rbb24
  1. rbb|24
  2. Politik
Video: rbb24 Brandenburg aktuell | 27.08.2022 | Phillip Gerstner | Quelle: dpa/Micha Korb

Interview | Mobilitätsforscher Jürgen Gies

Was wir aus dem 9-Euro-Ticket für Brandenburg lernen können

Kurz vor dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets ist immer noch unklar, ob und wie es weitergeht. Mobilitätsforscher Jürgen Gies sagt, was seiner Meinung nach passieren muss, um das Ticket attraktiv für alle zu machen - und warum die letzte Meile so wichtig ist.

rbb|24: Herr Gies, das 9-Euro-Ticket sollte Pendler entlasten, das war die erste Aufgabe. Man hat damit aber natürlich auch die Hoffnung verbunden, dass der Öffentliche Personen-Nahverkehr perspektivisch gewinnt. Hat das geklappt?

Jürgen Gies: Der ÖPNV hat enorm an Aufmerksamkeit gewonnen. Das 9-Euro-Ticket war überall in den Medien und auch in der Bevölkerung sehr, sehr breit bekannt. 30 Millionen Menschen, inklusive der Abo-Kunden, die ja das 9-Euro-Ticket automatisch bekommen haben, hatten einen Zugang zum ÖPNV, der sehr niederschwellig ist: Sie mussten nicht mehr über Tarifgrenzen nachdenken und konnten den ÖPNV bundesweit sehr einfach nutzen.

Das 9-Euro-Ticket hat auch gezeigt, wo der ÖPNV seine Mängel hat, nämlich bei der Angebotsqualität, bei den Kapazitäten, die er auf den Hauptachsen hat. Da haben wir sehr deutlich gesehen, wo der ÖPNV ausgebaut werden muss, wenn er seinen Beitrag zur Verkehrswende leisten soll.

Zur Person

Welche Verkehre haben besonders profitiert?

Es ist schon der Verkehr zwischen den großen Städten, der davon sehr stark profitiert hat, dass wir mehr Nachfrage haben. Aber auch der Verkehr von den Städten in touristisch interessante Regionen hinein - bezogen auf Berlin, Brandenburg natürlich die Verkehre zur Ostsee hin, die sehr stark ausgelastet sind. Aber beispielsweise auch der RE1 nach Magdeburg. Der war aus meiner persönlichen Beobachtung immer sehr voll - voller, als es vor dem 9-Euro-Ticket der Fall gewesen ist.

Und auch bei den Zügen in Richtung Wismar mit den Umsteigemöglichkeiten nach Hamburg haben wir Auslastungen erreicht, die jenseits der Kapazitäten waren. Es hat auch Menschen in den ÖPNV hineinbewegt, die ihn sonst nicht nutzen.

In ländlichen Regionen hat das 9-Euro-Ticket möglicherweise eine geringere Rolle gespielt. Warum könnte das so sein?

In den ländlicheren Räumen sind die Alltagswege mit dem ÖPNV meistens nur mit sehr viel längerer Fahrtzeit zu bewerkstelligen. Und da ist dann die Abwägung: der günstige Preis auf der einen Seite, aber auch die Zeit, die man für die Fahrt mit dem ÖPNV aufwenden muss. Da muss sich der ÖPNV mit der Qualität messen, die der private Pkw in ländlichen Räumen bietet.

Mit dem privaten Pkw kann ich von zu Hause aus direkt bis zu meinem Ziel hinfahren und habe eigentlich auch keinerlei Restriktionen, was Parkmöglichkeiten oder Staus anbelangt, die wir aus den größeren Städten kennen.

Wie sieht es auf dem Fernbus-Markt aus, seit des 9-Euro-Ticket gab?

Es gibt Berichte von den Fernbus-Unternehmen, dass sie Umsatzverluste zu beklagen haben, weil die Menschen mit dem 9-Euro-Ticket sehr viel günstiger fahren können, als es mit dem Fernbus möglich wäre. Eine verlässliche Datengrundlage gibt es dazu meines Wissens allerdings noch nicht, um zu sehen, wie stark dieser Effekt tatsächlich gewesen ist.

Nachfolger für das Neun-Euro-Ticket

"Wir brauchen eine radikale Lösung"

Was nach dem Neun-Euro-Ticket kommen soll, wird viel diskutiert. Vorbilder finden sich in unseren Nachbarländern: Ein Mobilitätsforscher der TU Berlin sieht eine Möglichkeit, diese Modelle auch hier umzusetzen. Von W. Siebert und H. Daehler

Um nochmal auf das Stadt-Land-Gefälle zurückzukommen: Es gibt den Vorschlag, in ein solches System Taxis mit einzuflechten. Würden Sie das als zukunftsweisend einschätzen?

Im ländlichen Raum werden im privaten Pkw-Verkehr sehr hohe Fahrleistungen zurückgelegt. Wenn man ein Verkehrssystem möchte, das dazu führt, dass Menschen auf den Zweit- oder Drittwagen verzichten, braucht man Angebote für die letzte Meile.

Das kann auch das private Fahrrad sein. Dann brauchen wir an den Bahnhöfen oder wichtigen Bushaltestellen sehr sichere Abstellmöglichkeiten für diese privaten Fahrräder. Das können aber auch On-Demand-Angebote sein, also moderne Bedarfsverkehre, wie Rufbusse, zukünftig automatisierte Lösungen oder auch Taxis.

Oktober bis Dezember

SPD will Neun-Euro-Ticket in Berlin verlängern - Grüne skeptisch

Das Neun-Euro-Ticket läuft Ende August aus. Am Freitag kündigte Berlins Regierende Giffey überraschend an, dass es in der Stadt eine Art Verlängerung geben soll: ein Ticket nur für Tarifbereich AB, Preis noch offen. Von mehreren Seiten gibt es Kritik.

Wir haben durch das 9-Euro-Ticket sehr schön gesehen, auf welchen Hauptachsen die Kapazitäten fehlen, wo man das Angebot ausbauen muss. Und wir brauchen im ländlichen Raum auch eine Angebotsoffensive. Die gibt es in Brandenburg teilweise auch schon, durch diese Plus-Bus-Angebote, die wir beispielsweise im Raum Potsdam-Mittelmark haben. Das sind dann attraktive Busverkehre auf den Hauptachsen, die eine Rückgrat-Funktion für das ÖPNV-Netz haben. Das muss dann noch durch Angebote für die letzte Meile ergänzt werden.

Was würden Sie zu bedenken geben, wenn es um ein langfristiges Nachfolgemodell geht, das den Grundgedanken des 9-Euro-Tickets aufgreift?

Wir haben durch das 9-Euro-Ticket eine Diskussionsverschiebung in Richtung Preis bekommen – und die Einfachheit des Tarifs. Mir scheint, dadurch hat man den Blick auf die Qualität etwas verloren.

Gleichwohl brauchen wir einen Tarif, der möglichst einfach, leicht verständlich ist - und wettbewerbsfähig zu den empfundenen Kosten des privaten Pkw. Ich will mich da auf keinen Betrag festlegen, aber um uns nochmal in Erinnerung zu rufen: Für Berlin AB kostet die Jahreskarte bei jährlicher Abbuchung 728 Euro, Berlin ABC kostet 978 Euro.

Nach Angaben des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen liegen die Fahrgeldeinnahmen ungefähr bei 13 Milliarden Euro - 2018, also vor der Coronavirus-Pandemie. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Tickets machten ungefähr 50 Prozent der ÖPNV-Finanzierung aus.

ÖPNV-Experiment

Templin zeigt mit 44-Euro-Jahreskarte, wie günstiger Stadtverkehr geht

Von wegen 365-Euro-Ticket: Vor 25 Jahren wurden in Templin die Busfahrten kostenlos, inzwischen kostet eine Jahreskarte nur 44 Euro. Ein Beispiel für andere Städte, sagt der Templiner Bürgermeister. Doch umsonst ist das nicht.

Wir haben also eine sehr wesentliche Säule in der Nutzerfinanzierung. Und wenn man einen günstigeren und sehr einfachen Tarif einführen möchte, der sozusagen dann in einem großen Raum eine Flatrate wäre, muss man sich natürlich über die Gegenfinanzierung Gedanken machen.

Wie könnte so eine Gegenfinanzierung aussehen?

Natürlich kommt da auch der Abbau umweltschädlicher Subventionen in den Blick. Wenn man zum Beispiel das sogenannte Dienstwagenprivileg* abbauen würde, würde das einen Betrag von drei Milliarden Euro einbringen. Das wäre dann ein Baustein für die Verkehrswende, wie wir sie in der Wissenschaft immer wieder fordern: dass man die Nutzung des umweltschädlicheren Fahrzeugs weniger attraktiv macht und die Nutzung eines umweltverträglicheren Verkehrsmittels attraktiver.

Wenn man einen günstigeren Tarif gegenüber dem heutigen Tarifniveau haben möchte, muss man einerseits Fahrgeldausfälle kompensieren, braucht mehr Geld für ein besseres Angebot und auch mehr Mittel für den Infrastrukturausbau. Denn ohne den wird es ja auch nicht gehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Thomas Rautenberg, rbb24-Inforadio

* [Das Dienstwagenprivileg ist ein steuerlicher Vorteil bei der privaten Nutzung von Firmenfahrzeugen. Dabei liegt die Besteuerung meist bei nur einem Prozent des sogenannten Bruttolistenpreises für das Fahrzeug. Besonders Vielfahrer profitieren davon. Die Anschaffungskosten für den Dienstwagen können von den Firmen darüber hinaus steuerlich abgesetzt werden. Anm. d. Red.]

Sendung: rbb24-Inforadio, 29.08.2022, 06:30 Uhr

Artikel im mobilen Angebot lesen