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Quelle: dpa/Oliver Berg

Der Absacker

Normalität schnappen – ganz ohne Schnappatmung

Während heute wieder Corona-Skeptiker lauthals ihren Unmut kund taten, sind für die meisten von uns ganz andere Ding wichtig. Zum Beispiel die eigene Frisur oder was davon übrig blieb. Von Haluka Maier-Borst

Seit fast zwei Monaten gilt die Kontaktsperre nun. Und doch habe ich seitdem einen neuen Mitbewohner, der mich überall hin begleitet, körpernah, jegliche Abstandsregel ignorierend. Es geht um Samson, meine Corona-Matte. Was irgendwann mal eine Frisur war, wuchs und gedieh in den letzten zwei Monaten so sehr, dass es einen eigenen Namen verdient hat. Wenn nicht gar eine eigene Postadresse. Samson Wuschel, wohnhaft bei Maier-Borsts.

Aber Samson macht Probleme. Morgens sorgt er dafür, dass ich aussehe, als hätte ich in die Steckdose gefasst. Bändigen lässt er sich nur mühsam. Und beim Laufen nimmt er meinen Kopf ständig in den Schwitzkasten. Entsprechend bin ich heilfroh, dass wir beide demnächst getrennte Wege gehen. Ich habe endlich einen Termin bei meiner Friseurin ergattert.

1. Was vom Tag bleibt

Während ich mich heute noch um einen Friseurtermin mühte, sind andere Berlinerinnen und Brandenburgerinnen schon deutlich weiter. Die ersten Restaurantbesuche werden still, aber fröhlich auf allen möglichen Social-Media-Plattformen gefeiert. Zugleich habe ich heute bei meinem Einkauf im Kiez positiv festgestellt, wie sehr sich alle in Rücksicht üben.

Das, und auch die Tatsache, dass nur rund 17 Prozent der Deutschen die aktuellen Maßnahmen für übertrieben halten [zdf.de], sollte man stets im Kopf behalten. Denn schnell kann angesichts der Hygienedemos der Eindruck entstehen, dass da eine große Mehrheit rebelliere. Fakt ist aber, die meisten haben andere Probleme. Seien es in der Tat existenzielle wie in der Gastronomie oder in der Kultur, Probleme, die man nicht kleinreden sollte. Oder eben so banale Probleme wie ich mit Samson.

2. Abschalten.

Neben der Corona-Matte gibt es ja noch ein anderes Überbleibsel aus dieser Zeit. Der Corona-Speck, der es sogar schon in Großbritannien zu Berühmtheit gebracht hat [1843magazine.com]. Aber grämen wir uns nicht zu sehr, dass wir aktuell nur begrenzt dagegen vorgehen können. Rundungen können ja auch schön sein wie zum Beispiel bei Tieren [instagram.com].

Oder in der Architektur, wenn es zum Beispiel um Fenster [pinterest.com] geht.

Eine Rundung, ohne die ich persönlich aber gut ausgekommen wäre, ist die des Fußballs. Denn selbst hartgesottenee Fans wie Matthias Brandt finden den Wiederanpfiff der Saison daneben und werden "keine Sekunde" [11freunde.de] davon schauen. Auch ich muss sagen, dass ich es besonders bescheuert finde, dass zwar meine Lieblingsfußballkneipe nach wie vor nicht aufmachen darf, aber der Fußball schon wieder rollt.

Wer ich bin

Großstadtchaos statt Alpenpanorama, Brandenburger Seen statt britisches Meer. Haluka Maier-Borst war schon an ein paar Orten und hat immer die falsch-richtige Wahl getroffen. Für Berlin. Jetzt sitzt er im Wedding - und mehr oder weniger fest. Denn nach einer Reise in die Schweiz war er zunächst für zwei Wochen in Heimquarantäne. Und jetzt hält er sich natürlich auch an das Kontaktverbot. Jeden Tag gegen acht genehmigen er und seine Kollegen sich einen Absacker und gönnen sich eine kleine Pause von der Nachrichtenlage.

3. Und, wie geht's?

Nicht wenige meiner Freunde beschreiben gerade ein Dilemma, das sie haben. Sie wollen sich an die Abstandsregeln halten und insbesondere die älteren Mitglieder der Familie nicht gefährden. Zugleich wissen Sie nicht, wie lange sie noch Zeit haben genau die Großeltern, Großtanten- und onkels zu treffen. An jedem verlängerten Wochenende des Frühsommers stellt sich die Frage: "Vorbeifahren oder nicht? Und wenn doch - unter welchen Vorsichtsmaßnahmen?" Besonders eindrücklich hat uns dieses Abwägen vor einigen Tagen Ulrike beschrieben:

Diese Freitage machen uns fertig, Opas Geburtstag, Freitag, der 27.3.20, wir wollten nach NRW zu ihm fahren, Kind sollte schulfrei haben. Dann kam Corona. Alle Kinder hatten schulfrei. Wir durften keinen Menschen mehr besuchen, in Brandenburg war gar das Betreten des Gehweges untersagt. Der nächste Freitag, den wir zusammen verbringen wollten, war Karfreitag. Mein Kind hat in den 15 Jahren noch kein Ostern ohne Oma und Opa verbracht. Ich in 55 Jahren auch keines. Wir alle saßen getrennt daheim. Wir haben Ostern ausfallen lassen.

Der dritte Freitag war der 1. Mai, am Montag, 4. Mai wurde mein Kind 15. Wer wollte ein schönes gemeinsames langes Wochenende (Kind sollte schulfrei haben...) verbringen? Genau, wir mit Oma und Opa. Der vierte Freitag war der Tag der Befreiung. Wollten nach Westdeutschland. Der Garten sollte schon Ostern umfasssenden Heckenschnitt bekommen. Oma und Opa haben eh keinen Feiertag. Wir haben uns wirklich peinlich genau an jede Distanz- und Hygiene-Vorschrift gehalten. Seit Wochen. Keiner von uns mag Hustenerkrankungen, und wir schützen alle Omas und Opas dieser Welt. 

Was bleibt, ist das Gefühl, eine Chance vergeben zu haben, ein ungutes Gefühl. Irgendwie geht es mir nicht gut damit, die letzten paar Tage. Kontaktsperre? Kein Problem für - vor allem alleinerziehende - Mütter. Lagerkoller? Nein. Gerne wäre ich noch ein bisschen länger einsam geblieben, wenn wir dafür in den Sommerferien oder vorher mal wieder nach Bielefeld fahren könnten. Oma und Opa besuchen. Virenfrei.

Worauf verzichten Sie zurzeit? Mit wem meiden Sie sich zu treffen, auch wenn es schwer fällt? Und wen haben Sie zuletzt mal endlich wieder getroffen? Schreiben Sie uns doch über Ihre Begegnungen oder Nicht-Begegnungen an: absacker@rbb-online.de

4. Ein weites Feld

Viel cleveres fällt mir gar nicht mehr ein. Entsprechend bleibt mir nur zu sagen: Wenn Sie raus gehen in den Park, achten Sie auf die Abstände. Und wenn Sie drin bleiben:

Bis morgen und Prost, sagt

Haluka Maier-Borst

Beitrag von Haluka Maier-Borst

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