20 Jahre nach dem Hochwasser an der Elbe - Als die Prignitz fast untergegangen wäre

Sa 20.08.22 | 08:07 Uhr | Von Jörn Pissowotzki
Wittenberge (Brandenburg): Bundeswehrsoldaten und Feuerwehrleute entladen am 22.08.2002 am Elbedeich bei Lütkenwisch in der Nähe von Lenzen Sandsäcke von einem Amphibienfahrzeug.(Quelle:dpa/J.Büttner)
Audio: rbb24 Inforadio | 19.08.2022 | Jörn Pissowotzki | Bild: dpa/J.Büttner

Vor 20 Jahren stemmte sich die Prignitz gegen das Hochwasser - Millionen Sandsäcke wurden verbaut, um die Elbe zurückzudrängen. Die Lemckes wohnten direkt neben dem Deich. Sie erinnern sich noch gut an die Angst in diesen Tagen im August. Von Jörn Pissowotzki

Dass etwas passieren würde, war abzusehen. Die Lemckes waren damals, im August 2002, gerade aus dem Urlaub in Ungarn in ihren Heimatort Mödlich in der Prignitz zurückgekehrt. "Große, dicke Wolken haben uns verfolgt", erinnert sich Ralph Lemcke heute. Dazu kamen die Fernsehbilder von den Fluten der Elbe aus Tschechien und Dresden.

"Wir wussten nicht, was da auf uns zukommt", sagt er. Alle seien verängstigt gewesen. Die Menschen in Mödlich begannen auszuräumen.

Das Hab und Gut in Sicherheit gebracht

Im August 2022 sitzt Ralph Lemcke entspannt mit einem Wasserglas vor sich an einem Tisch neben dem Haus, in dem die Familie wohnt. Hinter einem Zaun schnattern die Gänse. Vor zwanzig Jahren mussten Lemckes auch ihre Kleintiere in Sicherheit bringen: zwölf Hühner und fünf Enten. Heide-Lore Lemcke erinnert sich daran noch genau. Wie so viele ihrer Nachbarn gab sie die Tiere bei Bekannten im nahen Mecklenburg in Obhut.

Der damalige Landrat Hans Lange spricht davon, dass im Landkreis insgesamt "20.000 Kopf Vieh" aus dem bedrohten Elbegebiet weggeschafft wurden, darunter sehr viele Kühe.

Angesichts der ansteigenden Elbe räumen Lemckes auch ihr Haus aus und bringen die Sachen weg. "Das Haus war eigentlich leer", sagt Ralph Lemcke. "Ohne Schränke".

Familie Lemcke aus der Prignitz (Quelle: rbb)Familie Lemke vor ihrem Haus in Mödlich an der Elbe

Elbe nahm riesige Ausmaße an

Alles zu retten, was möglich ist, war das Ziel der Menschen, die vor zwanzig Jahren im unmittelbaren Elbegebiet lebten - immerhin fast 20.000 Einwohner. Die Bilder der heranrückenden Flut verstärkten die Angst damals auch bei Ralph Lemcke: "Wenn man dieses große Elbvorgelände betrachtet, dann ist das ein riesiges Gebiet. Und wenn dieser Fluss diese Ausmaße annimmt, ist das schon ein reißender, großer Strom".

Eigentlich habe man kaum verstehen können, wo das ganze Wasser herkam, sagt Lemcke. Es sei unbeschreiblich gewesen: "Strudel, Bäume zogen an uns vorbei. Die Bäume, die im Elbvorgelände standen, neigten sich zur Seite und man hat gesehen, welche Macht dieses Wasser hat." Da hätte man sich schon gefragt, "wie gut unser Deich ist."

Nicht alle verlassen die Gegend

Kurz nach der Ausrufung des Katastrophenfalls in der Prignitz und einem Pegelstand von 7,34 Metern in Wittenberge folgt die Aufforderung durch den Landkreis, 37 Orte zu evakuieren, um Menschenleben zu schützen. Viele Menschen verlassen das Gebiet tatsächlich, viele bleiben aber auch - zum Beispiel Ralph und Heide-Lore Lemcke in Mödlich.

"Ein bisschen trotzig muss man schon sein", lächelt Lemcke. "Gallien will ich nicht sagen, aber wir haben dem schon getrotzt und wollten das Gebiet eigentlich nicht verlassen." Seine Frau Heide-Lore erklärt: "Unser Vorteil war, dass wir in der Freiwilligen Feuerwehr sind. Und erst zum Sandsäcke schippen gebraucht wurden und zur Deichsicherung."

 

Strudel, Bäume zogen an uns vorbei. Die Bäume, die im Elbvorgelände standen, neigten sich zur Seite und man hat gesehen, welche Macht dieses Wasser hat

Ralph Lemcke zum Hochwasser an der Elbe 2002

Täglich bis zu 6.000 Helfer im Einsatz

Bernd Lindow war damals und ist heute noch Leiter der Unteren Wasserbehörde des Landkreises in Perleberg. Auch er ist 2002 Mitglied im Krisenstab des Landkreises.

"Das Wichtigste ist die Deichverteidigung, die wir auch so organisiert haben, dass wir dann, als das Hochwasser tatsächlich da war, die gesamten über 70 Kilometer Elbdeich erhöht hatten. Aufgekadet, wie wir sagen". Der Deich wurde damals auf der gesamten Strecke um dreißig bis fünfzig Zentimeter erhöht.

2,2 Millionen Sandsäcke wurden damals in der Prignitz verbaut. Jeden Tag waren 6.000 freiwillige Helfer im Einsatz: von der Bundeswehr, vom THW, von der Feuerwehr und von der Polizei.

Einer der brenzligsten Punkte war damals Cumlosen: Wegen Bauarbeiten war dort der Deich auf mehreren hundert Metern komplett zurückgebaut - und damit faktisch nicht vorhanden. Die Baufirma baute dann zusammen mit der Bundeswehr innerhalb einer Woche einen komplett neuen Deich - der war so stabil, dass er anschließend gleich stehenblieb.

Die Jahrhundertflut vor 20 Jahren

Besser beherrschbar als zuvor

Zwanzig Jahre danach ziehen der damalige Landrat Hans Lange und der frühere Leiter des Prignitzer Katastrophenschutzes, Erich Schlotthauer, ein positives Fazit des Kampfes gegen das Hochwasser. Alle beteiligten Menschen, Organisationen und Kommunen hätten damals gut zusammengearbeitet, sagen sie.

Drei Wochen lang hatten die beiden damals kaum mal frei, saßen um acht Uhr morgens bei der Morgenlage des Krisenstabs und zwölf Stunden später bei der Spätlage mit den anderen Entscheidern zusammen.

Am Ende geht alles gut aus: Nur ein paar Häuser in Bälow laufen voll, alle anderen Ortschaften werden von der Flut verschont. Die Lemckes können ihr Haus in Mödlich wieder einräumen.

Die Hauptschäden an den Deichen in der Prignitz wurden in den Jahren danach beseitigt. Sie wurden für mehrere hundert Millionen Euro saniert. Bis auf einhundert Meter am Ringdeich in Bälow sind von den 76,4 Kilometern Hauptdeich an der Prignitzer Elbe bis heute 76,3 Kilometer erneuert worden."

Eigentlich habe man kaum verstehen können, wo das ganze Wasser herkam, sagt Lemcke. Es sei unbeschreiblich gewesen: "Strudel, Bäume zogen an uns vorbei. Die Bäume, die im Elbvorgelände standen, neigten sich zur Seite und man hat gesehen, welche Macht dieses Wasser hat." Da hätte man sich schon gefragt, "wie gut unser Deich ist."

Jetzt ist es zu trocken

"Wir können nicht sagen, dass wir auf alle Ewigkeit geschützt sind", sagt Bernd Lindow, der Leiter der Unteren Wasserbehörde der Prignitz. Hochwasser bleibe eine Gefahr - dabei spiele auch der Klimawandel eine Rolle. Sichere Vorhersagen, wann das nächste große Hochwasser kommt, gibt es nicht. "Wir müssen darauf vorbereitet sein, auch auf ein Ereignis, das über die Hochwasserschutzanlagen drüber geht." So sind weitere Erhöhungen der Deiche im Gespräch.

Die Lemckes wollen jedenfalls hierbleiben. Und zur Zeit bereitet ihnen die langanhaltende Trockenheit viel mehr Kopfzerbrechen. "Jetzt fehlt uns das Wasser", sagt Ralph Lemcke. "Die Landwirtschaft leidet, die Feuchtigkeit im Boden fehlt, es gibt Risse in den Häusern. Also auch da gibt es Schäden durch die Klimaveränderungen."

Und seine Frau Heide-Lore legt nach: "Man muss jetzt umdenken, wenn man jetzt auch weiterhin Viehzucht betreiben will. Es wird irgendwann richtig schwer werden, die Menschen auch wirklich zu versorgen."

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 19.08.2022, 14:07 Uhr

Beitrag von Jörn Pissowotzki

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