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Audio: Inforadio | 28.03.2018 | Jo Goll | Quelle: dpa/Paul Zinken

Manipulationsverdacht bei Amri-Bericht

"Die Anlagen nehme ich dann raus"

Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit zehn Monaten gegen zwei Polizisten, die im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri einen Bericht gefälscht haben sollen. Eine bewusste Manipulation? Von Ulrich Kraetzer, Jo Goll und Susanne Opalka

Kriminaloberkommissar L. hatte den Namen unzählige Male in die Tastatur eingegeben. Er hatte Aktenvermerke und Sachstandsberichte zu ihm angelegt, Observationsberichte gelesen und Protokolle seiner abgehörten Telefonate gesichtet. Ja, er hatte ihn auf dem Schirm - so genau wie sonst niemand im Berliner Landeskriminalamt (LKA).

Und nun das: Kollegen teilten ihm mit, dass die Person, die am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen in die Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz gefahren war, Anis Amri hieß. Sein Anis Amri. Der Mann, für den er, Kriminaloberkommissar L., der hauptsächlich verantwortlich war. Der Mann, den seine Kollegen und er zunächst so intensiv überwacht hatten wie kaum einen anderen Islamisten – um ihn dann doch aus den Augen zu verlieren, weil sie ihn für nicht mehr so gefährlich hielten.

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Der Kollege soll äußerst besorgt gewirkt haben

Man darf vermuten, dass L. in jener Nacht geschockt war. Weil zwölf unschuldige Menschen gestorben waren. Und vielleicht, weil er sich bereits damals die Frage stellte, ob er nicht doch mehr hätte unternehmen können, um Amri frühzeitig aus dem Verkehr zu ziehen. Eine Kollegin jedenfalls berichtete, dass L. nach der Nachricht, dass Anis Amri den Anschlag verübt hatte, äußerst besorgt gewirkt habe. Amri habe mit Drogen gedealt, habe L. berichtet. Bei den Ermittlungen habe es aber einen "zeitlichen Verzug" gegeben – und vielleicht habe er das Verfahren früher an ein Kommissariat für Rauschgiftdelikte abgeben können.

Für den "zeitlichen Verzug" hatte sich Monate lang keiner interessiert. Nun aber sprach ganz Deutschland von Anis Amri. Und die Staatsanwaltschaft machte Druck. Viel Druck. "Von jetzt auf gleich", so berichten Anti-Terror-Fahnder des LKA, habe der Dezernent die Ermittlungsergebnisse zu dem Handel mit Betäubungsmitteln (BTM) angefordert. Mal per Mail. Mal per Telefon. Dann, am 19. Januar, gut vier Wochen nach dem Anschlag, übermittelte Kriminaloberkommissar L. endlich seinen Bericht. Er sollte ihm viel Ärger einbringen.

Geisel stellt Strafanzeige

Einige Monate später: Vor dem Gebäude der Senatsverwaltung für Inneres in Mitte tritt Innensenator Andreas Geisel (SPD) vor die Mikrofone. Geisel wirkt angefasst, liest jedes Wort vom Sprechzettel ab. Dann verkündet er, dass die Justiz den späteren Mörder Anis Amri wegen seiner Drogengeschäfte möglicherweise schon vor dem Anschlag in Untersuchungshaft hätte bringen können. Die Ermittlungen seien aber womöglich nicht entschlossen genug vorangetrieben worden.

Mehr noch: Um die mutmaßlichen Versäumnisse zu vertuschen, habe der mit dem Verfahren betraute LKA-Beamte nachträglich möglicherweise sogar einen Bericht an die Staatsanwaltschaft manipuliert. Das mutmaßliche Motiv: Amris Drogengeschäfte sollten heruntergespielt werden.  Er habe Strafanzeige gestellt, sagte Geisel. Wegen des Verdachts der Fälschung beweiserheblicher Daten. Wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt.

Senator Andreas Geisel | Quelle: imago/Reiner Zensen

Den Namen des betroffenen Beamten spricht Geisel nicht aus. Doch wer gemeint ist, wissen alle Eingeweihten ganz genau: Kriminaloberkommissar  L.

Geisels Pressekonferenz war ein Wendepunkt. In mehrfacher Hinsicht. Zum einen fühlten sich der Innensenator und seine Leute mehr und mehr von ihrer Polizei hintergangen – was einer der Gründe gewesen sein dürfte, die dazu führten, dass Geisel vor einigen Wochen Polizeipräsident Klaus Kandt vor die Tür setzte. Auch viele Abgeordnete hatten nach der mutmaßlichen Manipulation den Eindruck, sich im Fall Amri auf die Auskünfte der Polizeibeamten nicht mehr verlassen zu können. Wenig später setzten sie einen Untersuchungsausschuss ein.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit nunmehr fast einem Jahr im Fall der mutmaßlichen Aktenmanipulation. Nach Informationen des rbb und der "Berliner Morgenpost" stehen die Ermittlungen kurz vor dem Abschluss. Von dem Ergebnis hängt eine Menge ab: Wird das Verfahren eingestellt, muss Geisel sich den Vorwurf gefallen lassen, zwei seiner Leute zu Unrecht an den Pranger gestellt zu haben. Im Fall einer Anklage oder eines Strafbefehls dürfte sich eine neuerliche Debatte über die Fehlerkultur und die Arbeitsbedingungen bei der Berliner Polizei entspinnen – und L. und ein weiterer verdächtigter Beamter, der an der mutmaßlichen Manipulation beteiligt gewesen sein soll,  müssten um ihre Karriere als Polizisten bangen.

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Der große schale Nachgeschmack

Reporter der "Berliner Morgenpost" und des Rundfunk Berlin-Brandenburg haben die mutmaßliche Aktenmanipulation bis ins Detail rekonstruiert. Sie haben mit Anti-Terror-Fahndern gesprochen, deren Dienststellen mit dem Fall Amri betraut waren, interne Behördenunterlagen gesichtet und in Hintergrundgesprächen mit Juristen die rechtlichen Feinheiten und Fallstricke des Falls erörtert. In der Gesamtschau ergibt sich ein Bild, das unterschiedliche Interpretationen zulässt – aber in jedem Fall einen schalen Nachgeschmack zurücklässt. Denn eines machen die Recherchen deutlich: Die Vorwürfe sind zumindest nicht aus der Luft gegriffen. 

Aber der Reihe nach: Am 19. August 2016 lädt der für Amri zuständige Staatsanwalt die Beamten des Berliner LKA zu einer Arbeitsbesprechung ein. Die Beamten haben zu diesem Zeitpunkt keine Anhaltspunkte, dass Amri unmittelbar einen Anschlag begehen könnte. Sie halten ihn aber weiterhin für gefährlich – und der Staatsanwalt will den Tunesier "von der Straße kriegen". Die Chance scheint greifbar: Denn aus der Telefonüberwachung haben die Ermittler Hinweise, dass Amri mit Drogen dealen könnte. Im Görlitzer Park. Im Kleinen Tiergarten in Moabit. Auf der Partymeile rund um die Warschauer Brücke in Friedrichshain.

Unmittelbar nach der Besprechung verfügt der Staatsanwalt daher, Amris Drogengeschäfte "zum Gegenstand gesonderter Ermittlungen" zu machen. Das Ziel: Ein Haftbefehl. Und später vielleicht ein rechtskräftiges Urteil.

Danach passiert – erstmal gar nichts. Der Richter genehmigt eine Verlängerung der Überwachung der Telekommunikation. Doch selbst die Strafanzeige – nicht mehr als ein erster Schritt, um die Ermittlungen formal in Gang zu bringen – schreibt Kriminaloberkommissar  L. erst am 20. Oktober.

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Amphetamine, Kokain, Cannabis

Immerhin: Einer untergeordneten Kollegin, Kriminalkommissarin W., erteilt L. den Auftrag, die Protokolle der Überwachung von Amris Telekommunikation auszuwerten und die Erkenntnisse zum BTM-Handel für die Staatsanwaltschaft aufzuschreiben.

Die junge Beamtin arbeitet akribisch. Sie wertet hunderte von Protokollen aus der Telefonüberwachung aus, schreibt über Amris Aufenthalte in der Großbeerenstraße, der Tauroggener Straße und in der Buschkrugallee, und findet in 73 Protokollen Hinweise, dass Amri mit Drogen gedealt haben könnte. Vor dem Club "Watergate" in der Falckensteinstraße, im "Chalet" am Schlesischen Tor oder im Görlitzer Park. Amphetamine, Kokain, Cannabis: Amri, so die Einschätzung der Kommissarin W., betreibe "gemeinsam mit zwei weiteren Beschuldigten gewerbsmäßigen, bandenmäßigen BTM-Handel". Der Sonderermittler des Senats, Bruno Jost, wird später in seinem Abschlussbericht schreiben, dass es bei einer konsequenten Ermittlungsarbeit "mittelfristig die Chance auf eine Haftbefehl" gegeben hätte.

Hätte, wäre, wenn. Konjunktive. Denn die Chance verstreicht, weil der hauptverantwortliche Amri-Ermittler, Kriminaloberkommissar L., den Zehn-Seiten-Bericht seiner Kollegin nicht der Staatsanwaltschaft zuleitet. Der Rest ist bekannt: Am 19. Dezember ist der Tunesier immer noch auf freien Fuß, kapert am Friedrich-Krause-Ufer einen Lastwagen und bringt seinen Plan, in eine Menschenmenge zu rasen, im Herzen der City-West zu einem tragischen Abschluss.

Vorwurf der Strafvereitelung im Amt

Nach dem Anschlag hängt der im Polizeicomputer vor sich hinschlummernde Vermerk der Kriminalkommissarin W. wie ein Damoklesschwert über den Amri-Ermittlern. Denn er könnte als Beleg für eine schlampige Ermittlungsarbeit gewertet werden. Zunächst ist das Dokument nur wenigen Beamten bekannt. Doch schon wenige Tage nach dem Anschlag drängelt die Staatsanwaltschaft.  L. und seine Kollegen vertrösten die Juristen zunächst und L. arbeitet, so der Verdacht, an der mutmaßlichen Manipulation. Statt der Staatsanwaltschaft einfach den bereits seit November 2016 fertigen 10-Seiten-Bericht der Kollegin W. zu übermitteln, verändert er den Text, so der Vorwurf. Wenn sich der Verdacht bewahrheitet, könnte man auch sagen: Er verfälscht ihn.

Statt der 73 TKÜ-Protokolle finden sich im Anhang nun nur noch sechs Protokolle. Der Vorwurf des "banden- und gewerbsmäßigen" Handels ist durch die Formulierung "möglicherweise Kleinsthandel" ersetzt. Anis Amri wird so zu einem kleinen Fisch. Zum Kleinkriminellen, den man schwerlich hätte in Haft nehmen können. Amris mutmaßlicher Mittäter Mohmad K. ist in dem Bericht gar nicht mehr erwähnt. Dies soll L. später den Vorwurf der Strafvereitelung im Amt einbringen. Unverändert bleibt das Datum: 01.11.2016 steht in der oberen rechten Ecke des Dokuments. Tatsächlich aber wird die Fassung des Dokuments, das die Staatsanwaltschaft erreicht, erst am 18. Januar fertiggestellt.

"161101_AMRI"

Die Staatsanwälte haben die Ermittlungen zu der mutmaßlichen Aktenmanipulation äußerst ernst genommen. Sie befragten Dutzende Kollegen von  L. – und dürften interessante Dokumente entdeckt haben. Geradezu entlarvend erscheint eine Word-Datei mit dem Namen "161101_AMRI". Laut Polizeicomputer war sie in einem Laufwerk eines als Mittäter beschuldigten Kollegen von L. abgelegt. Es handelt sich um eine Art Zwischenversion der Berichte der Kommissare W. und L. zu Amris Dealer-Aktivitäten.

Der ursprüngliche Vorwurf des "gewerbsmäßigen, bandenmäßigen BTM-Handel" ist darin bereits zum "Kleinsthandel" heruntergestuft. Der Verfasser war aber offenbar noch nicht ganz fertig geworden. Und so findet sich am Ende des Textes in Klammern ein Satz, der offenbar als Hinweis für einen Kollegen gedacht war. Der Wortlaut: "die Anlagen nehme ich dann raus und packe einzelne Gespräche dazu".

Ein Beleg für eine gezielte Manipulation? So könnte man es interpretieren. Denn der Klammer-Vermerk bezieht sich offenbar auf die Auflistung der 73 Protokolle aus der Überwachung von Amris Telekommunikation. Kommissarin W. wollte damit Amris "gewerbsmäßigen und bandenmäßigen" Drogenhandel belegen. L., und womöglich auch sein mitbeschuldigter Kollege, wollten dagegen - so jedenfalls der Verdacht - der Staatsanwaltschaft die meisten dieser Protokolle vorenthalten, um möglicherweise ihre vorangegangene Untätigkeit zu kaschieren.

Ob die Fakten reichen, um Anklage zu erheben, ist dennoch unklar. Denn um den Vorwurf der Strafvereitelung im Amt aufrechtzuerhalten, müsste die Staatsanwaltschaft einen Vorsatz nachweisen. Das könnte schwierig werden.

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Womöglich bleibt vieles im Dunkeln

Ihre Rechtsanwälte teilen auf Anfrage mit, dass die Vorwürfe unzutreffend und unberechtigt seien. Der Verteidiger von L. macht zudem einen formalen Verfahrensfehler geltend. Demnach hätte die Staatsanwaltschaft dem Sonderermittler des Senats, Bruno Jost, niemals Einblick in die Ermittlungsakten gewähren dürfen. Dies sei nicht nur rechtswidrig gewesen, sondern dadurch sei auch die Arbeit der Ermittlungsbehörden gestört worden.

Ob es sich um eine gezielte Manipulation oder eher um eine schwer erklärliche Schlamperei handelte, wird womöglich für immer im Dunkeln bleiben. Auch der Untersuchungsausschuss wird sich bei der Aufklärung schwer tun. Denn die Parlamentarier könnten L. und seinen ebenfalls beschuldigten Kollegen zwar als Zeugen vorladen. Die Beamten müssten sich aber nicht selbst belasten – und könnten die Aussagen zu den entscheidenden Fragen verweigern. "Es sind Zeugen, die unmittelbar an Amri dran waren, und sie könnten einen großen Beitrag zur Aufklärung leisten", sagt der Grünen-Abgeordnete Benedikt Lux. "Es wäre bedauerlich, wenn sie ihr Wissen für sich behielten."

Zur Berichterstattung der "Berliner Morgenpost"

Beitrag von Ulrich Kraetzer, Jo Goll und Susanne Opalka

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