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Quelle: imago/Christian Ohde

Interview | Arbeitsmarktforscher zu Babyboomer-Lücke

"Es bräuchte eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr"

In den kommenden zehn Jahren gehen die Babyboomer-Jahrgänge 1958 bis '64 in Rente. Sie werden eine erhebliche Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Im Interview spricht der Arbeitsmarktforscher Holger Seibert über Wege aus dieser nahenden Krise.

Innerhalb der kommenden zehn Jahre werden die meisten berufstätigen sogenannten Babyboomer in Rente gehen: Wer zwischen 1958 und 1964 geboren ist, noch vor dem sogenannten Pillenknick, gehört zu den geburtenstärksten Jahrgängen des Landes. Deshalb wird der Abschied der Babyboomer auch eine außergewöhnlich breite Lücke auf dem Arbeitsmarkt reißen. Es kommen schlicht nicht genügend Jüngere nach, um diese Lücke zu füllen.

In Brandenburg zum Beispiel gehen in den kommenden zehn Jahren circa 220.000 Menschen in den Ruhestand, nur 190.000 rücken nach. Heißt: Der ohnehin schon spürbare Fachkräftemangel wird noch verschärft werden - und das betrifft am Ende uns alle.

Der Arbeitsmarktforscher Holger Seibert vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Berlin spricht im Interview mit rbb|24 darüber, welche Berufe und Branchen am stärksten betroffen sein werden - und welche Lösungen es für dieses Problem gibt.

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rbb|24: Herr Seibert, wo werden die Menschen in zehn Jahren den Weggang der Babyboomer am deutlichsten spüren?

Holger Seibert: So ganz genau kann man das natürlich nicht voraussagen. Aber die Berufe, bei denen wir im Moment von großen Engpässen wissen, sind die Heizungsinstallateure und weitere Elektroberufe - generell die handwerklichen Berufe. Es ist sehr schwierig, für diese Jobs Personal zu finden.

Der Pflegebereich ist auch sehr auffällig. Wenn die Betriebe Angestellte einstellen wollen, müssen sie sehr lange suchen, bis sie jemanden finden. Gerade in der Altenpflege. Das ist aber auch etwa bei den Lebensmittelberufen so. Wenn es also darum geht, Brötchen zu backen oder auch andere Lebensmittel herzustellen, fehlt vielfach das Personal. Auch in vielen anderen Berufen herrscht großer Fachkräftemangel.

Was kann gegen den immer größer werdenden Fachkräftemangel getan werden?

Es geht vor allem um Ausbildung. Man muss versuchen, möglichst viele Menschen für eine Ausbildung in diesen Berufen zu gewinnen. Das ist natürlich schwierig, wenn nur wenige junge Leute da sind, die man ausbilden kann. Selbst wenn man alle vorhandenen Jugendlichen für eine Ausbildung begeistern könnte, wären es immer noch nicht genug, um die Babyboomer zu ersetzen.

Eine weitere Strategie ist es, die Arbeitsbedingungen in den Engpassberufen zu verbessern. Einerseits müssten die Löhne in diesen Berufen steigen. Andererseits müssten die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Das heißt, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss ermöglicht werden. Außerdem muss das Gesundheitsmanagement verbessert werden. Es muss möglich sein, diese Berufe auszuüben, ohne dass man dabei krank wird und möglichst noch mit 60 plus noch ohne Einschränkungen arbeiten kann.

Zur Person

Holger Seibert

Expert*innen sprechen davon, dass Einwanderung der wichtigste Beitrag sein könnte, um das Problem zu lösen. Wie bewerten Sie das?

Es gibt eine Prognose für ganz Deutschland, dass man eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr bräuchte. Dann könnte die Gesamtbeschäftigung stabil gehalten werden. Es ist aber fraglich, ob das gelingt. Die europäischen Länder, aus denen viele Zugewanderte bisher kommen, haben mittlerweile oft vergleichbare demografische Probleme und Fachkräfteengpässe wie Deutschland. Die Länder brauchen ihr Personal daher zunehmend selbst. Und im eigenen Land zu arbeiten ist für viele dann attraktiver, als nach Deutschland zu kommen.

Zuwanderung ist also sicher kein Selbstläufer. Für die Pflege gibt es mittlerweile Abwerbekampagnen. Da wird versucht, Pflegepersonal zum Beispiel aus Mexiko oder den Philippinen gezielt nach Deutschland zu holen. Das ist mit hohen Investitionen verbunden, hat aber bislang nur geringe Zuwanderungszahlen gebracht.

Was sind die Hauptgründe dafür, dass das bisher nur wenig gebracht hat?

Das Verfahren ist tatsächlich ziemlich aufwendig, etwa, wenn es um die Anerkennung der entsprechenden Bildungszertifikate oder auch um die erforderlichen Deutschkenntnisse geht. Einmal in Deutschland angekommen, stehen für viele dieser Zugewanderten trotz vorhandener Abschlüsse Weiterbildungsverpflichtungen an, um dann hierzulande in Krankenhäusern oder Pflegeheimen als Fachkraft arbeiten zu können und auch als solche bezahlt zu werden. Zudem sind die Entfernungen zum Heimatland so groß, dass man nicht mal eben über ein verlängertes Wochenende nach hause fahren kann, wie dies z.B. innerhalb von Europa möglich wäre.

Für die Arbeitgeber muss ersichtlicher werden, welche Zeugnisse wie mit den deutschen Abschlüssen vergleichbar sind. Außerdem müssen sprachliche Hürden aus dem Weg geräumt werden.

Wie genau könnte man die Lage in diesen beiden Punkten verbessern?

Die große Masse der Anerkennungen von beruflichen Abschlüssen durch die Anerkennungsstellen bezieht sich auf Gesundheits- und Pflegeberufe, da es sich hierbei um so genannte reglementierte Berufe handelt. Es ist also staatlich geregelt, welche Kompetenzen jemand für einen Beruf im Gesundheitswesen mitbringen muss. Für alle anderen Berufe stellt sich aber für den Arbeitgeber genau so die Frage, ob hinter einem ausländischen Abschluss eigentlich die Fähigkeiten stehen, die die jeweilige Tätigkeit erfordern. Was Arbeitgeber also eigentlich bräuchten, wäre eine Übersetzung der im Zeugnis beschriebenen Kompetenzen der Jobsuchenden.

Was die Deutschkenntnisse angeht, sind für den Arbeitsmarkt insbesondere berufsfachliche Sprachkenntnisse wichtig, um am konkreten Arbeitsplatz produktiv zu sein. Hierbei könnten entsprechende Online-Sprachkurse helfen, die bereits im Heimatland absolviert werden können. Die Coronapandemie hat gezeigt, welche Chancen das Lernen auf Distanz bietet.

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Können Einwanderinnen und Einwanderer die Lücke füllen, die die Babyboomer hinterlassen?

Ich halte das für relativ schwierig, weil es schwer planbar ist. Der konkrete Ersatzbedarf für die Babyboomer variiert zwischen Branchen und Regionen. Eine passgenaue berufliche und regionale Steuerung von Zuwanderung, die ja erforderlich wäre, halte ich für nahezu ausgeschlossen. Die Geflüchteten, die seit 2015/16 etwa aus Syrien und Afghanistan zu uns gekommen sind, arbeiten, wenn sie bereits in den Arbeitsmarkt integriert sind, zu ca. 40 Prozent in Helferjobs – häufig in der Lagerlogistik und bei Post- und Kurierdiensten. Der Personalmangel besteht aber auch in vielen anderen Branchen und vor allem bei den Fachkräften. Zuwanderung als Strategie zum Fachkräfteersatz müsste demnach also mit konkreten Weiterbildungs- und Umschulungsangeboten verknüpft sein.

Über welche Stellschrauben wird in der öffentlichen Debatte bisher vielleicht zu wenig gesprochen? Wo lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen?

Es lohnt sich, noch einmal einen Blick auf die Arbeitslosen zu werfen. Im September 2022 zählen wir in Berlin gut 180.000 und in Brandenburg gut 75.000 Arbeitslose. Knapp die Hälfte von ihnen besitzt mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung, in Brandenburg sind es sogar 55 Prozent. Hier liegt also noch ein großes Potenzial bei der Suche nach Fachkräften.

Allerdings dürfte auch hier eine größere Flankierung durch Weiterbildungs- und Umschulungsangebote erforderlich sein, um die Arbeitslosen fit zu machen für die dringend gesuchten Fachkräfte. Eine Aufgabe, die man aber nicht allein der Arbeitsagentur zuschreiben sollte, sondern an der sich gerade die Unternehmen, die händeringend nach Personal suchen, durchaus selbst beteiligen können. Zum Beispiel, in dem sich weniger gut oder anderweitig qualifiziertes Personal selbst anlernen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Yasser Speck, rbb|24

Sendung: rbb24 Abendschau, 26.10.2022, 19:30 Uhr.

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