Neues Chancenaufenthaltsrecht - Der Ausweg aus den Kettenduldungen

So 15.01.23 | 08:27 Uhr | Von Anna Corves
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Ein Ausweis der Bundesrepublik Deutschland eines Asylbewerbers mit dem Vermerk "Aussetzung der Abschiebung (Duldung) - Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!" (Quelle: dpa/Patrick Pleul)
Audio: rbb24 Inforadio | 11.01.2023 | Anna Corves | Bild: dpa/Patrick Pleul

Viele Tausend Menschen leben seit Jahren nur geduldet in Deutschland. Sie sind ausreisepflichtig, es sprechen aber Gründe gegen die Abschiebung. Rechte haben Geduldete in Deutschland kaum. Mit dem neuen Aufenthaltsrecht bekommen sie eine Chance. Von Anna Corves

Hadi-Hashim Rozhbayani faltet ein rosarotgrünes Ausweispapier auseinander. 'Aussetzung der Abschiebung' steht ganz oben, 'Duldung, Kein Aufenthaltstitel!' darunter. Ein breiter roter Balken streicht den Ausweis von links oben nach rechts unten quasi durch. Der 51-Jährige seufzt, er schämt sich: "Wenn jemand diesen roten Balken sieht, könnte er denken: Dieser Mann ist nicht gut, hat vielleicht was verbrochen. Aber ich habe keine Probleme mit der Polizei. Ich lebe ein ruhiges Leben."

Hadi-Hashim Rozhbayani in seiner Weddinger Wohnung. (Quelle: rbb/Anna Corves)
Hadi-Hashim Rozhbayani | Bild: rbb/Anna Corves

Hadi-Hashim Rozhbayani ist Kurde aus dem Irak. Mit seiner Frau Bekhal kam er 2017 nach Berlin, hier wurde Abdullah geboren, ihr einziges Kind. Der Zweijährige spielt im Wohnzimmer der kleinen Weddinger Wohnung, während seine Mutter Süßigkeiten und Kaffee auftischt. Der Asylantrag der Rozhbayanis wurde abgelehnt. Sie gelten als ausreisepflichtig, aber ihre Abschiebung wurde und wird ausgesetzt. Das bedeutet "Duldung" juristisch. Emotional bedeutet sie für Hadi-Hashim Rozhbayani: "Ich habe immer Angst, dass die Polizei kommt und sagt: Bitte ab zum Flughafen und zurück. Vielleicht kommt sie heute? Vielleicht morgen?"

Sicherheit für 18 Monate

Praktisch bedeutet Duldung, dass die Menschen ein Leben führen, bei dem seit Jahren die Pausentaste gedrückt ist: Die meisten dürfen nicht arbeiten, ihr Bewegungsradius ist begrenzt, sie müssen regelmäßig die Verlängerung ihrer Duldung beantragen. Hadi-Hashim Rozhbayani hat getan, was ging: Sprachkurse belegt, den Integrationskurs absolviert. "Deutschland ist ein gutes, ein sicheres Land für meine Familie." Deswegen setzt er jetzt seine ganze Hoffnung auf das neue Chancenaufenthaltsrecht. Frühestmöglich, am 2. Januar, hat er den Antrag bei der Berliner Ausländerbehörde gestellt.

Wird Rozhbayani das Chancenaufenthaltsrecht erteilt, heißt das: Seine Familie bekommt eine Aufenthaltserlaubnis, wäre vor Abschiebung geschützt. Jedenfalls für 18 Monate.

"Nur eine Mini-Amnestie"

Nur wenige Minuten von Rozhbayanis Wohnung entfernt, kämpft Nicolas Chevreux in seinem kleinen Büro gegen die Übermacht der Akten. Er arbeitet als Asyl- und Aufenthaltsberater für die Arbeiterwohlfahrt. Der Großteil seiner Klienten hat nur eine Duldung. Dass Deutschland sie nicht abschiebt, kann viele Gründe haben, erklärt Chevreux: "Vielleicht fehlt der Reisepass, vielleicht nimmt das Heimatland sie nicht zurück. Vielleicht verhindert es die aktuelle Lage vor Ort, wie etwa in Afghanistan."

Geduldeten, die vor dem Stichtag 31. Oktober 2017 nach Deutschland gekommen sind, soll das Chancenaufenthaltsrecht einen Weg aus den Kettenduldungen eröffnen. Bundesweit kommen dafür etwa 140.000 Menschen infrage, in Berlin rund 7.500. Das sei ein guter Versuch der Bundesregierung, findet Asylberater Chevreux. "Aber es ist nur eine Mini-Annestie. Es ist ja keineswegs so, dass alle bleiben dürfen."

Die Sachbearbeiter haben großen Ermessensspielraum und nutzen den auch sehr unterschiedlich

Asylberater Nicolas Cevreux

Letztlich entscheidet der Sachbearbeiter

Der Chancenaufenthalt gilt nur für 18 Monate. In dieser Zeit müssen die Menschen mehrere Hürden nehmen - dann erhalten sie ein dauerhaftes Bleiberecht. Andernfalls fallen sie zurück in die Duldung. Die Auflagen sind: keine schwerwiegenden strafrechtlichen Verurteilungen. Deutschkenntnisse auf Niveau A2. Und: der eindeutige Nachweis ihrer Identität. Daran könnten viele Geduldete scheitern, befürchtet Nicolas Chevreux. Jene ohne Reisepass. "Man spricht immer von denen, die keinen Reisepass besorgen wollen. Ich habe Hunderte Klienten, die gerne einen Reisepass hätten, aber keinen kriegen." Weil der Herkunftsstaat beispielsweise keine Botschaft in Deutschland hat oder nicht kooperiert.

Nicolas Chevreux, Asylberater bei der Arbeiterwohlfahrt. (Quelle: rbb/Anna Corves)
Nicolas Chevreux | Bild: rbb/Anna Corves

Um dem Rechnung zu tragen, kann die Ausländerbehörde von der Vorlage des Passes absehen. Wenn der Antragssteller nachweisen kann, alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung getroffen zu haben. Darüber entscheiden die Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde. Nicolas Chevreux findet das problematisch: "Die Sachbearbeiter haben großen Ermessensspielraum und nutzen den auch sehr unterschiedlich", sagt Nicolas Chevreux. Ein Risiko für Geduldete, die hoffen, sich über den Chancenaufenthalt ein Bleiberecht erarbeiten zu können.

Bedingung für Erfolg: Vertrauen

Denn das ist eine weitere Bedingung: Sie müssen ihren Lebensunterhalt überwiegend sichern können, also ein zuverlässiges Einkommen haben, das etwa 51 Prozent von Bürgergeld plus Miete entspricht. Wer den Chancenaufenthalt bekommt, darf arbeiten. Trotzdem wird der Lebensunterhalt eine hohe Hürde sein, sagt Engelhard Mazanke. Er leitet die Berliner Ausländerbehörde. "Ich höre von vielen Betrieben, dass ihnen das Risiko zu hoch ist, jemanden einzustellen, einzuarbeiten – und dann vielleicht wieder zu verlieren, weil der Ausländerbehörde der Pass fehlt."

Dass Deutschland Menschen nur eine Chance auf ein Bleiberecht gibt, sei ein Novum, betont Mazanke. Die Flüchtlinge aus der Ukraine etwa hätten direkt ein Aufenthaltsrecht mit Arbeitserlaubnis erhalten. Das Chancenaufenthaltsrecht solle den Zugewanderten der Jahre 2015/2016 nachträglich eine Perspektive bieten. Ob das gelingen wird? "Da wage ich ehrlich gesagt keine Prognose", sagt Mazanke. "Das hängt maßgeblich davon ab, ob Vertrauen entsteht."

Vertrauen bei potentiellen Arbeitgebern. Vertrauen bei denen, die es beantragen. Hadi-Hashim Rozhbayani hat Vertrauen. Er ist ausgebildeter Krankenpfleger, hat im Irak 15 Jahre in diesem Beruf gearbeitet. In Deutschland würde er gerne im Pflegeheim arbeiten. "Ich will hart arbeiten, Geld verdienen." Er ist optimistisch, dass er alle Auflagen des Chancenaufenthaltsrechts erfüllen wird. Zurück in die Duldung zu fallen - das wäre schrecklich, sagt er und blickt auf seinen zweijährigen Sohn, einen gebürtigen Berliner. Auch den Ausweis des kleinen Abdullah quert ein breiter roter Balken: Nur geduldet, Ausreisepflicht.

Sendung: rbb24 Inforadio, 11.01.2023, 9:25 Uhr

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Beitrag von Anna Corves

38 Kommentare

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  1. 38.

    Vadim wurde trotz noch nicht abgeschlossener Ausbildung abgeschoben. Dadurch hatte er auch in seinem Ursprungsland keine Perspektive. Auch dort wurde er übrigens als „Ausländer“ betrachtet.

  2. 37.

    @Bern Sie haben sicher recht, Das ist mir ja auch durchaus bewusst. Wie Sie schon sagen: eine Fortbildung machen lassen, die Kenntnisse an den deutschen Arbeitsmarkt anpassen und wir haben einen dringend benötigten Mitarbeiter mehr!
    Es sind doch genau die Leute, die wir suchen.

  3. 36.

    Ihre Behauptung ist falsch. Geduldete können eine Arbeitserlaubnis beantragen. Es wird dann von Amts wegen entschieden, ob diese erteilt wird. Es kann gute Gründe geben, diese zu verweigern, eine generelle Ablehnung erfolgt jedoch nicht.

  4. 35.

    Nun die "Unsicherheit" ist der Wesensbestandteil einer Duldung - "Abwarten" ist da größter Fehler den man machen kann.
    Da dieser aber - wie 17. zu entnehmen - "sein ganzes Leben in Deutschland verbracht und hier fast wie ein einheimischerJugendlicher gelebt." hat, bestand lange die Möglichkeit sich darauf vorzubereiten.
    Entweder durch Vorbereitung der "Rückkehr" oder man kümmert sich vorzeitig um ein Arbeitsvisum, ein Ausbildungsvisum oder ein Studienvisum.
    Link: https://www.axa-schengen.com/de/schengen-visum/visum-deutschland-ausbildung
    "Abwarten" ist der GRÖßTE Fehler!

  5. 34.

    Sie sind kein deutscher Staatsangehöriger und wollen dem deutschen Staat erklären wie er zu handeln hat?
    Wo sind wir hier eigentlich gelandet, in letzter Zeit werden immer skurillere Stimmen laut.
    Alle Kriminelle, alle Sozialleistungsempfänger abschieben? Sag mal geht's noch?
    Natürlich muss was passieren in diesem Land, aber ich bin froh, dass Sie im Endeffekt nichts zu melden haben.

  6. 33.

    Hier, ein Schelm der denkt, was er einem Anderen unterstellt.

  7. 32.

    "... reine Sozialleistungsempfänger, die gegen unsere Gemeinschaft und des Staat arbeiten, gehören hingegen sofort abgeschoben."

    Inwiefern tut ein Sozialleistungsempfänger (mit anderer Staatsangehörigkeit) genau das?

    Wie lautet die Rechtsgrundlage Ihrer Forderung?

    Hätten Sie den Artikel gelesen, wüssten Sie, dass "Geduldete" meist nicht arbeiten dürfen. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie "Geduldeten" also grundsätzlich das Recht auf Arbeit einräumen würden?

  8. 31.

    Haben die vor dem 31.10.2017 Geduldeten nicht bereits seit vielen Jahren von der Ausländerbehörde einen Ausweis mit persönlichem Passbild erhalten, der über ihre IDENTITÄT eindeutig Auskunft gibt?

    Liegt hier, wie der Asylberater N. Chevreux befürchtet, für den Sachbearbeiter der Ausländerbehörde tatsächlich ein „großer Ermessensspielraum“ vor?

  9. 30.

    Vadim wurde als Volljähriger von heute auf morgen abgeschoben! Das ist gängige Praxis.

  10. 29.

    Es geht nur über Bildung, Sprachkenntnisse und Arbeit. Niemand sollte hier abgeschoben, wenn er arbeitet, Steuern und Sozialabgaben ordnungsgemäss zahlt, schließlich haben wir Arbeitskräftemangel. Kriminelle und reine Sozialleistungsempfänger, die gegen unsere Gemeinschaft und des Staat arbeiten, gehören hingegen sofort abgeschoben. Bin übrigens selbst nicht Deutscher Staatsangehöriger.

  11. 28.

    Es geht aber nicht um Asyl, sondern um ein Studenten-/Arbeitsvisum für den Sohn.
    Das sind zwei verschiedene Sachen.
    Aufenthalts- und Arbeitsrecht gehen bei so einem Visum "Hand in Hand".
    Link: https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/fragenkatalog-node/08-studentenvisum/606218
    Link: https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/fragenkatalog-node/07-arbeitsvisum/606484
    Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitserlaubnis

  12. 27.

    Danke für die Hinweise, noch ergänzend: die Mutter starb wenige Jahre nach Vadims Tod, der Vater musste dauerhaft in der Psychiatrie untergebracht werden. Nur der jüngere Bruder blieb übrig - nach diesem Behördendesaster konnte er bleiben, machte eine Ausbildung, lebt in HH. Welche Narben das Ganze geschlagen haben muss, kann man sich kaum ausmalen.

  13. 26.

    Die Familie stellte einen Asylantrag, das Verfahren müdete in eine Kettenduldung.

  14. 24.

    Steht im Bericht: mit einer Duldung darf man i. d. R. nicht arbeiten. Das ist ja das, neben der drohenden Abschiebung, so Belastende. Das neue Gesetz erst erlaubt dies unter Umständen. Lesen hilft, Ressentiments eher nicht.

  15. 23.

    Mit seiner jetzigen Duldung bekommt er keine Arbeitserlaubnis. Er muss also von staatlicher Hilfe leben, obwohl er lieber arbeiten würde. Die neue Regelung soll das ändern und den Geduldeten ermöglichen, eine Arbeit aufzunehmen. Aber wie im Artikel aufgeführt, werden sich viele Arbeitgeber schwer damit tun, jemanden anzustellen, bei dem nicht sicher ist, ob er länger als 18 Monate bleiben darf. Als ich selbst vor Jahrzehnten im Ausland arbeitete, bekam ich eine Arbeitserlaubnis, weil mein Arbeitgeber mich aufgrund meiner Kenntnisse beim Arbeitsamt angefordert hatte. Und mit der Arbeitserlaubnis war auch die Aufenthaltserlaubnis verbunden. Mit so einer Regelung könnte man viel vereinfachen.

  16. 22.

    Wie wäre es mal mit Menschlichkeit? Ein Mensch ist keine Sache. Punkt.

  17. 21.

    Wie wäre es mal mit Menschlichkeit? Ein Mensch ist keine Sache. Punkt.

  18. 20.

    Das zeigt nur, wohin Unsachlichkeit - trauriger Weise - führen kann.
    Wie schon bei dem Artikel mit dem afrikanischen Studierenden der aus der Ukraine kam und für den die Visa-Regelung auslief (was wurde eigetnlich daraus?) frage ich mich, warum sich dann nicht rechtzeitig um neue Visa gekümmert wurde?
    Lang genug Zeit war ja und bei der "guten Integration" dürfte es dann wohl möglich sein.

  19. 19.

    In Mexiko ist dies ein Studium, hier nicht. Es gibt sehr viele Länder, in denen der Bildungs-u. Ausbildungsgrad höher liegen muss, wenn PISA stimmt. Sie haben dann recht, wenn eine ausländische Ausbildung hier den Anforderungen nicht genügt. Wenn aber Pfleger, Ärzte, Lehrer diskriminierende Prüfungen kostenpflichtig machen müssen, nur weil man hierzulande Löhne und Rentenpunkte sparen will, dann ist das entwürdigend. Da fällt mir, losgelöst von Nationalitäten ein: Worin sehen Sie die Ursachen für Unzufriedenheit in den NBL? Die Chancen vielleicht?

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