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Audio: Inforadio | 08.11.2018 | Carolin Haentjes | Quelle: akg

Weltkriegsende vor 100 Jahren

Ausgehungert in die Revolution

Der deutsche Kaiser ist realitätsblind, das Volk hungert. Doch am 9. November 1918 wird in Berlin eine Falschmeldung ausgegeben, die erst die Monarchie beendet und schließlich den Ersten Weltkrieg. Von Oliver Noffke

Mehrfach hat sich das Schicksal der Deutschen an einem 9. November entschieden. 1923 missglückt an diesem Tag Adolf Hitlers Versuch, die bayerische Regierung zu stürzen. Während seiner daraus resultierenden Haftstrafe schreibt er sich den Hass vom Herzen und legt auch mit diesem Bestseller einen Grundstein für seine spätere Machtübernahme. 1938 verliert die aufgepeitschte Mehrheitsgesellschaft an diesem Datum jegliche Hemmungen. Als die systematische Verfolgung der Juden beginnt, springt das Volk auf zum Höllenritt mit den Nationalsozialisten. Am Ende blickt die ganze Welt in den Abgrund. 1989 zerbröselt die DDR, als Günter Schabowski versehentlich, aber "unverzüglich", die Grenzen öffnet. Schnell wird klar: Selbst Todesstreifen verlieren ihre Schrecken, wenn Trabis hindurchknattern.

Bekanntmachtung des Reichskanzlers zur Regierungsumbildung und Reform des Regierungssystems, 4. November 1918 | Quelle: dpa/akg-Images

Fake News von fast ganz oben

Vor 100 Jahren wird am 9. November in Berlin die deutsche Monarchie begraben. Ausgerechnet von einem Monarchen. Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündet, dass Wilhelm II. auf den Kaisertitel verzichtet. Sein Sohn und Thronfolger werde nicht nachrücken und auch Preußenkönig wollten beide nicht sein, so der Reichskanzler. Der Kaiser weiß davon nichts. Von Baden setzt bewusst eine Falschmeldung in die Welt. Fake news sozusagen. Das interessiert allerdings niemanden.

Stunden später steht der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann im Fenster der Reichskanzlei und erklärt das Deutsche Reich zur Republik. Nicht einmal die Statuen und Büsten der Hohenzollern reißen die Menschen von den Sockeln, wie es die wütenden Russen ein Jahr zuvor taten, nachdem sie den Zar verjagt hatten. Wilhelm II., der aus heutiger Sicht auf geradezu unerklärliche Weise sehr lange sehr beliebt bei seinen Untertanen war, ist ihnen nun herzlich egal. Wie konnte es soweit kommen?

Novemberrevolution 1918: Truppenteile schließen sich den Streikenden am 8.11.1918 in Berlin an | Quelle: dpa/akg-images

Überheblich und realitätsblind in den Tod beordert

Zu Beginn des Jahres 1918 hielten die meisten Deutschen es noch für ausgeschlossen, dass ihr Land den Krieg verlieren könnte. Am 3. März zwangen die Mittelmächte der neuen bolschewistischen Führung in Moskau einen erniedrigenden Friedensvertrag auf. Russland zerfiel, schied aus dem Krieg aus und war vorerst mit sich selbst beschäftigt. Die Oberste Heeresführung beorderte daraufhin Hunderttausende Soldaten von der Ostfront ab. Sie sollten die Truppen im Westen unterstützen, die seit Jahren in den zerschossenen Landschaften Belgiens und Ostfrankreichs kauerten. Orte, die auf Bildern aussehen, wie mit Asche und Kohle gezeichnet, in Wahrheit aber mit Blut getränkt und Gedärmen übersät waren. Dabei überschätzten Generäle und Kaiser die Kraftreserven und Leidensfähigkeit ihrer Soldaten. Den Frust nach Jahren des Hungerns unterschätzten sie wiederum.

Bereits seit Februar 1915 wurden im Deutschen Reich Lebensmittel rationiert. Die britische Seeblockade klemmte das Land von Nachschub aus Übersee ab. Die Wehrpflicht für 17- bis 45-jährige Männer ließ viele Frauen allein auf den Äckern zurück. Da auch Pferde eingezogen wurden, musste oftmals von Hand gepflügt werden. Obst und Fleisch konnten sich insbesondere in den Städten bald nur noch die Wohlhabenden leisten. Dann kam der Steckrübenwinter.

Nachdem im Sommer 1916 Unwetter die Ernte verhagelt hatten, wurden Grundnahrungsmittel knapp. Im Winter sank die durchschnittliche Tagesration pro Kopf auf etwa 1.000 Kilokalorien, nicht einmal die Hälfte des Normalen. Beim Anstehen in den immer länger werdenden "Lebensmittelpolonaisen" in den Städten kollabierten regelmäßig ausgemergelte Mütterchen. Der Sieg gegen Russland wurde zum Pfand, um weiter durchzuhalten. Nur noch ein paar Wochen hungern, bis auch Frankreich und die Briten niedergerungen sein werden, war die Devise. Nur kam dieser Sieg nicht.

Kaiser Wilhelm II. inspiziert die Truppen an der Westfront im Ersten Weltkrieg | Quelle: dpa/akg-images

Der entrückte Monarch

In den Stellungsschlachten der Westfront hatte stets derjenige die schlechteren Karten, der sich zuerst aus den Schützengräben wagte. Wer angriff, rannte in die Kugeln des Gegners. Die deutschen Truppen wurden zudem durch einen gravierenden taktischen Fehler ihrer Militärführung in Gefahr gebracht. Statt Verstärkung dorthin zu schicken, wo am ehesten ein Durchbruch zu erwarten war, wurde die Nachhut da eingesetzt, wo die Entente am hartnäckigsten Widerstand leistete. Die deutschen Soldaten wurden verheizt. Allein im Frühjahr 1918 starben fast eine Viertelmillion deutschen Soldaten. Noch einmal so viele waren verwundet oder wurden vermisst.

Am Ende des Sommers waren die Deutschen nach wie vor hungrig und entsetzt, ob der hohen Verluste. Der Kaiser nahm solche Sorgen gar nicht wahr, so der britische Historiker John C. G. Röhl. In seiner umfangreichen Biografie "Der Weg in den Abgrund" von 2008 beschreibt Röhl, wie eine Rede Wilhelms Anfang September die Mitarbeiter einer Rüstungsfabrik in Essen schockiert. Statt sich an das Redemanuskript zu halten, faselt er davon, dass der Krieg noch Jahre andauern könnte, beklagt sich über angebliches Versagen der Parteien, obwohl deren Gestaltungsspielraum recht gering ist, und droht denen, die Schlechtes über die Armee verbreiten würden. Aus den Reihen der Arbeiter rufen Einzelne "Hunger".

Jung, liberal, erpressbar

Wenige Tage später wird die deutsche Westfront durchbrochen. Die Oberste Heeresführung drängt, einen Waffenstillstand zu verhandeln. Um nicht selbst die Verantwortung für die Niederlage übernehmen zu müssen, sollen die Berliner Politiker es richten. Diese Feigheit wird zum Saatkorn für die Dolchstoßlegende. Max von Baden wird am 3. Oktober zum Reichskanzler gemacht in der Hoffnung, dass der Cousin Wilhelms die nötige Glaubwürdigkeit besitzt, ein Friedensgesuch an US-Präsident Woodrow Wilson zu richten.

Wilson macht klar, Frieden kann es nur geben, wenn der Kaiser abdankt. Von Baden gerät dadurch in eine Zwickmühle: Seine Frau und Kinder sind nur Fassade. Der Prinz ist schwul. In dem Buch "Kaisersturz: Vom Scheitern im Herzen der Macht 1918" legt der Historiker Lothar Machtan nahe, dass Kaiserin Auguste den Reichskanzler damit erpresste. Sollte er der Monarchie schaden, würde sie sein Privatleben öffentlich machen.

Antrittsrede des neuen Reichskanzlers Prinz Max von Baden am 5. Oktober 2018 | Quelle: akg-images

Der Tag der zwei Republiken

Drei Wochen später will die Marineführung mit einem letzten Angriff die britische Flotte in der Nordsee versenken. Um das Himmelfahrtskommando zu verhindern, sabotieren die Matrosen die Schiffe. Als sie dafür inhaftiert werden, beginnt der Aufstand. Unzufriedene Arbeiter fordern in Kiel gewaltsam die Freilassung. In nahezu allen Städten, die davon Wind bekommen, werden ebenfalls Streiks angezettelt. Arbeiter- und Soldatenräte bilden sich. Im Zentrum des Zorns steht schnell das ungerechte Wahlrecht, das Arme benachteiligt und Frauen ganz ausschließt. Im Endeffekt dient es lediglich dem Machterhalt der Monarchen.

Der Matrosenaufstand | Quelle: dpa

Als es am 9. November Krawalle in Berlin gibt, ist aus dem Aufstand längst eine Revolution geworden. Ein letztes Mal versucht der Reichskanzler Wilhelm zum Einlenken zu überreden und verkündet dann doch eigenmächtig dessen Rücktritt. Friedrich Ebert von der SPD soll vorübergehend die Regierungsgeschäfte führen und, wenn möglich, Deutschland zu einer parlamentarischen Monarchie umbauen. Der Plan stirbt, als Scheidemann 14 Uhr im Fenster steht und ruft: "Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!" Er kommt damit dem Kommunisten Karl Liebknecht zuvor, der zwei Stunden später die Freie Sozialistische Republik Deutschland ausruft.

In Versailles stehen die Falschen vor dem Scherbenhaufen

In den folgenden Monaten wird die Revolution in Gewalt umschlagen. Aber schon nach einer Woche hat die SPD-geführte neue Regierung so viel erreicht, dass Deutschland auf dem Papier plötzlich die modernste Demokratie Europas ist: Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich, das Verhältniswahlrecht, Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Allerdings werden es Sozialdemokraten sein, die den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnen, der dem Reich die alleinige Kriegsschuld zuschiebt und den Staat Milliarden kosten wird. Die Generäle der Obersten Heeresführung haben zwar das Porzellan zerdeppert, aber nun glauben alle, die Schuld liegt bei denen, die die Scherben in den Händen halten.

Kaiser Wilhelm II mit Familie im Exil in Haus Doorn | Quelle: dpa/arkivi

Kaiser Wilhelm II. hat sich am 9. November längst ins belgische Spa geflüchtet. Er will mit der Rückkehr warten, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Stattdessen wird ihm sein später Hausstand mit dem Zug ins niederländische Schloss Doorn geschickt. Den Rest seines Lebens verbringt er damit, Kaiserbilder an Besucher zu verteilen oder beim Holzhacken.

Sendung: Inforadio, 08.11.2018, 10:45 Uhr

Beitrag von Oliver Noffke

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