung von unserem Rechtssystem haben

  15. 22.

    Und die arme Mutter muss unter Polizeischutz aus dem Gerichtsgebäude geführt werden, weil die Familie des Täters ein Verhalten an den Tag legt, das in unserer Gesellschaft einfach nichts verloren hat! Dieses Verhalten widert mich zutiefst an.

  16. 21.

    „ Es müsse aber gewährleistet werden, dass der Angeklagte nie wieder eine solche Gewalttat begehen könne, die Allgemeinheit müsse geschützt werden, wurde im Urteil betont.“

    Wie soll das bei dem Urteil funktionieren? In meinen Augen ist das Urteil drastisch zu milde!

  17. 20.

    Nicht ganz. Zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr entscheidet das Gericht, welches Strafrecht zur Anwendung kommt, abhängig von der geistigen Reife des Angeklagten. Grundsätzlich wäre eine Verurteilung nach Erwachsenemstrafrecht möglich und vorgesehen, wenn der Angeklagte die Tragweite seiner Tat vollständig erfassen konnte. Dass heute quasi durchgängig Jugendstrafrecht Anwendung findet und damit die Ausnahme zur Regel geworden ist, liegt nicht am Strafrecht selbst sondern an dessen Auslegung.

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