Premierenkritik | Gitte Haenning im Berliner Tipi - Soloprogramm ohne Cowboy

Mit dem Lied "Ich will 'nen Cowboy als Mann" stürmte Gitte Haenning 1963 die Hitparaden. Genau 60 Jahre später geht sie in ihrer Wahlheimat Berlin mit einem neuen Soloprogramm auf die Bühne und ist - trotz Erkältung - stimmlich absolut überzeugend, findet Hans Ackermann.
Mit einer Tasse heißem Tee in der Hand, dazu eine Großpackung Taschentücher unter dem Arm, kommt Gitte Haenning im Berliner Tipi bei der Premiere ihres neuen Soloprogramms "Für Immer und Neu" auf die Bühne. Mächtig erkältet ist die Sängerin, verschnupft, "wie derzeit so viele", ruft sie dennoch gutgelaunt dem Publikum zu. Beim Sprechen merkt man der Wahlberlinerin aus Aarhus den Schnupfen ein wenig an, beim Singen überhaupt nicht. Im Gegenteil: "Wir gehen im Regen durch die Stadt", singt Gitte Haenning mit kräftiger Stimme in das Mikrofon und spannt dabei passend zum Text einen roten Regenschirm auf.
Und wenn sie dort unter dem Schirm sitzt und singt, in weißer Kleidung, die Haare leicht verwuschelt, kann man kaum glauben, das diese ewig junge Entertainerin demnächst 77 Jahre alt wird.
Von Meinecke bis Grönemeyer
Auf dem Programm stehen in der ersten Konzerthälfte unter anderem Ulla Meineckes "Lieb ich Dich zu leise", Rio Reisers "Alles Lüge", dazu Lieder von Stefan Gwildis und Herbert Grönemeyer. Eine sorgfältig und mit Bedacht zusammengestellte Retrospektive deutschsprachiger Popmusik der 1980er Jahre. Genau in dieser Zeit hat sich Gitte Haenning von der "Schlagersängerin" zur anspruchsvollen Interpretin verwandelt, sich bestimmten Klischees verweigert und auch das Musikbusiness infrage gestellt - selbstgefällige Produzenten, die Gitte Haenning in ihren Moderationen zwischen den Liedern als recht unangenehme Zeitgenossen beschreibt.
Platz 8 beim Grand Prix Eurovision 1973 in Luxemburg
Sie selbst muss sich bis heute aber für nichts schämen, vor allem nicht für hinreißende Lieder wie "Junger Tag". Ein Lied, mit dem die Sängerin wenigstens ein Mal an diesem Abend in die 1970er Jahre zurückblickt.
Mit "Junger Tag" und noch als "Gitte" hat die Sängerin 1973 für Deutschland beim Grand Prix Eurovision de la Chanson (heute als Eurovision Song Contest bekannt) teilgenommen und dort Platz 8 erreicht. Wer den Wettbewerb in Luxemburg damals mit eigenen Augen am Fernseher mitverfolgt hat, wird diesen Ohrwurm nunmehr seit genau 50 Jahren nicht mehr los. Andere Lieder aus den 1970er Jahren erspart sich Gitte Haenning und so gibt an diesem Abend (leider) kein "Ich hab' die Liebe verspielt in Monte Carlo".
Jazz nach der Pause
Nach der Pause legt Gitta Haenning stattdessen die Jazznoten auf das große Pult, hinter dem sie den ganzen Abend über auf einem hohen Hocker sitzt, links und recht davon noch mehr Taschentücher und noch mehr heißer Tee. Die Stimme, raunt sie dem Publikum launig zu, müsse schließlich bis Sonntag, bis zum Ende des Gastspiels im Tipi, durchhalten. Dennoch schont sich die Sängerin am ersten Abend kein bißchen, singt allein und ohne Begleitung "Bewitched, Bothered and Bewildered". Ein Broadway-Klassiker von Richard Rodgers und Lorenz Hart aus dem Jahr 1940, den man vor allem mit der großen Jazzsängerin Ella Fitzgerald in Verbindung bringt. Nur die Besten können dieses Lied so souverän - und dabei auch noch so erkältet - vortragen.
Am Schluß geht es dann noch einmal in die 80er Jahre zurück, zu "Freu’ dich bloß nicht zu früh", der größte Erfolg von Gitte Haenning nach ihrer "Schlager-Zeit". Diese deutsche Fassung des Musicalsongs "Take that look off your face" von Andrew Lloyd-Webber hat seinerzeit Michael Kunze äußerst gekonnt übersetzt. Für eine selbstbewußte Sängerin, die noch nie einen "Cowboy als Mann" gebraucht hat - und diesen Song deshalb auch bis zum Schluß des gut drei Stunden dauernden Abends nicht singt.
Gitte Haenning ist noch bis Sonntag im Tipi am Kanzleramt mit ihrem Programm "Für immer und neu 2023" zu sehen, die Vorstellungen beginnen um 20 Uhr, am Sonntag schon um 19 Uhr.
Sendung: rbb24 Inforadio, 10.03.2023, 5 Uhr