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Quelle: Alliance/Global Travel Images/Juergen Held

Roaring Twenties nach der Corona-Krise

"Die Menschen werden sich schonungslos ins Leben stürzen"

Tod, Fake News, Sündenböcke, Wirtschaftseinbrüche: Vieles, was wir in der Corona-Pandemie erleben, haben schon Pest oder Cholera mit sich gebracht. Und noch etwas ist Ausbrüchen von Seuchen gemein: Nach ihrem Ende folgen oft ausgelassene Jahre. Von Oliver Noffke

Hinweis: Dieser Text wurde zuerst am 13.03.2021 veröffentlicht.

Als die vierte Welle in New York abklang, hatten erneut Tausende vorwiegend junge Menschen ihr Leben an die Spanische Grippe verloren. Doch im Frühjahr 1920 beherrschte eine andere Nachricht die Gazetten. Auf dem Hudson River war ein Flugzeug gelandet, das non-stop aus Miami geflogen kam. Die Piloten Harry Rogers und Sidney Schroeder hatten die Strecke in 15 Stunden und 35 Minuten zurückgelegt. Weniger als einen Tag für etwa 2.400 Kilometer, spektakulär.

Im August folgte bereits die nächste Sensation. Der 19. Zusatzartikel wurde ratifiziert, mehr als 26 Millionen Frauen durften von nun an in den USA wählen. Unterdessen war ein Stadtteil nördlich des Central Parks zum Sehnsuchtsort für Zehntausende Schwarze geworden, die genug von den rassistischen Südstaaten hatten. Harlem erlebte eine Renaissance und beflügelte Fantasie und Stolz von Schwarzen Künstlern und Intellektuellen. Schließlich kroch aus den Kellern des Viertels ein neuer Sound in den Mainstream. Schon bald ließ Jazz Menschen von Los Angeles bis Berlin ausrasten.

Zwei Jahre zuvor war es noch völlig undenkbar gewesen, dass Hunderte Menschen gemeinsam in stickigen Kneipen tanzen würden. Nicht, weil es nichts zu feiern gegeben hätte, im Gegenteil, der Krieg war ja vorbei. Aber das große Sterben ging gerade erst los. Die Spanische Grippe kostete womöglich sechsmal mehr Menschen das Leben, als im Ersten Weltkrieg gestorben waren. Nun, da das Virus verschwand, wurde gefeiert. Die Roaring Twenties begannen, zuerst in den USA und Westeuropa, mit etwas Verzögerung dann in Deutschland. Ein Jahrzehnt des technischen Fortschritts, demokratischer Bewegungen und völliger Ausgelassenheit.

Hintergrund

Spanische Grippe 1918 in Berlin

Das große Sterben

Wiederkehrende Geißel für die Menschheit, aber neu für uns

Eine ähnlich ausgelassene Zeit steht auch uns im 21. Jahrhundert bevor, sobald die Pandemie vorüber ist, glaubt der Soziologe und Epidemiologe Nicholas Christakis. "Die Menschen werden sich schonungslos in das Leben stürzen, Clubs besuchen, Restaurants, politische Kundgebungen, Sportereignisse, Konzerte", sagt er. "Wir könnten eine Phase sexueller Freiheiten erleben, die Künste könnten aufblühen und die Lust auf Unternehmertum." Christakis, Professor an der US-Elite-Universität Yale, zeigt in seinem Buch "Apollo's Arrow", wie vergangene Seuchen der Menschheit zugesetzt haben und was sie verbindet. Denn auch wenn Pandemien durch verschiedene Erreger ausgelöst werden, die Auswirkungen auf die betroffenen Gesellschaften seien sehr ähnlich.

Cholera, Typhus, Pocken haben Millionen von Menschenleben ausgelöscht, bevor sie wieder verschwanden. Wissenschaftler haben Überreste von Pestbakterien gefunden, die vor etwa 4.900 Jahren Menschen befielen. "Seuchen sind in der Menschheitsgeschichte nichts Neues, sie sind nur für uns eine neue Erfahrung." Christakis verweist auf die Plagen in der Bibel oder in den Beschreibungen von Homer und Shakespeare. "Unsere Vorfahren haben in diesen alten Geschichten davon erzählt, damit wir uns erinnern und nicht überrascht werden, wenn eine Seuche ausbricht."

Marlene Dietrich als Lola-Lola im Film "Der blaue Engel", der wie kaum ein anderer das wilde Berlin der 1920er Jahre einfängt | Quelle: DPA

Nebenwirkungen von Seuchen: Wirtschaftskrisen, Antisemitismus, Aberglaube

An Bakterien und Viren sind bereits Wirtschaftssysteme und ganze Zivilisationen zerbrochen. Während der Attischen Seuche brach 430 v.Chr. erst die Wirtschaft und schließlich das gesamte politische System Athens zusammen. Wirtschaftskrisen seien eine typische Folge von Pandemien. "Staatliche Maßnahmen sind nicht dafür verantwortlich, dass unsere Wirtschaft einbricht. Dafür ist das Virus verantwortlich." Johannes von Ephesos habe schon vor 1.500 Jahren beschrieben, wie Geschäfte und Banken schlossen, als in Konstantinopel die Pest ausbrach. "Was Staaten im 21. Jahrhundert tun, sorgt hingegen dafür, dass die Schäden nicht so gravierend ausfallen."

Die Suche nach Sündenböcken geht ebenfalls mit Pandemien einher. "Einwanderer sind dran schuld oder die Juden oder Homosexuelle, Drogensüchtige, es gibt immer diesen Drang danach andere verantwortlich zu machen." Was Qanon-Anhänger oder Prominente wie Attila Hildmann in sozialen Medien teilen, ist selten neu. Der Kern vieler Vorurteile, Lügen und Hirngespinste wird schon seit Jahrhunderten verbreitet. Für den Pestausbruch 1679 in Wien wurden Hexen und Juden verantwortlich gemacht, obwohl damals gar keine Juden in der Stadt lebten. Sie waren bereits Jahre zuvor vertrieben worden. "Aberglaube, Lügen, Bestreiten, das ist seit Tausenden von Jahren typisch für Pandemien und wir erleben das nun auch."

Bereits in der Antike sei den Menschen klar gewesen, dass Abstand zu halten Leben rettet. Auch wenn niemand wusste, wie sich Erreger verbreiten. "Den Leuten war klar, dass sie sich schützen konnten, wenn sie ihr Sozialleben einschränken." Was die Covid-Pandemie von früheren klar unterscheidet, so Christakis, ist, dass die Menschheit zum ersten Mal über das Wissen und die Mittel verfügt, um in Echtzeit eine medizinische Antwort auf einen Erreger zu finden. "In der Vergangenheit haben Menschen geglaubt, sie können Seuchen mit Gebeten bekämpfen oder indem man sich mit einem Hack aus Schlangen und Zwiebeln einreibt oder solche Sachen", so der Epidemiologe.

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Die einen überkompensieren, die anderen werden Erholung brauchen

Worin sich alle Ausbrüche von Seuchen durch die Geschichte hinweg gleichen, ist, dass sie irgendwann enden. Diese Phase werden viele Menschen sehr unterschiedlich ausleben, sagt die Psychologin Eva Asselmann, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt Universität tätig ist. Aus ihrer Sicht könne man zwei Hypothesen zum Verhalten der Menschen nach der Pandemie aufstellen. Die Psychologin rechnet damit, dass sich beide gleichzeitig bewahrheiten werden.

Einige Menschen werden versuchen, alles nachzuholen, was seit Monaten unmöglich ist. "Ich konnte jetzt ein halbes Jahr nicht essen gehen und auch keine Party machen, mich nicht im Club mit anderen Menschen treffen, also werde ich da so richtig viel machen." Verlorenes nachzuholen und überzukompensieren sei eine nachvollziehbare Reaktion, so Asselmann. Andere werden ihr Leben im exakten Gegenteil gestalten, sagt sie. Wer Ruhe und Häuslichkeit im Lockdown als Abwechslung vom Alltagsstress schätzen gelernt habe, werde sich überlegen, wie man sich dies bewahren könne. "Ich könnte mir vorstellen, dass es diese beiden extremen Gruppen geben wird", sagt Asselmann. "Aber die breite Masse der Menschen wird recht schnell in ihre alten Gewohnheiten zurückfinden und die Pandemie überwinden."

Asselmann geht davon aus, dass sich viele, die psychisch unter der Pandemie leiden, wieder erholen werden. "Es ist unwahrscheinlich, dass die Corona-Krise allein eine Depression oder eine Angststörung ausgelöst hat", sagt sie. Dennoch wird es Menschen geben, die Hilfe in Anspruch nehmen müssten, wenn ihre Situation extremere Züge angenommen habe. "So ein Stressereignis kann ein Trigger sein, durch den einige Menschen eine Störung entwickeln."

"Das wird eine schöne Zeit werden"

Es wird nicht nur am Ende der Spanischen Grippe gelegen haben, dass die 1920er Jahre besonders ausschweifend gerieten. Der wenige Jahre zuvor beendete Krieg ließ Amerikaner laut brüllen (roaring) und die Franzosen verrückt werden (Années Folles). In Deutschland dauerte es aufgrund der Hyperinflation noch bis 1924, bis die Leute die Lust fanden und zudem das Geld hatten, um auf dem Vulkan zu tanzen.

Die Renaissance, eine Epoche geprägt von Kunstförderung, humanistischen Ideen und kapitalistischen Ausschweifungen, folgte auf die Pestjahre des späten Mittelalters. Nach ihrem Ende blickten die Menschen auch kritischer auf die Kirche, was ihre Reformation zumindest begünstigte.

Christakis rechnet damit, dass Ende des kommenden Jahres Sars-CoV-2 seine pandemische Wirkung verlieren wird. Dann seien voraussichtlich genügend Menschen immunisiert. Entweder auf natürliche Weise, weil sie die Krankheit überstanden haben, oder durch eine Impfung. "In den ein oder zwei Jahren, die dann folgen, werden die Menschen sich von dem sozialen, ökonomischen und psychologischen Schock der Pandemie erholen müssen", sagt er.

Etwa zu Beginn des Jahres 2024 sei damit zu rechnen, dass eine ausgelassene Phase beginnen werde, die man mit den Roaring Twenties des 20. Jahrhunderts vergleichen können werde. "Wenn wir die Pandemie endlich hinter uns lassen können, werden das viele als eine Art Befreiung empfinden", so Christakis. "Ich glaube, das wird eine schöne Zeit werden."

Beitrag von Oliver Noffke

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