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Quelle: © Deutsches Hygiene Museum

Interview | Impfpflicht in Ost und West

"Das Impfen gehörte zur DNA der DDR"

Befürworter einer Impfpflicht verweisen oft auf die Impf-Erfolge der DDR: Hier wurde ohne Wenn und Aber geimpft. Doch war das wirklich erfolgreich? Ein Interview mit dem Medizinhistoriker Malte Thiessen, der zu dieser Frage geforscht hat.

rbb|24: Herr Thiessen, wer hat besser geimpft, die DDR oder die BRD?

Malte Thiessen: Auf den ersten Blick ist der Wettbewerb zwischen Ost und West ganz eindeutig entschieden: Da gewinnt die DDR.

Die DDR führte schon relativ früh, in den 1960er-Jahren, Impfpflichten ein, und zwar für fast alle Impfprogramme, die es in Ostdeutschland gab - außer für die Grippeschutzimpfung, die blieb freiwillig. Das führte dazu, dass tatsächlich die Impfquote im Osten sehr viel höher war als im Westen. Das hat die DDR dem Westen auch immer sehr gerne unter die Nase gerieben, um zu sagen: 'Seht her, wir tun was für unsere Bürgerinnen und Bürger.'

Wie hat sich die Impfpflicht in beiden Ländern entwickelt?

In der Tat war die Impfpflicht 1949/50, als die beiden Staaten ihren Anfang nahmen, schon gesetzt - nämlich bei der Pockenimpfung. Die ist seit dem 19. Jahrhundert eine Pflichtimpfung für ganz Deutschland, und da blieb man auch erst mal dran.

Aber dann trennten sich die Wege. Im Westen setzte man zunehmend auf Freiwilligkeit. Alle neuen Impfungen, die eingeführt wurden, blieben freiwillig. Man setzte stärker auf Aufklärung, auf Medienkampagnen, auf niedrigschwellige Angebote. In der DDR setzte man dagegen auf eine Pflicht. Polio, Diphtherie, später Masern, Mumps, Röteln, alles das waren dann in der DDR Pflichtimpfungen, die fest im Kalender der DDR-Bürgerinnen und -Bürger verankert waren.

Mit über einem Dutzend Impfungen vor dem 18. Lebensjahr.

Das ist tatsächlich etwas, was manchmal auch beklagt wurde. Die Termine ballten sich, was ein Stück weit dann auch die Impf-Erfolgsgeschichte der DDR ein bisschen schmälert. Die DDR schaffte es nämlich im Gegensatz zum Westen nur sehr viel später oder zum Teil gar nicht, Mehrfachimpfstoffe anzubieten. Deshalb war dieser Impfkalender immer eine ziemliche Herausforderung. Im Westen funktionierte das eben dank Vier-, Fünf- und Sechsfachimpfstoffen sehr viel besser. Deshalb ist dieses Impf-Rennen auf den zweiten Blick gar nicht mehr so eindeutig.

Dazu muss man wissen, dass die die DDR bei der Impfstoffentwicklung sehr stark abhängig war von der Sowjetunion. Was zum Beispiel beim Polioimpfstoff ein großer Vorteil war, weil die DDR sehr viel früher als der Westen auf ein flächendeckendes Impfprogramm setzen konnte. Aber die Entwicklungsrückschritte, die dann seit den 1970er-Jahren in der Sowjetunion auftraten, schlugen eben auch in der DDR durch. Man wurde bei der Impfstoffentwicklung abgehängt und musste letztlich ab den 1980er-Jahren sogar klammheimlich West-Impfstoffe importieren, vom "Systemgegner".

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Ungeimpfte Corona-Patienten füllen die Intensivstationen, immer neue Infektionen kommen dazu, Kontaktbeschränkungen werden ausgeweitet: Die pandemische Lage spitzt sich wieder zu, und die Rufe nach einer Impfpflicht werden lauter.

Aber Fakt ist doch: Mit der Impfpflicht hatte die DDR eine hohe Impfquote. Zwang schlägt Freiheitsliebe.

Wenn man genauer hinguckt, kann man da einige Fragezeichen dahinter setzen. Die Impfpflicht bestand zwar auf dem Papier. Es machte sich zum Beispiel bemerkbar, dass man bei Ferienlagern oder bei FDJ-Veranstaltungen immer wieder den Impfstatus abfragt und versucht, dann zu impfen. Aber es ist eben nicht so, dass sich die DDR als totalitärer Gesundheitsstaat behauptet hat. Es gab auch in der DDR Impfgegner, und man ging zum Teil ziemlich pragmatisch mit ihnen um. Es gab zum Teil Kreise oder Bezirke, die zwanzig bis dreißig Prozent nicht angetroffene Impflinge meldeten. Die galten dann aber nicht als Impfgegner oder Impfskeptiker, sondern sind einfach nicht angetroffen worden.

Man realisierte auch in der DDR, dass eine forcierte Durchsetzung des Zwangs nicht unbedingt der goldene Weg ist. Es gab immer wieder Repressionen, beispielsweise beim Studium, wo der Impfnachweis nachgefragt wurde, oder bei bestimmten Berufsgruppen. Da gab es auch ganz klare Vorgaben: ohne Impfung kein Zutritt. Aber im Alltag war man nicht gewillt oder auch nicht fähig, die 98-prozentige Impfquote, die immer wieder gefordert wurde, wirklich durchzusetzen, weil man sich nicht mit den Skeptikern rumschlagen wollte - auch weil dann Fragen aufkommen konnten, wie der sozialistische Staat mit seinen Bürgern umgeht. Deshalb ist ein gewisser Impf-Pragmatismus auch in der DDR festzustellen.

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Wie hingen Impfpflicht und Sozialismus zusammen?

Das Impfen war in der DDR ein Stück weit die Grundlage für das Gesellschaftsverständnis. Weil es eines der besten Werkzeuge für Prävention und Prophylaxe ist, wie es in der DDR oft hieß. Von Anfang an waren Impfprogramme Ausdruck und Beweis des sozialistischen Bewusstseins und auch der sozialistischen Überlegenheit. Darin sehe ich eine große Stärke der DDR im Vergleich zum Westen: die Verankerung des Impfens im Alltag.

Es wurden zum Beispiel Dauerimpfstellen geschaffen, damit Eltern mit ihren Kindern zur Impfung gehen konnten, wann es ihnen passte. Das war im Westen noch gar nicht so selbstverständlich. Auch die Impfungen in den Werken, den vielen Kliniken, Polikliniken oder eben bei Partei- und Jugendveranstaltungen, auch da war die DDR sehr viel weiter als die Bundesrepublik. Das Impfen gehörte sozusagen zur DNA der DDR.

Warum ist dann heute auch in Teilen Ostdeutschlands die Impfbereitschaft so gering? Den Leuten wurde das doch anders "eingeimpft"?

[lacht] Schönes Wortspiel.

In der Tat haben wir Gebiete, in denen die Impf-Akzeptanz ziemlich niedrig ist. Und das lässt sich mit einem anderen Phänomen erklären: Beim Impfen geht es nie nur um den Piks für den Einzelnen, nie nur um die Gesundheit, sondern es geht immer auch um das Vertrauen in den Staat. Da scheint es mir tatsächlich in einigen Teilen Ostdeutschlands ein Problem zu geben, dass die Akzeptanz der Impfung senkt. Impfen ist ein Stück weit eine Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit staatlichen Einrichtungen. Und deshalb geht dann die Impf-Akzeptanz wieder runter.

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Also, was können wir vom Impfsystem der DDR lernen?

Heute wird oft die Impfpflicht als Vorbild der DDR genommen. Da bin ich skeptisch. Was tatsächlich eine Lehre ist, ist die niedrigschwellige Verankerung des Impfens im Alltag. Und eine intensive Aufklärungs- und Werbearbeit.

Da ist der Westen vielleicht sogar das bessere Beispiel, weil man dort auf Freiwilligkeit gesetzt hat. Umso stärker musste man eben die Menschen auch überzeugen, warum es sich lohnt, zu impfen. Dass wir uns nicht nur für uns impfen, sondern für andere.

Das hat die DDR aber auch gemacht und Überzeugungsarbeit geleistet - obwohl sie eigentlich auf die Impfpflicht setzen konnte. Das tat sie aber nicht, sondern sie versuchte, die Menschen mitzunehmen. Das ist eigentlich immer der erfolgreichere Weg als Druck und Zwang.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sebastian Schöbel.

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