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Video: Abendschau | 30.08.2021 | Kerstin Breinig | Quelle: dpa/Jörg Carstensen

Streit zwischen Amtsärzten und Gesundheitssenatorin

Berliner Quarantäne-Gequengel

Eigenmächtige Strategiewechsel, politische Manöver und jede Menge Verwirrung für Familien, Kitas und Schulen: Im Streit um die Quarantäne-Regeln haben sich Amtsärzte und Gesundheitssenatorin ineinander verhakt. Von Sebastian Schöbel  

Die zwei Arbeitspapiere, die seit letzter Woche Berliner Eltern, Kitaträger und Schulleitungen in Atem halten, könnten unterschiedlicher kaum sein. Das eine ist eine fünfseitige, wissenschaftlich formulierte und mit Quellenangaben unterfütterte Argumentation aus Sicht der Berliner Amtsärzte. Das andere Papier stammt aus der Gesundheitsverwaltung und ist eine schnörkellose, klar strukturierte Behördenanweisung.

Auf den ersten Blick emotionsloser Papierkram. Doch daraus entwickelt sich ein Streit, der einmal mehr die schweren Dissonanzen zwischen Politik und Gesundheitsexperten in Berlin offen zu Tage treten lässt.

Zoff mit Arbeitspapieren

Denn zwischen den Zeilen gehen sich Amtsärzte und Gesundheitsverwaltung zünftig an den Kragen. Die Bezirksmediziner werfen der Politik vor, dass bei Coronainfektionen ganze Kitagruppen und Schulklassen pauschal 14 Tage in Quarantäne geschickt würden. "Undifferenziert" und "nicht mehr tragbar" sei das, schreibt Neuköllns Amtsarzt Nicolai Savaskan stellvertretend für das gesamte Kollegium. Weil Infektionsketten in Kitas und Schulen selten seien und eigentlich sowieso nicht die Politik, sondern die Gesundheitsämter über den Infektionsschutz entscheiden müssten. "Die Quarantänen, die wir verhängt haben, haben selten einen Sinn gehabt", pflichtet ihm Reinickendorfs Amtsarzt Patrick Larscheid bei, "sie haben bei der Unterbrechung von Infektionsketten praktisch nie einen Sinn gehabt."

Deswegen solle nun eine "selektive Helikopter-Strategie" zur Anwendung kommen: Nur Personen, die mit positiv getesteten Kindern und Jugendlichen in einem Haushalt leben, sollen sich isolieren, nicht aber automatisch auch ihre engsten Kita-Freunde oder Klassenkameraden.

Neue Regeln für Kitas und Schulen

Kalayci lehnt Ende der Quarantäne für Kontaktpersonen ab

Zwischen Gesundheitssenatorin Kalayci und den Amtsärzten in Berlin bahnt sich neuer Streit an: Die Entscheidung der Mediziner, die Quarantäneregeln für Kitakinder und Schüler:innen aufzuheben, lehnt die SPD-Politikerin strikt ab.

Der neue "Berliner Weg"

Das sei der neue "Berliner Weg", entscheiden die Amtsärzte bereits am vergangenen Mittwoch - allerdings ohne es zunächst öffentlich zu machen. Das übernimmt stattdessen zwei Tage später der CDU-Gesundheitsstadtrat von Neukölln, Falko Liecke. "Zum aktuellen Zeitpunkt ist es die richtige Maßnahme."

Norman Heise vom Landeselternausschuss gibt zu bedenken, dass die Quarantänevorschriften in den Schulen ohnehin nie einheitlich oder gar nachvollziehbar angewendet worden seien. "Teilweise sind einzelne Personen in Quarantäne geschickt worden, manchmal die ganze Klasse", sagt Heise dem rbb-Inforadio, "auch Kinder, die an diesem Tag gar nicht in der Schule waren."

Amtsarzt Savaskan protokolliert derweil zur Sicherheit in seinem Papier: Der Strategiewechsel sei "mit beiden Senatsverwaltungen vorab eng abgestimmt und beide Senatsverwaltungen haben den Berliner Weg fachlich begrüßt", schriftlich und mündlich. Gemeint ist neben der Gesundheits- auch die Bildungsverwaltung.

Erst widerspricht Giffey, dann die Gesundheitssenatorin

Letztere duckt sich auf Nachfrage des rbb erstmal weg: Dass sei eine Entscheidung der Amtsärzte, so ein Sprecher. SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres spricht dann aber doch von einer "Erleichterung für die Schulen" und einer "Erleichterung für die Eltern". Die Gesundheitsverwaltung reagiert auf rbb-Nachfrage am Freitag nur sehr knapp, bestätigt aber: Stimmt, in Schulen und Kitas "bleiben nur noch die Positiv-Getesteten zu Hause". In Schulen und Kitas werden noch am Freitag die Quarantänevorschriften angepasst.

Dann aber mischt sich die SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey ein: "Angesichts steigender Zahlen in den jüngeren Altersgruppen können wir uns eine Aufweichung der Quarantäneregeln in Schulen und Kitas nicht leisten", kritisiert die Ex-Familienministerin. Am Samstag entrüstet sich schließlich auch SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci: Was die Amtsärzte da entschieden haben "entspricht nicht der nationalen Strategie im Kampf gegen Covid-19 und verstößt auch gegen geltendes Recht", sagt sie dem rbb.

Rückendeckung bekommt Kalayci von der Bildungsgewerkschaft GEW. Ihre Verwaltung versucht über das Wochenende, mit einem eigenen Vier-Punkte-Plan die Amtsärzte in die Schranken zu weisen: Demnach sollen Kinder und Jugendliche auf jeden Fall fünf Tage in Quarantäne, wenn sie enge Kontaktpersonen von Corona-Infizierten sind.

Grüner Wahlkampf, linke Widersprüche

Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch nutzt die Gelegenheit für einen Wahlkampf-Seitenhieb auf den Koalitionspartner. "Es ist schwierig, wenn Gesundheitssenatorin und Bildungssenatorin da in zwei verschiedene Richtungen rennen", sagt sie dem rbb-Sender radioeins. Die Linke wiederum verstrickt sich in Widersprüche. Fraktionschef Carsten Schatz wirft den Amtsärzten vor, sie würden "de facto eine Durchseuchungsstrategie" verfolgen. Das sei eine wissentliche Gefährdung der Gesundheit von Kindern und der Beschäftigten an Schulen, so Schatz.

Widerspruch kommt ausgerechnet vom gesundheitspolitischen Experten der Linksfraktion, Wolfgang Albers: Kinder hätten in der Regel nur sehr milde Krankheitsverläufe, die Entscheidung der Amtsärzte sei nachvollziehbar. "Weder ist das eine wissentliche Gefährdung der Kindergesundheit, noch wird hier gegen ethische Grundsätze verstoßen", so Albers, der selbst Arzt ist. Vielmehr stehe das Bemühen im Vordergrund, einen Weg in die schulische Normalität zu finden.

Gesundheitsämter sollen sich mit Eltern abstimmen

Am Ende dieser gesundheitspolitischen Kakophonie setzt sich Kalayci durch: Aus 14 Tagen Quarantäne für Kontaktpersonen sollen nun fünf Tage werden - eine Idee, die der Berliner Charité-Virologe Christian Drosten schon vor fast genau einem Jahr aufgeworfen hatte [br.de]. Als Kompromiss sollen nicht mehr pauschal ganze Klassen oder Kitagruppen in die Isolation geschickt werden. Stattdessen sollen die Gesundheitsämter entscheiden, wer im jeweiligen Fall als Kontaktperson in Frage kommt - allerdings nur nach Rücksprache mit den Eltern des infizierten Kindes, "um berücksichtigen zu können, welche Mitschülerinnen und -schüler oder andere Kontaktpersonen außerhalb der Familie enge Kontaktpersonen gewesen sein könnten".

Vorschlag der Gesundheitsverwaltung

Kontaktpersonen in Kita und Schule sollen kürzer in Quarantäne

Mit der Ankündigung, ab jetzt würden keine ganzen Kita-Gruppen oder Schulklassen mehr in Corona-Quarantäne geschickt, hatten die Berliner Amtsärzte vorgelegt. In der Gesundheitsverwaltung stieß das auf Widerstand - sie kontert nun mit einem eigenen Vorschlag.

Einigung mit Fragezeichen

Was bleibt, ist einmal mehr der Eindruck, dass sich die Kommunikation der Berliner Behörden auch nach über eineinhalb Jahren Pandemie keineswegs verbessert hat. Denn unklar bleibt, warum Kalaycis Verwaltung zumindest auf Arbeitsebene dem Vorstoß der Amtsärzte zugestimmt hatte. Die Bezirksmediziner wiederum müssen sich fragen lassen, warum sie den Strategiewechsel bei der Quarantäne hinter verschlossenen Türen entschieden und dann nicht transparent gemacht haben. Völlig offen bleibt außerdem, ob damit für alle Kontaktpersonen, auch die jenseits der Schule, die 14-Tage-Quarantäne reduziert wird - und ob die Kitas ebenfalls von der neuen Regel betroffen sind, denn die werden in Kalaycis Vier-Punkte-Plan gar nicht mehr erwähnt.

Fragen, die im hitzigen Berliner Behördenstreit über Arbeitspapiere und Zuständigkeiten unbeantwortet bleiben.

Sendung: Abendschau, 30.08.2021, 19:30 Uhr

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