Theaterkritik | Exil-Literatur im Berliner Ensemble - Ist gute Kunst die beste Politik?

So 11.09.22 | 16:00 Uhr | Von Barbara Behrendt
Fotoprobe des Stückes "Exil" von Lion Feuchtwanger am Berliner Ensemble (Bild: Berliner Ensemble/Jörg Brüggemann)
Audio: Kulturradio | 11.09.2022 | Barbara Behrendt | Bild: Berliner Ensemble/Jörg Brüggemann

Am Berliner Ensemble hat der belgische Regisseur Luk Perceval Lion Feuchtwangers Roman "Exil" als großes, aber schwarz-weißes Schauspieler-Theater inszeniert. Von Barbara Behrendt

Paris im Jahr 1935: Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zwei Jahre zuvor verwandelt sich die französische Metropole zum Exil für deutsche Juden, für politisch Verfolgte und für Menschen, die schlicht nicht mit den Nazis paktieren wollen. Hier sitzen sie wie in einem Wartesaal – so jedenfalls beschreibt es Lion Feuchtwanger in seinem Roman "Exil", der 1940 erschienen ist. Bislang gut betuchte deutsche Künstler, Musiker, Schriftsteller, Journalisten kämpfen ums Überleben und schreiben aus Paris gegen die Diktatur an – oder entscheiden sich für eine Karriere mithilfe der Nazi-Funktionäre im Land.

Eine Stadt voller Wartenden

Auf der Bühne ein Eiffelturm aus übereinandergeschichteten Holzstühlen, der hoch in den Bühnenhimmel ragt, durchzogen von künstlichen Nebelschwaden. Oder ist das ein rauchender Schornstein, eine Vorwegnahme der Judenvernichtung in den Konzentrationslagern? Annette Kurz’ Bühnenbild ist so gewaltig wie mehrdeutig. Wenig Zweifel lässt es aber, dass die leeren Stühle kurz nach der Machtergreifung Hitlers für Menschen stehen, die ihren Platz in der Welt verloren haben. Paris: eine Stadt voller Geflüchteter auf falschen, ver-rückten Stühlen.

Einer der hier Wartenden ist der renommierte bayerische Komponist Sepp Trautwein, der sich von den Nazis in München weder den Mund noch das Dirigat verbieten lassen mochte. Seine Überzeugung: "Die Angriffe gegen mich in Deutschland haben mir gezeigt, dass man Musik ohne Politik nicht machen kann."

Oliver Kraushaar gibt dem Bayer mit dem Herzen am rechten Fleck einen kräftigen Dialekt, eine sonore Stimme und eine urgemütliche aber aufbrausende Bärigkeit. Sepps Frau Anna ist die Lebenstüchtige, die das Geld beschafft, für Sepps Musik kämpft und ihm den politischen Journalismus ausreden möchte, als er die Redaktionsstelle im oppositionellen Pariser Emigranten-Blatt für einen Kollegen übernimmt, der auf seiner Dienstreise dann prompt von den Nazis entführt wird. "Gute Kunst ist die beste Politik" – das ist Annas Credo.

Fotoprobe des Stückes "Exil" am Berliner Ensemble (Bild: Berliner Ensemble/Jörg Brüggemann)Hinter Sepp Trautwein (Oliver Kraushaar) ist der Eiffelturm aus Stühlen zu sehen.

Das Problem der Erzählperspektive

Feuchtwangers auktorialer Erzähler durchschaut alle Figuren weit besser als die sich selbst. Der Regisseur Luc Perceval hat sich gegen einen solchen Erzähler entschieden, seine Figuren sprechen mit zwei Stimmen: einer inneren Gedankenstimme, die nur fürs Publikum hörbar ist – und einer äußeren Stimme für den Dialog mit den Mitspieler:innen.

Um die Handlung voranzutreiben, sprechen aber auch andere Ensemblemitglieder hier und da mal Erzähltexte. Das führt zur bekannten Crux von Romanadaptionen auf der Bühne: statt gespielt wird behauptet, statt miteinander gesprochen wird monologisiert. Und die Figuren wissen allzu gut Bescheid über sich.

Trotzdem muss man Perceval lassen, dass er Wälzer dieser Art mit so viel psychologischem Feingefühl für seine Protagonisten, so viel ehrlichen Emotionen zu einem spannungsreichen Plot verdichtet, dass es seine Inszenierung mit jedem Hollywood-Blockbuster aufnehmen kann. Und bitte: nichts gegen Hollywood.

Wenn Pauline Knof als Anna schließlich vom Leben im Exil zerrieben wird und den Gashahn aufdreht, ist das eine menschlich sehr bewegende Szene, Taschentücher werden gezückt. Das ist großes, wunderbares Schauspieler:innen-Theater und auch die Choreografien, bei denen Tänzer:innen auf dem Eiffelturm balancieren oder durch die Zeitungsredaktion hetzen, sind virtuos.

Eine Inszenierung, die die Tiefe verloren hat

Doch bei der Reduktion von 900 Romanseiten auf 60 kommt den Figuren das Wichtigste abhanden: ihre Ambivalenz. Während Anna und Sepp die Guten sind, leuchtet dem Opportunisten Erich Wiesener das käufliche Herz schon beim ersten Auftritt aus den Augen. Sein Konkurrent Spitzi verkommt bei Peter Moltzen, das war abzusehen, vollends zur Karikatur der Nazi-Dumpfbacke.

Vielleicht liegt es daran, dass die hoch politischen, existenziellen Anliegen, die der Roman auch heute noch hat, nicht voll durchdringen. Feuchtwanger wollte schon 1940 eine Erklärung liefern, weshalb sich so viele Menschen nicht laut genug gegen den Nazi-Terror wehren. Weil, so zeigt er auf, das Gewissen nicht an einem Tag korrumpiert wird, sondern mit hundert Tausend kleinen Entscheidungen, von der jede einzelne schwer zu treffen ist. Davon ist in Percevals schwarz-weißer Inszenierung wenig zu finden.

Welche Verantwortung haben Künstler in politisch brisanten Zeiten? Hilft nur Gewalt oder doch der intellektuelle Widerstand? Was ist das Richtige, wenn es ums eigene Überleben geht? Diese Fragen treiben einen nach gut drei Stunden Theater dann doch zu wenig um. Wir gehören ja sicher zu den Guten.

Sendung: kulturradio, 11.09.2022, 6 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

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