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Quelle: dpa/Emmanuele Contini

Der Absacker

Im schmerzhaften Zwiespalt

Es sind Bilder, die wir seit Beginn der Corona-Krise nicht mehr kannten. 15.000 Menschen, die an einem Ort demonstrieren. Gemeinsam gegen Rassismus. Es ist ein starkes Signal, das unseren Autor Johannes Mohren glücklich macht. Aber es gibt einen Wermutstropfen.

Mein Schreibtisch steht seit einem Tag exakt 534,09 Kilometer vom Alexanderplatz entfernt. Diese Zahl spuckt zumindest ein Luftlinien-Rechner aus. Und so habe ich - mit Blick auf das Grau der menschenleeren Dorfstraße vor dem Haus meiner Eltern bei Aachen - bei den rbb|24-Kolleginnen und -Kollegen und bei Twitter die "Silent Demo" gegen Rassismus verfolgt. 

Seitdem grübele ich: Ja, ich stecke in einem Zwiespalt. Er ist nur schwer zu ertragen (und zu formulieren) - weil er Sachen gegeneinander aufwiegt, die eigentlich nicht gegeneinander aufzuwiegen sind. Da ist vor allem das unfassbar gute Gefühl, dass mitten in der Stadt, die seit nun fast vier Jahren mein Zuhause ist, 15.000 Menschen - und damit viel mehr als vermutet - nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd überwiegend schweigend laut werden gegen unerträglichen Rassismus.

Am liebsten würde ich nun einen Punkt machen. Es gibt jedoch in mir ein Aber. Denn die vielen Bilder vom Alexanderplatz mit fast vergessenen Menschenmengen machen mich gleichzeitig auch nachdenklich.

Es ist die Netzaktivistin Marina Weisband, die meine Gedanken so gut in Worte fasst, wie es mir selbst nicht gelingt. "Mein soziales Herz frohlockt", schreibt sie - aber eben auch: "Mein Coronabrain ist nicht glücklich." Wirklich zusammenzubringen ist es nicht.

1. Was vom Tag bleibt

Es war ein pickepackevoller Demo-Samstag in Berlin - vor allem auf dem Alexanderplatz, aber nicht nur. 14 Versammlungen waren es insgesamt im innerstädtischen Bereich. Auf die stets aktuelle und ausführliche Zusammenfassung der Kolleginnen und Kollegen habe ich weiter oben schon einmal verlinkt, mache es an dieser Stelle aber noch einmal explizit.

Passend zum Thema ist auch ein Gastbeitrag, den Anthony Ujah für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" [Bezahlangebot] geschrieben hat. Der Stürmer von Union Berlin sieht auch die deutschen Nationalspieler im Kampf gegen Rassismus gefordert. "Wenn ich einen Spieler wie Thomas Müller sehe, der den Deutschen viel bedeutet, dann ist schon ein einziger Post von ihm ein starkes Statement", so der 29-jährige Nigerianer.

Es ist eine wahrhaft erschütternde Geschichte, auf die ich Sie zudem hinweisen muss. Deutschland hat einen weiteren Missbrauchsskandal. Mehrere Personen werden verdächtigt, Kinder zum Teil massiv sexuell misshandelt zu haben. Die mutmaßlichen Täter kommen aus mehreren Bundesländern - gegen einen Brandenburger gibt es "erdrückende Beweise".

2. Abschalten

Ich weiß, ich bin reichlich spät dran, wenn ich Ihnen hier ein Video vom Donnerstagabend dringend ans Herz lege. Carolin Kebekus kennt der Rheinländer an sich (und manch anderer sicher auch) neben ihren bundesweit ausgestrahlten Comedy-Auftritten als Sängerin des kölsch-karnevalistischen Trios Beer Bitches. Etwa nicht? Dann hier entlang, wenn Sie mögen.

Hilft  - zumindest mir - auch beim Abschalten. Doch darum soll es eigentlich gar nicht gehen. Denn in ihrer sonst lustig-launigen Show in der ARD zeigte Kebekus vor zwei Tagen einen fast viertelstündigen Brennpunkt "Rassismus". Sie kennen es schon längst? Sehr gut, dann rücken Sie an dieser Stelle gerne vor zur dritten Rubrik (oder schauen Sie ihn nochmal an). 

3. Und, wie geht's?

Die Kommentare - bei Twitter und auch auf unserer Homepage - zeigen, dass auch viele von Ihnen sich in einem ähnlichen Zwiespalt befinden wie ich. "Montag dann wieder Home Schooling, weil einfach zu eng in der Schule", kommentiert Torsten Beeck, bei Facebook verantwortlich für Partnerschaften mit Medien, seinen Retweet eines Bildes, das den vollen Alexanderplatz zeigt - und als Ergänzung: "Und ja, ich finde es toll, dass so viele für Gerechtigkeit auf die Straße gehen. Aber."

Ein Nutzer namens LX schreibt unter unserem Beitrag über die Demo:

"Im Gegensatz zu so manch anderen Demonstrationen der letzten Wochen hatte die wenigstens einen guten Grund."

Das bin ich

Geboren tief im Westen in einer Stadt, die eigentlich niemand kannte, bis Martin Schulz das auf einen Schlag änderte. Von - ja, genau - Würselen (!) über Aachen und Dortmund kam Johannes Mohren vor knapp vier Jahren nach Berlin und später auch zum rbb. Online und für das Radio ist er vor allem in der regionalen Sportwelt unterwegs. Er hat seine neue Heimat ins Herz geschlossen, hört aber - wenn ihn das Heimweh nach dem Rheinland packt - auch ab und an stundenlang Kölner Karnevalsmusik.

Wolfgang macht sich ebenfalls Gedanken darüber, wie sich die Solidarität mit #blacklivesmatter mit der Pandemie zusammenbringen lässt. 

"Bei allem Verständnis für den Protest und die Empörung, die ich durchaus teile. Es gibt aber auch noch das Coronavirus."

Und Heike Mankiewicz kann die Maßnahmen, die sie persönlich im Alltag betreffen, bei der Betrachtung der Bilder nur bedingt nachvollziehen.

"15.000 auf dem Alexanderplatz. Alles Wahnsinn, trotz der guten Sache. Warum muss ich in der Gaststätte meine persönlichen Daten hinterlegen und die halten weder Abstand, noch haben sie Masken?"

Verstehen Sie den Zwiespalt - und: Stecken Sie womöglich selbst drin? Schreiben Sie uns an: absacker@rbb-online.de.  

4. Ein weites Feld ...

... schweift thematisch - eher etwas unpassend - ab. Auf den ersten Blick. Ich habe Ihnen ja bereits erzählt, dass ich gerade in Aachen bin. Es ist der Ort der wahrlich weltbesten Frikadellen. Die macht (Widerspruch absolut zwecklos!) meine Oma Leni. Eigentlich besuche ich sie jedes Mal, wenn ich mit dem ICE gen Westen brettere. Und dann gibt es eben diesen Traum aus Hackfleisch mit Kartoffeln und Spinat. So wie immer. Das war schon so, als der sehr kleine Johannes zu der grünen, rahmigen Masse noch "Pinat" sagte. Diese Geschichte erzählt meine bald 86-jährige Oma jedes Mal, wenn ich ihn mir auf den Teller schaufele - und grinst ihr schelmisches Grinsen. Es sind die schönsten Mittagessen.

Mein Besuch dieses Mal findet ohne fluffige Frikadellen und ohne Oma Leni statt. Die Sorge ist in Corona-Zeiten zu groß. Bei mir, bei meiner Familie, aber auch bei ihr selbst. Das hat sie mir - hörbar geknickt - erzählt, als wir vor ein paar Tagen länger miteinander telefoniert haben. Noch lange hatte ich ihre Stimme im Ohr, die mit ihrem Öcher-Platt-Einschlag so schön nach Heimat klingt. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder, haben wir uns gesagt. Und wenn ich daran denke, ist er eben doch wieder da. Dieser schmerzhafte Zweispalt, den ich - obwohl die Wichtig- und Dringlichkeit der Sache unbestritten ist - habe, wenn ich die Menschenmassen auf dem Alexanderplatz sehe.

Ein schönes Wochenende wünscht ein nachdenklicher

Johannes Mohren

Beitrag von Johannes Mohren

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