Interview | Sozialarbeiterin Claudia Chmel - "Corona hat die Probleme von Alleinerziehenden deutlich verschärft"

Do 10.12.20 | 15:02 Uhr
Ein Mädchen und ihre Mutter kaufen auf einem Wochenmarkt ein (Bild: dpa/Mascha Brichta)
Bild: dpa/Mascha Brichta

Alleinerziehende müssen viele Bälle jonglieren, sagt Claudia Chmel vom Berliner Landesverband alleinerziehender Mütter und Väter. Corona hat die Situation nicht verbessert. Im Gegenteil. Wenn Alleinerziehende erkranken, wird es besonders bedrohlich.

rbb|24: Frau Chmel, wer genau gilt eigentlich als alleinerziehend? Nur die, wo der zweite Elternteil wirklich absent ist oder auch diejenigen Paare, die sich getrennt haben und gemeinsam in etwa gleichen Anteilen um ihre Kinder kümmern?

Claudia Chmel: Die konkreten Lebenssituationen von Alleinerziehenden sind sehr unterschiedlich. In der Regel ist es so, dass die Hauptverantwortung bei einem Elternteil liegt und das oder die Kinder auch vor allem bei diesem lebt. Der Mikrozensus, die statistische Erhebung also, zählt die Alleinerziehenden, indem geschaut wird, wie sie gemeldet sind. Eine erwachsene Person, die mit Kind oder Kindern in einem Haushalt gemeldet ist, gilt da als alleinerziehend. Den Hauptwohnsitz kann ein Kind ja nur an einer Stelle haben.

Alleinerziehende leben wirklich sehr heterogen. Da gibt es die Mütter, die ganz allein in Berlin sitzen und wo der Rest der Familie im Ausland ist oder es gar keinen Kontakt gibt. Es gibt viele, wo sich der Kindsvater überhaupt nicht um das Kind kümmert. Sie haben gar keine Entlastung – diese Mütter müssen alles alleine machen. Aber es gibt natürlich auch Eltern, die sich trennen und danach gemeinsam verantwortlich für ihre Kinder handeln. Doch das ist eher selten. Ich habe nur eine Statistik von 2014/15 vorliegen. Da ist es so, dass 23 Prozent der Kinder gar keinen Kontakt zum Vater hatten. 36 Prozent hatten selten Kontakt zum Vater. Die Hälfte hat also seltenen oder null Kontakt zum Vater. Nur 25 Prozent haben wöchentlich oder öfter Kontakt. Das wirklich symmetrische Wechselmodell haben damals nur vier gelebt. Da würde ich denken, dass es heute bei etwa zehn Prozent liegt.

Wo immer von fehlendem Kontakt zum Kindsvater gesprochen wird: Sind es wirklich so oft die Mütter, bei denen die Kinder leben?

Ja. Etwa 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter.

Viele alleinerziehende Eltern, vor allem diejenigen, die nicht das Wechselmodell leben, sind ja auch ohne Pandemie an ihrer Belastungsgrenze.

Das ist so. Ich vergleiche das immer mit jemandem, der Bälle jongliert. Wenn man mit Kindern alles alleine macht, sind sehr viele Bälle im Spiel. Es kommt natürlich auch darauf an, wie viel Erfahrung im Eltern-sein jemand hat und wie viele Kinder sie oder er hat und in welchem Alter diese sind. Wichtig ist auch, wie viel Zeit jemand für die Kinder zur Verfügung hat. Wie viele Stunden jemand also täglich erwerbstätig sein kann oder muss. Und auch darauf, wie viel Unterstützung jemand hat.

Man muss viel organisieren. Auch die Vereinbarkeit mit dem Beruf ist ein großes Thema. Aber auch die finanzielle Belastung ist meist recht hoch. Das, was man in einer etwaigen Paarbeziehung vor einer Trennung an gemeinsamen Einkommen hatte, verändert sich. Viele konnten sich ihren Lebensstandard vorher gut leisten. Doch wenn man sich trennt, steigen die Kosten. Man braucht zwei Wohnungen mit möglicherweise Wohnraum für die Kinder in beiden. Pro Haushalt gibt es dann weniger Einkommen – aber höhere Kosten.

Inwieweit hat die Corona-Zeit das alles noch einmal verschärft?

Sicherlich ist Corona für alle Familien herausfordernd. Wir haben an den Anfragen hier bei uns aber erlebt, dass sich die Probleme der Einelternfamilien deutlich verschärft haben. Sie waren existenzieller. Gerade im Frühjahr war der Wegfall der staatlichen Kinderbetreuung ein sehr großer Einschnitt. Gleichzeitig durfte man ja keine privaten Kontakte mehr haben – also war auch das Netzwerk, das sich viele Alleinerziehende aufgebaut haben, nicht mehr verfügbar. Großeltern, Freunde und Nachbarn, die manchmal einspringen in der Kinderbetreuung, konnten ja auch nicht mehr genutzt werden. Das war für viele Alleinerziehende, die nun plötzlich komplett auf sich alleine gestellt waren, sehr bedrohlich.

Das Szenario könnte sich ja wiederholen. Was ist denn eigentlich, wenn eine alleinerziehende Mutter, wo es gar keinen Kontakt zum Vater gibt, Corona bekommt und ins Krankenhaus muss? In Essen wurden für dieses Setting neulich Pflegeeltern gesucht.

Das ist ein ganz wichtiges Thema und es gibt leider keine gute Lösung dafür. Also keine, die sich gut anfühlt. Das ist ja bei der Erkrankung alleinerziehender Eltern immer so. Manchmal ist die Situation etwas besser planbar – also wenn jemand ins Krankenhaus muss. Da greift dann im Normalfall oft das private Unterstützungsnetz. Jetzt durch die Pandemie-Situation und die vielen Ängste, die vorherrschen und die ja auch mögliche Betreuungspersonen, die vielleicht zur Risikogruppe gehören, haben können, ist es sehr viel schwieriger.

Wer erkrankt und sich nicht so gut um sein Kind kümmern kann, kann normalerweise eine Unterstützung durch die Krankenkasse bekommen. Da kommt jemand in den Haushalt und hilft. Wenn das nicht ausreicht, kann man sich ans Jugendamt wenden. Dort kann man eine Pflegestelle für seine Kinder bekommen. Das ist aber in der Regel keine Lösung, die sich für die betroffenen Eltern gut anfühlt. Denn das Kind müsste ja, wenn das alles sehr schnell geht mit der Verschlechterung des Zustands der Bezugsperson, sehr schnell dorthin. Was bedeutet, dass die Eltern – anders bei der Haushaltshilfe, die vielleicht auch das Kind wickelt zuhause und man ist dabei und bekommt alles mit - nichts mitkriegen und sich vollkommen darauf verlassen müssen, dass sich Fremde gut um das eigene Kind kümmern.

Aber da gibt es leider keine guten alternativen Lösungen. Wir empfehlen Alleinerziehenden, sich auch auf solche Situationen vorzubereiten und den Kindern kindgerecht erklären, was in einem solchen Fall passiert. Um ihnen zu sagen, dass es Lösungen gibt und sie in einem solchen Fall nicht allein gelassen werden. Alleinerziehende können auch vorab festlegen, wer Regelungen für das Kind treffen und wer als bekannte Bezugsperson ansprechbar bleiben könnte. Das geht ja sogar per Telefon. Das können auch die Eltern von Spielkameraden sein.

Die #Coronaeltern twittern derzeit vielfach, dass sie ihre mentalen Ressourcen seit dem ersten Lockdown noch gar nicht wieder auffüllen konnten. Wie steht es da denn um die Verfassung der Alleinerziehenden? Konnten da viele im Sommer wieder auftanken oder kommen viele einfach sowieso besser klar, weil sie immer mit knappen Ressourcen umgehen müssen?

Das glaube ich nicht. Es ist so, dass der psychische Druck auch ohne Corona schon enorm auf Alleinerziehenden lastet. Das hängt auch mit dem gesellschaftlichen Druck und dem eigenen Anspruch an sich als Elternteil zusammen. Die meisten wollen trotz ihrer Situation gute Eltern sein, müssen mit wenig Geld auskommen und wollen ihren Kindern trotzdem viel ermöglichen.

Corona kommt da noch on top und bringt größere Sorgen in die Familien. Das haben alle. Aber es macht etwas aus, wenn ich sowieso an den Grenzen des Möglichen bin. Corona zieht denjenigen, die an ihrer Belastungsgrenze sind, die Füße noch ein bisschen mehr weg. Es ist für Alleinerziehende eine in jeder Hinsicht große Herausforderung. Denn sie müssen ja auch nicht nur ihre Ängste gut im Griff haben, sondern sich auch um die ihrer Kinder kümmern.

Außerdem verlieren auch viele Alleinerziehende – die oft sogar Zweitjobs haben – durch Corona ihre Arbeit. Das haben wir in den Beratungen hier immer wieder erlebt. Viele Alleinerziehende sind auch in Kurzarbeit jetzt. Und sie haben ja oft ohnehin meist kein hohes Familieneinkommen. Das macht sich bemerkbar. Denn durch den Lockdown sind schon Mehrkosten entstanden und jetzt im Anschluss sind die Lebensmittel teurer geworden. Viele Alleinerziehende hatten dann mit dem Kinderbonus die Hoffnung verbunden, sich einmal etwas Besonderes gönnen zu können. Da waren viele enttäuscht, dass der Bonus nicht unbedingt da ankam, wo sie mit dem Kind leben. Denn das Ministerium hatte ja entschieden, dass der andere Elternteil, sofern er den Mindestunterhalt zahlt, die Hälfte davon bekommt.

Die Armutsgefährdung für Personen in alleinerziehenden Haushalten lag 2016 bei 33 Prozent – im Schnitt liegt sie bei 16 Prozent. Statistisch ist zu befürchten, dass Corona mehr Alleinerziehende in die Armut treibt.

Welche besonderen Herausforderungen für Alleinerziehende gibt es in der Corona-Zeit noch?

Auch Home-Office und Home-Schooling sind für Alleinerziehende echte Herausforderungen. Etwa die Hälfte hat kein eigenes Zimmer, um in Ruhe zuhause zu arbeiten. Und was das Homeschooling betrifft: viele haben durchaus einen Computer, aber eher nicht zwei. Wer also gleichzeitig selbst arbeiten muss oder mehrere Kinder hat, steht vor Problemen.

Was sollte von politischer Seite aus besser laufen?

Ich glaube, es ist wichtig zu sehen, was Familien - eben auch Einelternfamilien - leisten. Und dass die Unterstützung noch viel besser werden müsste. Gerade die Familienleistungen müssten noch viel genauer abgestimmt werden. Die Erhöhung des Kindergelds beispielsweise kommt in vielen alleinerziehenden Familien gar nicht an, weil sie an anderen Stellen gegengerechnet wird. Zum Beispiel in den Unterhaltsvorschuss. Dabei sind die Kinder doch die Zukunft unserer Gesellschaft und es ist so wichtig, sie gut zu unterstützen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

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