rbb24
  1. rbb|24
  2. Politik
Audio: rbb24 Inforadio | 12.08.2022 | Sabrina Wendling | Quelle: dpa/Philipp von Ditfurth

Zweckentfremdet

Hunderte Lehrkräfte, die gar nicht unterrichten

Statt für Unterricht werden Lehrkräfte in Berlin für andere Zwecke eingesetzt - und fehlen dann an Schulen. Sie geben Seminare oder kümmern sich um Studierende. Während die einen diese Priorisierung kritisieren, sagen andere, dass sie notwenig sei. Von Franziska Hoppen

Trotz des hohen Bedarfs an Lehrkräften werden in Berlin etliche Lehrerinnen und Lehrer von ihren Schulen für andere Zwecke abgeordnet und für tausende Stunden pro Jahr vom Unterricht freigestellt. Das geht aus einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der bildungspolitischen Sprecherin der CDU-Fraktion, Katharina Günther-Wünsch hervor, die dem rbb exklusiv vorliegt.

Auf den ersten Blick erstaunen die Zahlen: Nach Angaben der Bildungsverwaltung wurden Lehrkräfte in den vergangenen fünf Schuljahren im Schnitt mehr als 7.000 Stunden pro Jahr ganz oder teilweise freigestellt, um als Seminarleiter oder -leiterin zu arbeiten – also um angehende Lehrkräfte auszubilden. Das entspricht rund 260 Vollzeitstellen, die in Berlin pro Schuljahr zunächst fehlen. Für Fort-, und Weiterbildungen wurden mehr als 4.300 Stunden pro Schuljahr freigestellt, was circa 160 Stellen entspricht.

Und die Liste geht weiter: Mit durchschnittlich etwas mehr als 800 Stunden wurden Lehrkräfte für den Dienst in Beratungs-, und Unterstützungszentren freigestellt. Für Tätigkeiten in der Schulpsychologie fielen rund 760 Stunden an. Darüber hinaus schlagen Schulinspektionen mit jährlich rund 300 Stunden zu Buche. Dabei wird die Qualität von Schulen durch eine Außenansicht bewertet. Für Arbeit in der Bildungsverwaltung wurden durchschnittlich fast 160 Lehrkräfte abgeordnet. Dort helfen sie zum Beispiel bei der Umsetzung zentraler Prüfungen wie dem Abitur. Rund 30 Lehrkräfte wurden pro Jahr abgeordnet, um an Hochschulen tätig zu sein.

Berliner Schulen

Hunderte Lehrkräfte unterrichten über das Rentenalter hinaus

Lehrer fehlen in den Klassen

Angesichts des massiven Lehrkräftemangels in Berlin findet Günther-Wünsch diese Zahlen deutlich zu hoch, denn die Angestellten fehlen zunächst im Unterricht: "Die tatsächliche Anzahl an Abordnungen überrascht mich. Theoretisch könnte damit zum kommenden Schuljahr ein Teil der gravierenden Personallücke geschlossen werden", sagte die Abgeordnete dem rbb.

Schon jetzt ist absehbar, dass im kommenden Schuljahr der Bedarf von 920 zusätzlichen Lehrkräften nicht gedeckt werden kann. Auch die Senatsbildungsverwaltung schreibt auf rbb-Nachfrage: "Unterricht fällt wegen der Abordnungen nicht regelhaft aus. Aber es erhöht sich der Einstellungsbedarf."

Einfache Lösung in Sicht?

Der Vorschlag von Günther-Wünsch ist simpel: Abordnungen eindampfen. Anfangen könnte man aus ihrer Sicht bei den Seminarleitern. "Die Zahl an Seminarleitern (im letzten Schuljahr wurden mehr als 300 Stellen dazu freigestellt) erscheint ungewöhnlich hoch, wenn im letzten Schuljahr 828 Personen ihren lehramtsbezogenen Studienabschluss machen. Das entspricht einer Betreuungsquote, von der Schüler in Berlins Schulen nur träumen können", so Günther-Wünsch. Vorstellbar sei, mehr Seminare für angehende Lehrkräfte zusammenzulegen.

Ein Vorschlag, den die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin (GEW) ablehnt. Für den Vorsitzenden, Tom Erdmann, wäre das genau das falsche Zeichen. "Es ist in jedem Fall sinnvoll, dass hier auch erfahrene Lehrkräfte arbeiten und nicht nur Theoretiker, die seit langem keine Schule mehr von innen gesehen haben."

Infektionsschutz in Brandenburg

Kabinett verlängert Corona-Maßnahmen - Schutzwoche für Schulen

Die bestehenden Corona-Regeln in Brandenburg gelten bis Mitte September, hat die Landesregierung beschlossen - mit einer Besonderheit: Auf bestimmte Schüler und Lehrer kommen nach den Sommerferien mehrere Corona-Tests zu.

Linke: "Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen"

Die bildungspolitischen Sprecher der Linken und Grünen Koalitionsfraktionen teilen diese Einschätzung. "Wir würden den Ast abschneiden, auf dem wir sitzen", sagt Franziska Brychcy von den Linken. Aus ihrer Sicht gibt es - im Gegenteil - gar nicht genug aktive Lehrkräfte, die Lehramtsstudierende unterrichten.

Berlin strebt jährlich 2.000 Absolventen im Lehramtsstudium an. Letztes Jahr waren es gerade einmal 900 - viel zu wenig, um den überforderten Schulen zu helfen. "Wir brauchen eine praxisnahe Ausbildung", so Brychcy – um attraktiver zu werden. "Da können wir nicht kürzen." Erfahrene Lehrkräfte seien "zwingend notwendig", sagt auch Marianne Burkert-Eulitz, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion.

Bei den Schulinspektionen hingegen scheinen sich alle einig: Das Einsetzen von Lehrkräften könnte mindestens überdacht, wenn nicht ganz ausgesetzt werden, fordert unter anderem Günther-Wünsch. Überhaupt sei ein differenziertes Herangehen angebracht. "Auch die Stellen bei der Senatsbildungsverwaltung müssen sicherlich nicht alle mit Lehrkräften besetzt werden. Dort können zum Teil auch andere Berufsgruppen tätig sein", sagt etwa Burkert-Eulitz, bei Aufgaben, die weniger praktische Expertise verlangen.

Abordnungen für GEW meist sinnvoll

Im Großen und Ganzen jedoch seien viele der Abordnungen sinnvoll, findet Tom Erdmann von der GEW Berlin: Wenn in Berlin fast 37.000 Lehrkräfte arbeiten, sei es nicht zu viel, wenn einige hundert für andere Aufgaben als reinen Unterricht eingesetzt würden.

Es gebe auch besonders sinnvolle Einsatzgebiete: In den Schulpsychologisch und Inklusionspädagogischen Beratungs-, und Unterstützungszentren (SIBUZ) zum Beispiel arbeiten auch Lehrkräfte für Sonderpädagogik. Sie beraten Eltern und Schulen, die keine eigenen Stellen für Sonderpädagogik haben. "Das ist für das Gelingen von Inklusion wichtig, weil inzwischen ein Großteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht mehr wie früher in Förderzentren lernt, sondern in allgemeinbildenden Schulen", so Erdmann.

Außerdem fallen nicht alle Stunden, die freigegeben werden, als Unterricht aus. "80 Vollzeiteinheiten können nachbesetzt werden. Das entspricht 2.160 Stunden", schreibt der Pressesprecher der Bildungsverwaltung auf Nachfrage. Die ist zwar angesichts der tausenden Stunden darüber hinaus auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Weniger Abordnungen scheinen aber für die meisten Experten nicht die Lösung für den massiven Lehrermangel zu sein.

Sendung: rbb24 Abendschau, 12.08.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Von Franziska Hoppen

Artikel im mobilen Angebot lesen