Ausstellung in Berlin - "Man kann das Flechten auch mit dem Code des Internets vergleichen"

Di 24.05.22 | 17:37 Uhr | Von Sigrid Hoff
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Interaktive Station „Flechten heißt entscheiden!“, 2021 (Quelle: Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen/Christian Krug)
Audio: rbbKultur | 24.05.2022 | Sigrid Hoff | Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen/Christian Krug

Korbstühle, Strohhüte, sogar geflochtene Gärten - mit den vielen Facetten der alten Handwerkskunst des Flechtens beschäftigt sich eine aktuelle Schau in Berlin-Dahlem. Dabei geht es auch um Verflechtungen im übertragenen Sinn. Von Sigrid Hoff

Flechten gehört zu den ältesten handwerklichen Tätigkeiten der Menschen und ist auf der ganzen Welt verbreitet. 2016 wurde das Handwerk von der Unesco-Welterbekommission gar zum "immateriellen Kulturgut" erklärt. Um die Kunst des Flechtens geht es nun auch in der jüngsten Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem mit dem Titel "All Hands on: Flechten".

Im Vorgarten des Museums machen von Grundschüler:innen eigens angepflanzte Weidenhütten auf das Thema aufmerksam. In der Ausstellung selbst steht gleich am Eingang ein langer Tisch, auf dem die verschiedensten Objekte aufgebaut sind.

Eine kleine filigrane Skulptur, deren Form an einen Fisch erinnert, stammt von der in Deutschland lebenden japanischen Flechtwerkgestalterin Megumi Higuchi. Daneben ist die Strohschale einer sardischen Künstlerin zu sehen. Ihr Entwurf nimmt traditionelle Muster der Mittelmeerinsel auf. Ein runder Korb mit Deckel und Tragebügel hingegen ist historisch und wurde im frühen 19. Jahrhundert in Ostpreußen für den Transport und die Aufbewahrung von Hauben benutzt.

Der geflochtene Garten, Olaf Holzapfel (Quelle: Jens Ziehe)
Der geflochtene Garten | Bild: Jens Ziehe

Nur der Mensch kann flechten

Die präsentierten Gegenstände aus geflochtenem Material sind so vielfältig wie die Länder, aus denen sie kommen. Denn geflochten wurde und wird bis heute in allen Kulturen. "Am Flechthandwerk ist bis heute besonders, dass es eigentlich nur der Mensch ausüben kann. Es gibt keine Maschine, die in der Lage ist, einen dreidimensionalen Korb zu flechten", sagt Judith Schühle, eine der Kuratorinnen. Zwei Jahre lang hat sie mit ihrer Kollegin Sofia Botvinnik Wissen, Material und Geschichten rund um das Flechten gesammelt, um die Jahrtausende alte Faszination für diese Technik jetzt in Dahlem zu veranschaulichen.

Die Ausstellung vermittelt die Geschichte des Flechthandwerks unter vier Themen: Mensch, Schutz, Material und Muster. Gleich im ersten Kapitel geht es um den Menschen als Nutzer und Hersteller von Korbwaren. Judith Schühle weist darauf hin, dass die meisten Körbe, die man in Berlin als Design-Objekte oder Inneneinrichtung kaufen kann, in Südostasien geflochten wurden und nicht – wie noch im 19. Jahrhundert – in Europa. Eine Vitrine verweist auf die oft fragwürdigen Rahmenbedingungen der Produktion. "Wenn bei uns ein Korb fünf Euro kostet, lässt sich ausrechnen, wieviel die einzelne Arbeiterin letztlich verdient."

Lebende Brücke „Wah Mawlong” in Rangthylliang, Pynursla, Indien, 2022 (Quelle: Morningstar Khongtaw, Point of View Production)
"Lebende Brücke" in Indien | Bild: Morningstar Khongtaw, Point of View Production

Corona-Daten zu Kunstwerk geflochten

Aber es geht auch um Verflechtungen im übertragenen Sinn. Eine merkwürdige, an eine Rakete erinnernde Skulptur mit eingeflochtenen bunten Perlen etwa wurde für die Ausstellung bei der US-amerikanischen Künstlerin Nathalie Miebach in Auftrag gegeben. Das Exponat stellt die Verbindung zur modernen digitalen Welt her.

"Man kann das Flechten auch mit dem Code des Internets vergleichen", erklärt Kuratorin Sofia Botvinnik. "Das Internet ist als binärer Code aufgebaut, ich habe Nullstellen und Einsen. Beim Flechten ist das ähnlich, ich kann meinen Strang entweder vor oder hinter einer Stake herführen." Für ihre Skulptur hat die Künstlerin Daten der Corona-Pandemie aus drei verschiedenen Ländern aufgenommen und künstlerisch verarbeitet.

Exkurs ins Tierreich

Dass Geflochtenes Schutz bietet, zeigt das zweite Kapitel der Ausstellung. Ein Exkurs ins Tierreich verdeutlicht, wie etwa der Webervogel intuitiv ein Kugelnest flicht, der Bienenkorb ist eine alte Schutzbehausung für die fleißigen Nektarsammlerinnen.

Aber auch der Mensch nutzt die Schutzfunktion von Geflochtenem: Bei Fachwerkhäusern etwa wurden die Wände zwischen den Holzbalken durch mit Lehm umwickelte Staken gefüllt, empfindliche Glasflaschen schützte man früher mit Körben, geflochtene Hüte oder Schuhe schützen den Körper.

Ein Hingucker ist ein transparentes geflochtenes Kleid der Designer Dolce & Gabbana von der Fashion Show 2013, unter dem ein schwarzer Body getragen wird – sehr schick, aber sicher nicht sehr bequem.

Flechtmaterialien: Birkenwurzeln, Sápmi, schwedischer Teil, vor 1916; Birkenrinde, Nilsiä, Finnland, um 1920; Espartogras, Spanien, um 1930 (Quelle: Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen/Christian Krug)
Flechtmaterialien | Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen/Christian Krug

So vielfältig wie die Gegenstände sind auch die Materialien, aus denen Geflochtenes hergestellt wird: Im Brandenburger Raum war es die heimische Weide, in anderen Ländern wie in Mexiko nutzte man das aus einer Agavenpflanze gewonnene Sisal.

Hier schlägt die Ausstellung ein bislang unbekanntes Kapitel deutscher Kolonialgeschichte auf. "Sisal wurde von einem deutschen Botaniker illegal aus Mexiko ausgeführt und nach Tansania gebracht", berichtet Kuratorin Julia Schühle. "Dort wurde es um 1900 in Plantagen angebaut unter Bedingungen kolonialer Ausbeutung der Menschen in der damaligen deutschen Kolonie Ostafrika."

Dieser koloniale Hintergrund ist heute wenig bekannt. Bunte Sammelbildchen für Kinder aus den 1930er Jahren mit Abbildungen von Arbeitern beim Anbau von Sisal in Tansania belegen, dass man vor 100 Jahren durchaus wusste, woher die Sisalmatten stammten.

Interaktive Stationen dürfen nicht fehlen

Ein raumfüllendes Labyrinth aus Weidengeflecht, der "Geflochtene Garten", für die Ausstellung entworfen von dem Konzeptkünstler Olaf Holzapfel, leitet über zum letzten Kapitel. Hier geht es um die verschiedenen Flechttechniken und Muster.

Wie auch in den anderen Bereichen laden interaktive "Hands-on"-Stationen vor allem jüngere Besucherinnen und Besucher zum Mitgestalten ein. Kuratorin Sofia Botvinnik stellt die letzte Station vor, in der es darum geht, wie die Technik des Flechtens künftig vermittelt werden kann, wenn das Handwerk ausstirbt: "Da haben wir eine große digitale Station, wo unsere Besucher:innen ausprobieren können, was es eigentlich heißt, im Digitalen zu flechten, und wie dann nicht nur das Flechtmuster sondern auch die Flechtbewegung gespeichert werden kann."

Mit ihren abwechslungsreichen Objekten macht die Ausstellung jedoch eher Lust, das Handwerk des Flechtens einmal ganz analog auszuprobieren.

Sendung: rbbKultur, 24.05.2022, 16 Uhr

Beitrag von Sigrid Hoff

1 Kommentar

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  1. 1.

    Mit manchen Dingen kann man aber erst richtig flechten, wenn jemand vorher gesponnen hat ;-).

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