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Audio: Antenne Brandenburg | 19.01.2021 | Max Käther | Quelle: dpa/Amelie Benoist

Auswirkungen der Corona-Pandemie

Gewalt in Berliner Psychiatrien: Zahl der Fixierungen deutlich gestiegen

Während der Corona-Pandemie haben Ärzte in Berliner Psychiatrien deutlich häufiger die Fixierung von Patienten an Betten angeordnet. Für bessere Deeskalation fehlt den Stationen oft das Personal, sagen Klinikmitarbeiter. Von Roberto Jurkschat und Dominik Wurnig

An seine letzte Fixerung kann sich Felix von Kirchbach noch gut erinnern. "Zuerst sind meine Arme und Beine taub geworden. Dann hatte ich Probleme beim Schlucken und habe Krämpfe bekommen, mehrere Stunden lang", sagt der 37-Jährige.

Pfleger hatten ihn festgehalten und auf ein Bett gedrückt. Von der Seite kam jemand und drückte ihm eine Spritze Haldol in den Arm, ein Neuroleptikum der ersten Generation, das heftige Nebenwirkungen verursachen kann. "Du fühlst nichts mehr, deine Ängste, deine Bedürfnisse, Euphorie, das alles ist weg. Wenn man fixiert ist und dann so ein Medikament bekommt, liegt man da wie ein Gegenstand", erinnert sich von Kirchbach. Vier Jahre ist das jetzt her, es war die letzte Fixierung, die er aushalten musste.

Heute ist Felix von Kirchbach im Vorstand des Bundesverbandes für Psychiatrie-Erfahrene tätig. Immer wieder wenden sich Patienten an die Beratungsstelle, um über ihre Erfahrungen mit Zwangsfixierungen in Berliner Psychiatrien zu sprechen. Viele würden von einer extremen Beklemmung berichten. Andere von einem Gefühl der Erniedrigung.

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Angst und mögliche Traumatisierung

In der deutschen Rechtsordnung gibt es keine Maßnahme, die die Bewegungsfreiheit eines Menschen so stark einschränkt wie eine Fixierung: Patienten werden mit Gurten an Beinen, Armen und am Oberkörper auf Betten gebunden. Bei einer Sieben-Punkt-Fixierung kommen ein Gurt um den Kopf und noch einer um den Bauch hinzu. In vielen Fällen wird den Patienten in solchen Momenten auch ein Medikament zur Beruhigung angeboten. In manchen Fällen, wie bei Felix von Kirchbach, wird eine Zwangsmedikalisierung durchgeführt.

Auslöser für solche harten Maßnahmen seien in der Regel Konflikte, bei denen sich Patienten aggressiv verhalten und Pfleger, Ärzte, andere Patienten oder sich selbst gefährden, sagt Petra Rossmanith von der Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Pflegekräfte versuchen dann die Situation zu deeskalieren - aber das gelingt nicht immer. In den meisten Fällen, so Rossmanith, erlebten die Patienten mit der Fixierung dann einen "einen massiven Übergriff": "Personen werden überwältigt und verlieren die Kontrolle über ihre Arme und Beine, können nicht mehr eigenständig trinken oder auf die Toilette gehen. Das kann Beklemmung und Angst bis hin zur Traumatisierungen verursachen."

Mehr Fixierungen bei weniger Patienten

Aus den Daten der Berliner Amtsgerichte, die rbb|24 exklusiv auswerten konnte, geht hervor, dass die Zahl der Fixierungsanträge in Berlin zuletzt deutlich zugenommen hat. Im Pandemie-Jahr 2020 wurden 3.290 Fixierungen beantragt - durchschnittlich alle zwei bis drei Stunden. Im Jahr 2019 waren es noch 2.831 Anträge; damit lag der Anstieg bei über 16 Prozent.

Nach Informationen von rbb|24 stimmen Richterinnen und Richter den Anträgen der Kliniken auf Fixierung meistens zu; in der Praxis gibt es kaum zurückweisenden Beschlüsse.

Petra Rossmanith von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie vermutet, dass durch den Corona-Lockdown viele persönliche Krisen eskaliert sind. "Oft sind Betroffene aber erst verhältnismäßig spät in die Kliniken gekommen, wenn es bereits schwere Krisen gab, die akut psychiatrisch behandelt werden mussten."

Während leicht zugängliche, ambulante psychiatrische Angebote in der Pandemie runtergefahren wurden, hatten auch die Kliniken ihr stationäres Angebot reduziert. "Trotzdem gibt es wahrscheinlich mehr Patienten, die ganz akute Probleme haben und die eine Behandlung brauchen", erklärt Rossmanith.

Einen Anstieg von Akut-Patienten vermutet auch Emilio Velasquez von der Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie Berlin-Brandenburg. "Einige Menschen hätten viel früher Hilfe gebraucht", sagt Velasquez. Psychosen, Angstzustände und Depressionen seien dann teilweise schon in einem kritischen Stadium gewesen. Zudem habe die Pandemie einige Abläufe in den Kliniken durcheinander gewirbelt: "Alle Patienten mussten nach der Aufnahme am Anfang 24 Stunden isoliert werden, bis ein Corona-Testergebnis vorlag." Auch das Masketragen sei für viele belastend gewesen.

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Obwohl die Vereinten Nationen Fixierungen in einem Kommentar zur Behindertenrechtskonvention als eine Form der Folter definiert haben, hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2018 bestätigt, dass Patienten in Psychiatrien weiterhin an Betten gebunden werden dürfen. Allerdings brauchen Kliniken in Deutschland richterliche Genehmigungen, wenn die Fixierung länger als 30 Minuten andauert. Ärzte oder Pfleger müssen sich in solchen Fällen sofort an den Bereitschaftsdienst des zuständigen Amtsgerichts wenden.

Auf dem Schreibtisch von Betreuungsrichterin Susann Müller vom Amtsgericht Pankow-Weißensee liegen zum Dienstbeginn um 6 Uhr morgens häufig schon die Fixierungsanträge aus der vergangenen Nacht. Dann muss sie los, um die Fälle zu prüfen, wie sie im Gespräch mit rbb|24 sagt: "Wir müssen so schnell es geht entscheiden – auch während der Corona-Pandemie. Deshalb haben wir einen Bereitschaftsdienst von 6 Uhr bis 21 Uhr. Wenn eine Klinik anruft, fährt die Richterin oder der Richter sofort hin und macht eine Anhörung. Der persönliche Eindruck ist wichtig."

In der Klinik liest sie dann die ärztliche Stellungnahme und redet mit dem Arzt und dem Patienten. Das ist manchmal nicht einfach. Es kommt schon mal vor, dass eine Richterin "Verpiss dich, du Nazi-Fotze" zu hören bekommt. "Patienten sind teilweise sprichwörtlich außer sich", sagt Müller. Eine Fixierung nach dem Berliner Gesetzt zur Hilfe und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) ergeht normalerweise als einstweilige Anordnung einige Stunden. So lange müssen die Patienten es in der Zwangsfixierung aushalten. Bei manchen seltenen Krankheitsbildern werde die Maßnahme aber für mehrere Tage angeordnet, sagt Müller. Eine Sitzwache ist immer beim fixierten Patienten.

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Eine examinierte Pflegerin, die anonym bleiben möchte, hat rbb|24 über ihre Arbeit in Berliner Psychiatrien berichtet. Sie sagt, dass einige Fixierungen verhindert werden könnten, wenn es mehr Personal in den Kliniken gäbe. "Pflegefachkräfte sind häufig überfordert, vor allem in der Nacht und am Wochenende, wenn wir nur zu zweit arbeiten." Vor allem in der Nacht bringt die Polizei in Berlin immer wieder extrem gereizte Menschen in die Kliniken, die unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol stehen. Manche werden in Handschellen oder bereits auf einer Liege fixiert in die Rettungsstelle gebracht.

Der Bereitschaftsarzt kann dann eine Zwangsunterbringung auf der geschützten Psychiatriestation anordnen. "Oft sind die Stationen dann voll und auf den Fluren stehen Betten, in denen teilweise sehr aufgebrachte Patienten schlafen sollen", erzählt die Pflegerin.

Wenn dann eine oder mehrere Personen in Streit geraten, können Pflegekräfte über einen Notfallknopf im Schwesternzimmer oder über den Pieper Verstärkung von anderen Stationen anfordern. "Aber die Kollegen können ja nicht die ganze Zeit bei uns bleiben", sagt die Pflegerin. "Fixierungen sind manchmal einfach die letzte Möglichkeit, die wir haben. In solchen Momenten tut es mir jedes Mal leid zu sehen, wie hart eine Fixierung für Patienten sein kann. Ich dachte mir eigentlich immer: 'So willst du nicht arbeiten.'"

Beratung für Psychiatrie-Erfahrene

Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. in Berlin bietet derzeit telefonische Beratung an für Menschen, die über Erlebnisse in der Psychiatrie sprechen wollen. Die Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin bietet Beratung, Begleitung und Informationen bei Beschwerden zur psychiatrischen Versorgung in Berlin an.

Zu viele Patienten auf zu engem Raum

Pädagogin Petra Rossmanith vermutet, dass einige Fixierungen in Berlin gar nicht notwendig wären, wenn sie die Patienten nicht auf so engem Raum betreuen müssten. Den Psychiatrien fehlten Einzelzimmer, Rückzugsorte oder gesicherte Freiflächen - für Patienten, die mehrere Wochen auf einer geschlossenen Station verbringen müssen. "Ich kenne keine Klinik in Berlin, die genug Platz für eine opitimale Betreuung hat. Und das trägt auch zur Entstehung von kritischen Situationen auf den Stationen bei."

Auch der Pychiatrie-Chefarzt des Klinikums Am Urban in Kreuzberg, Andreas Bechdolf, kritisiert die räumliche Ausstattung der psychiatrischen Kliniken in Berlin. "Der Renovierungszustand ist in vielen Krankenhäusern schlecht und die Psychiatrie ist noch stärker benachteiligt als andere medizinische Disziplinen."

Die Architektur könnte auch das Risiko auf Zwangsmaßnahmen reduzieren. "Wenn es breite Gänge gibt, eine helle, freundliche und großzügige Umgebung, direkten Zugang zum Garten, ein weiches Zimmer, in dem die Betroffenen in Krisen Aggressivität ohne Gefährdung von anderen herauslassen können, dann fühlen sich die Nutzer wohler und können sich leichter auf Behandlungsangebote einlassen", sagt Bechdolf.

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Im Klinikum Am Urban arbeitet man intensiv daran, Fixierungen und auch möglichen Traumatisierungen vorzubeugen. "Es ist für uns ein riesiges Anliegen, dass Fixierungen gar nicht passieren, und wenn doch, dass es dann nachbesprochen wird", sagt Bechdolf. Man wisse, dass Fixierungen besonders belastend erlebt werden, zumal wenn der Eindruck entsteht, das Personal habe Macht ausüben wollen oder es sei willkürlich passiert. Deshalb seien gute Deeskalationskonzepte und Nachbesprechungen mit den Patienten wichtig.

Denn letztlich, so der Chefarzt, seien Fixierungen auch für die Ärzte und Pfleger belastend. "Ich würde uns im Moment noch in der Akutphase der Pandemie sehen. Die Gesellschaft sollte sich darauf einstellen, dass im weiteren Verlauf der Pandemie mehr psychiatrische Unterstützung benötigt wird." Wenn es zu einer Katastrophe wie etwa ein Zugunglück komme, würden längerfristige psychische Symptome der Beteiligten, wie Angst oder Depressionen, meistens zeitlich verzögert auftreten, sagt Bechdolf. "Die 'psychische Pandemie' kommt noch."

Beitrag von Roberto Jurkschat und Dominik Wurnig

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