Frühkritik | Ensemble Modern beim Musikfest Berlin - Tanzende Gimbals

Mi 31.08.22 | 12:10 Uhr | Von Hans Ackermann
Musikfest Berlin - Ensemble Modern & Cocoon Dance Company, Arnulf Herrmann (Quelle: Fabian Schellhorn)
Audio: rbb24 Inforadio | 31.08.2022 | Hans Ackermann | Bild: Fabian Schellhorn

Beim Musikfest Berlin werden bei vielen Konzerten klassische oder spätromantische Werke mit der Musik des 20. Jahrhunderts kombiniert. Ausschließlich aktuelle Musik stand aber am Dienstag im Haus der Berliner Festspiele auf dem Programm. Von Hans Ackermann

Mit den im Jahr 2020 komponierten "Hard Boiled Variations - 15 1/2 Cycles für Ensemble und Tanz" des Heidelberger Komponisten Arnulf Herrmann beginnt das Konzert im Haus der Berliner Festspiele. Das aus Frankfurt am Main angereiste Ensemble Modern spielt unter der Leitung des in Berlin lebenden Dirigenten Enno Poppe vor nahezu ausverkauftem Haus.

Zeitliche Kompression

Das 24 Musikerinnen und Musiker umfassende Solistenensemble muss bei diesem Werk von Variation zu Variation immer schneller werden: Der erste Zyklus dauert fünf Minuten und präsentiert die anfangs perkussiven Klänge geradezu in Zeitlupe, die letzte Variation fasst das Thema in drei Sekunden und mit einem einzigen Akkord zusammen.

Zeitliche Kompression ist das zentrale Element in Arnulf Herrmanns "hartgesottenen" Variationen. Der Name sei passend, so der Komponist im Programmheft, da er hier "unromantisch" und "formal knallhart" mit der Gattung der Variation umgehen würde. Gleichzeitig sei die Musik "sehr sinnlich erfahrbar" - was stimmt, wenn man den "Tanz" aus dem Titel des Stückes wörtlich nimmt. Dargeboten von einem aus fünf Tänzerinnen und Tänzern bestehenden Ensemble, das "die Musik sichtbar macht" - wie die Schweizer Choreographin Rafaële Giovanola ihren Ansatz beschreibt.

Tanzende Gimbals

Giovanolas CocoonDance Company lässt sich dabei nicht vom zunehmenden Tempo der Musik anstecken, sondern umkreist langsam und geheimnisvoll das Musikerensemble. Die Bewegung der meist eng zusammenbleibenden Gruppe ist dabei einem Gimbal nachempfunden, erklärt die Choreographin, eigentlich eine technische Vorrichtung, die geschmeidige Kamerafahrten ermöglicht. Hier auf der Bühne, als Bewegungsanweisung im modernen Tanz, übertragen die fünf "menschlichen Gimbals" nun zeitgenössische Klänge in eine weich-fließende, geradezu archaisch anmutende Körpersprache.

Verdienter Applaus für alle Beteiligten

Geboren 1968 in Heidelberg hat Arnulf Herrmann früher an der Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler unterrichtet, seit fast zehn Jahren ist er Professor für Komposition in Saarbrücken. Nach der Aufführung seines gut 40 Minuten dauernden Stückes bekommt er zusammen mit den Musikern des Ensemble Modern und ihrem Dirigenten Enno Poppe langen und wohlverdienten Applaus.

Extra-Beifall bekommt die Tanz-Compagnie - die das Kunststück vollbracht hat, eine komplizierte Musik des 21. Jahrhunderts mit vergleichsweise archaischer Körpersprache sichtbar zu machen. Das zweite Stück des Abends - von Poppe im letzten Jahr komponiert - heißt dann zwar "Körper", ist aber "nur" für großes Ensemble geschrieben. Dabei wünscht man sich - leider vergeblich - auch hier einen dazugehörigen Tanz, der ohne Zweifel beim besseren Verständnis dieser doch recht spröden Komposition helfen würde.

Fortsetzung mit Beethoven

Nach den beiden Komponisten des 21. Jahrhunderts wird sich das Musikfest Berlin am Mittwochabend wieder der klassischen Tradition zuwenden: Ludwig van Beethovens um 1820 komponierte "Missa Solemnis" steht dann im großen Saal der Philharmonie auf dem Programm. Die musikalische Leitung hat der britische Dirigent John Eliot Gardiner, er leitet an diesem Festspielabend das Orchestre Révolutionnaire et Romantique und den Monteverdi Chor.

Tanzende Gimbals

Sendung: rbb24 Inforadio, 31.08.2022, 6:55 Uhr

Beitrag von Hans Ackermann

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