rbb24
  1. rbb|24
  2. Politik
Quelle: imago/photothek

Kinder aus armen Familien

Wenn Home-Schooling zu knurrenden Mägen führt

Die Berliner Schulen sind zu. Für viele Kinder aus armen Familien bedeutet das: Bis Mitte Februar bekommen sie kein kostenloses Mittagessen, das ihnen eigentlich zusteht. Berlin hat dafür keine Regelung - andere Städte schon. Von Sebastian Schöbel und Sabine Prieß

Michael Müller ließ erschöpft den Kopf nach vorne sacken und starrte einige Sekunden auf den blank polierten Holztisch. Zuvor hatte der Regierende Bürgermeister wieder einmal die Frage beantworten müssen, wann Berlins Schulen in den normalen Unterricht zurückkehren können.

"Ich sehe das für uns in den nächsten vierzehn Tagen nicht", sagte Müller, nachdem der Senat am Mittwochabend die Verlängerung des Lockdowns beschlossen hatte. Anfang Februar stünden dann ohnehin die einwöchigen Winterferien an, so Müller weiter. "Insofern gehe ich davon aus, dass man frühestens ab dem 8. Februar darüber diskutieren kann, ob und wie man in einen schrittweisen Präsenzunterricht einsteigen kann." Sprich: Vor dem 14. Februar ist daran wohl nicht zu denken.

Mehr zum Thema

Schulen und Kitas geschlossen

Potsdam plant kostenlose Essenslieferung für Kinder

Diakonie fordert Kostenausgleich

Damit müssen viele der rund 177.000 Berliner Grundschüler nicht nur auf normalen Unterricht, sondern auch auf kostenlose Mittagessen verzichten, das ihnen laut Schulgesetz zusteht. Vor allem für Kinder aus einkommensschwachen Familien ist das ein großes Problem: Für sie war es bislang nicht selten die einzige warme Mahlzeit des Tages.

Die Diakonie hatte bereits Anfang Januar einen finanziellen Ausgleich für Kinder aus einkommensschwachen Familien gefordert, wenn das kostenlose Mittagessen in der Schule ausfällt. "Kinder, die in Armut leben, müssen auch dann zu Mittag essen, wenn sie im Lockdown nicht in der Schule sind und zu Hause lernen", sagte Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland.

Catering-Unternehmen können nicht liefern

Von der Essenslieferung nach Hause, die Bundesarbeitsminister Hubertus Heil noch im April 2020 in Aussicht gestellt hatte, sei nichts zu sehen, so Lohheide. "Die Regelung geht völlig an der Realität vorbei. Kein Schul-Caterer beliefert Kinder einzeln zu Hause."

Eine Befürchtung, die Rolf Hoppe, Geschäftsführer des Berliner Schulcaterers Luna, auf rbb|24-Nachfrage bestätigt. Die Unternehmen seien für den Lieferbetrieb nach Hause nicht ausgelegt. Zudem koste das pro Lieferadresse "15 bis 20 Euro", so Hoppe. Vom Land Berlin würden pro Schulessen jedoch nur vier Euro bezahlt. Er schlägt vor, das Essen an den Schulen zentral auszugeben, zum Beispiel auf dem Schulhof unter Beachtung der Hygiene- und Abstandsregeln.

Mehr zum Thema

Sechs Proben positiv

Weitere Fälle der britischen Corona-Mutation in Berlin entdeckt

Nur Mittagessen in Notbetreuung

Eine einheitliche Lösung gibt es bislang nicht, wie eine Abfrage von rbb|24 bei allen Schulämtern und der Senatsverwaltung für Bildung zeigt: Zwar laufen die Verträge mit den Cateringunternehmen weiter wie gehabt, die Anbieter dürfen täglich pro belieferter Schule mindestens 50 Essen in Rechnung stellen, unabhängig davon, wie viele gebraucht werden. Zudem sei laut den Bezirken die Mittagsversorgung in der Notbetreuung überall sichergestellt.

Doch was - und ob - die Kinder im Heimunterricht essen, ist unklar. Man habe dazu keine Erkenntnisse, teilte ein Sprecher des Schulamtes in Neukölln auf Nachfrage mit. "Auch wenn wir es wüssten, wäre eine Versorgung außerhalb der Notbetreuung schwierig." Die Senatsverwaltung für Bildung wiederum sieht die Bezirke in der Pflicht, Abhilfe zu schaffen. "Die Stadträte haben sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen", so ein Sprecher des Senats.

Senat verweist auf Bezirke - und erntet Kritik

Tatsächlich wurden die Berliner Schulleitungen am 12. Januar schriftlich von der Senatsbildungsverwaltung aufgefordert, "gemeinsam mit den Schulträgern und Caterern kreative Lösungen für eine Mittagessenversorgung all jener Grundschüler/innen zu entwickeln, die nicht notbetreut werden", bestätigen mehrere Schulämter, darunter auch eine Sprecherin der Spandauer Schulverwaltung. "Diese Aufforderung ist jedoch in den Berliner Bezirken auf kollektives Unverständnis gestoßen."

Es sei "völlig fragwürdig, wie so eine Versorgung organisatorisch aussehen könnte". Eine zentrale Mittagessenausgabe sei mit Blick auf die Kontaktbeschränkungen nicht möglich. Eine Direkt-Auslieferung von Mittagessen an die Privathaushalte wiederum sehe man "ebenfalls äußerst kritisch", so das Spandauer Schulamt.

Mehr zum Thema

Interview | Sozialarbeiterin Claudia Chmel

"Corona hat die Probleme von Alleinerziehenden deutlich verschärft"

Kritik am Vorstoß der Senatsverwaltung kommt auch von Cornelia Flader, Schulstadträtin in Treptow-Köpenick: Dieser sei nicht mit den Bezirken abgesprochen gewesen. In ihrem Bezirk würden einige Schulen bedürftigen Kindern die Teilnahme am Mittagessen ermöglichen, auch jenseits der Notbetreuung. "Es handelt sich aber um eine sehr kleine Zahl von 2-3, im Einzelfall auch 10 Schülerinnen und Schüler." Allerdings sei das nicht überall möglich, vor allem wegen beengter Essensräume. Flader weist zudem darauf hin, dass Notbetreuung auch beantragt werden könne, wenn daheim die Essensversorgung nicht sichergestellt sei. Allerdings: "Eltern, die Sozialleistungen beziehen, darf nicht per se unterstellt werden, dass sie ihre Kinder nicht ausreichend verpflegen."

Ausgabe von Lunchboxen

In der Zwischenzeit helfen sich die Schulen selbst. Das Schulamt Pankow erklärt auf rbb|24-Nachfrage, man prüfe derzeit mit den Schulleitungen Lösungen für individuelle Härtefälle. So sei es zum Beispiel denkbar, dass bedürftige Familien ohne Anspruch auf Notbetreuung das Mittagessen für ihre Kinder in der Schule abholen. "Während der 1. Welle wurden hier in Pankow solche Lösungen in Absprache mit den Caterern und der Lebensmittelaufsicht umgesetzt."

 

Mehr zum Thema

#Wiegehtesuns? | Mitglied der Schulleitung

"Wir sitzen hier mit einem Organisations-Chaos"

Andere Städte machen vor, dass es geht

Dass es machbar ist, die Kinder mit Anspruch auch außerhalb der Schulen mit warmem Essen zu versorgen, zeigen derweil andere - zugegeben kleinere - Städte in der Republik.

Pragmatisch gelöst hatte die Essensfrage für bedürftige Kinder beispielsweise schon im ersten Lockdown die brandenburgische Hauptstadt Potsdam. Die Stadtverwaltung hatte dazu mit der Tafel und der Arche einen Lieferdienst für die etwa 2.500 betroffenen Kinder eingerichtet. Dieser Dienst soll auch jetzt wieder aufgelegt werden.

Die Stadt Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) bietet bedürftigen Familien schon seit Ende November eine Lebensmittellieferung an, falls die Möglichkeit der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung in der Schule oder Kita wegen Corona wegfällt. Angeboten werden zum Beispiel Nudeln, Reis, Gemüse, Obst, Milch und Eier. Es besteht außerdem die Möglichkeit, vorgefertigte Pakete inklusive Rezepten zu erhalten.

Auch Leipzig (Sachsen) zeigt, dass es möglich ist: Die Stadt hat mehrere Catering-Unternehmen dafür gewinnen können, warmes Mittagessen direkt an die betroffenen Familien auszuliefern [mdr.de].

CDU schlägt Essensgutscheine für lokale Gastronomie vor

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Pascal Kober forderte bereits Anfang Januar, Kinder bedürftiger Familien mit einer Zahlung von Essensgeld zu unterstützen. "Benachteiligte Kinder dürfen in der Pandemie durch Schulschließungen nicht unter das Existenzminimum fallen", sagte der sozialpolitische Sprecher der FDP-Fraktion. Es müsse dafür gesorgt werden, dass der Betrag für das Schulessen bei Kindern in der Grundsicherung ankomme - und das möglichst unbürokratisch.

Für Berlin schlägt nun der CDU-Abgeordnete Dirk Stettner einen anderen Weg vor: Er will das Schulessen im Heimunterricht mit der Wirtschaftshilfe für Berlins leidende Gastronomie verknüpfen. Statt die Mahlzeiten einzeln zu Schülern nach Hause zu liefern, fordert Stettner die Ausgabe von Essensgutscheinen an bedürftige Familien. "Mit denen können sie sich dann bei lokalen Gastronomen versorgen." Die Kosten würden nicht sehr viel höher liegen als bei den bisher üblichen Preisen für Schulessen. "Es gibt Inder oder Italiener, die eine Mahlzeit schon für fünf Euro anbieten können", so Stettner.

Artikel im mobilen Angebot lesen