Rezension | "Siegfried" an der Staatsoper - Mega-Ego im Jogginganzug und ganz großes Kino

Fr 07.10.22 | 11:56 Uhr | Von Maria Ossowski
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Szene aus "Siegfried" an der Staatsoper Unter den Linden.(Quelle:Monika Rittershaus)
Audio: Inforadio | 07.10.2022 | Maria Ossowski | Bild: Monika Rittershaus

Fünfeinhalb Stunden inklusive Pausen - so lange dauert der dritte Teil vom "Ring des Nibelungen". Alle vier Teile präsentiert die Staatsoper in einer Woche. "Siegfried" gilt mit seinen Rückblenden als der schwierigste. Maria Ossowski ist voll begeistert.

Wagners Superheld ist kein Schwiegermuttertraum – eher ein Trauma. Siegfried bringt den Pflegevater um, köpft den Drachen, verhöhnt Opa Wotan, verführt seine Tante Brünnhilde und benimmt sich über vier Stunden nur daneben. Ein Unsympath, und genau so tobt dieses kindische Kraftpaket durch die Inszenierung des russischen Regisseurs Dimitri Tscherniakow.

Woher hat dieser ungezogene Kerl im Adidas-Jogginganzug nur all seine Dummheiten? Er ist eine Laborzüchtung, ein Versuchsobjekt im Forschungsinstitut. Da wächst er auf mit viel Playmobil- und Legospielzeug, komplett beziehungslos und bar aller Selbstzweifel. Ihm fehlt für sein Mega-Ego nur noch die Wunderwaffe: ein Schwert. Er schmiedet es, indem er sämtliches Spielzeug zerstört und damit seine Kindheit beendet. Siegfried zündet den gesamten Haufen an und los gehts. Das Schwert entsteht auf den Trümmern einer einsamen Kinderseele.

Szene aus "Siegfried" an der Staatsoper Unter den Linden.(Quelle:Monika Rittershaus)
Szene aus "Siegfried" an der Staatsoper Unter den Linden. | Bild: Monika Rittershaus

Über eine Million für das Bühnenbild

Siegfried war der beliebteste Jungenname im Dritten Reich. Siegfried – Hitlers Bild vom germanischen Soldaten, mitleidlos, furchtlos, erorberungswütig und toxische Männlichkeit ausstrahlend. Andreas Schager spielt ihn zu all diesen Klischees wunderbar konterkarierend, nämlich als lächerlichen Protz-Nichtsnutz. Und er singt ihn bis zum letzten Ton seiner permanenten Bühnenpräsenz sicher, kraftvoll, überzeugend.

Siegfrieds Hassobjekt, Ziehvater Mime, ist ein durchgeknallter Senior mit vielen nervösen Ticks, gerissen und gierig. Stephan Rügamer singt und spielt ihm zum Niederknien, ebenso wie Michael Volle den Wanderer und Johannes Martín Kränzle Alberich.

Die drei Alten streifen durch die Institutsräume wie die Opas aus der Muppetshow. Das Bühnenbild mit Hörsaal, Schlaflabor, Weltesche und Konferenzraum kostete über eine Million. Es dreht sich fortlaufend, auf zwei Ebenen hasten und schleichen alle Verirrten durch die Gänge. Der Wanderer ruft Erda aus den Tiefen der Urwelt in den Konferenzraum.

Ganz großes Kino in der Staatsoper

Den Drachen erlegt Siegfried im Wartesaal, einen Wilden in einer Zwangsjacke, von zwei Psychiatriehelfern vorgeführt, chancenlos. Dann ist der Weg frei für den Waldvogel und den Felsen, auf dem Anja Kampe als Brünnhilde schlafen sollte. Allein, hier ruht sie unter Neonlicht im gleißendweissen Schlaflabor. Es wird ganz großes Kino, wenn der unbeholfene Siegfried sie weckt und beide kichern und nicht so recht wissen, was sie mit der gesungenen Lust real angefangen sollen.

"Siegfried" gilt wegen langer Erzählungen und vieler Wiederholungen als der schwierigste der vier Abende des Rings. Nicht so an der Staatsoper. Christian Thielemann am Pult lässt die Staatskapelle leuchten und musikalische Bögen spannen, auch in ungewohnt langsamen Tempi. Die jedoch betonen Nuancen, die festgefahrene Hörgewohnheiten aufheben. Die Sängerinnen und Sänger, fast alle Ensemblemitglieder, können den Jubel des Schlussapplauses genießen.

Ein rauschendes Fest der Stimmen, der Klänge, der Ideen und der präzisen Personenregie. Wagner at his best.

Sendung: Inforadio, 07.10.2022, 07:55 Uhr

Beitrag von Maria Ossowski

1 Kommentar

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  1. 1.

    Ob das Ganze „Wagner at his best“ war, muss jeder Besucher selbst entscheiden. Und wie man es im Kino manchmal zu sehen bekommt, gibt es dann doch den Anschlussfehler: Brünhilde wurde offensichtlich wieder aufgeweckt? Wotan leitet Sie ins Schlaflabor. Als ich am Schluss auf die Uhr blickte, waren es in der Staatsoper 5 Stunden und 50 Minuten incl. Pausen, nach dem Siegfried zu Ende war. Offensichtlich muss es mir gefallen haben - ich habe die fast 6 Stunden nicht gemerkt.

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