Opferaussagen im Prozess um Kriegsverbrechen - "Ich fühlte, dass mein Körper zersplittert"

Fr 28.10.22 | 17:49 Uhr | Von Ulf Morling
Vorderseite des Kammergerichts in Berlin-Schöneberg (Quelle: rbb/U. Morling)
Audio: rbb 88.8 | 28.10.2022 | Ulf Morling | Bild: rbb/U. Morling

Ein Syrer muss sich seit August wegen Kriegsverbrechen vor dem Kammergericht Berlin verantworten. Er soll als Mitglied einer Assad-Miliz in Damaskus in eine Gruppe gefeuert haben, die für Lebensmittel anstand. Jetzt sagten zwei Opfer aus. Von Ulf Morling

Mindestens 500 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, sollen am 23. März 2014 im Flüchtlingslager Al Yarmouk angestanden haben, als eine UN-Hilfsorganisation Lebensmittel verteilte. Das Lager in Damaskus, der Hauptstadt Syriens, soll von assadtreuen Milizen bewacht worden sein, zu denen auch der Angeklagte Moafak D. (55) gehört haben soll.

Weil der Sohn seiner Schwester wenige Tage zuvor von der regierungsfeindlichen "Freien syrischen Armee" (FSA) getötet worden sein soll, schoss der Angeklagte laut Bundesanwaltschaft aus Rache mit einer Panzerabwehrwaffe eine Granate in die Menschenmenge.

Mindestens sieben Menschen soll der Angeklagte dabei getötet und unzählige zum Teil lebensgefährlich verletzt haben. Unter anderem wird dem 55-Jährigen siebenfacher Mord vorgeworfen, aber auch Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung "im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt". Der Angeklagte schweigt am Freitag zu den Tatvorwürfen, die ihn lebenslang hinter Gitter bringen könnten.

"Die Hungersnot war oft tödlich"

Am Tattag waren viele um 7.30 Uhr morgens von zu Hause losgeeilt, um rechtzeitig bei der Ausgabe der Lebensmittelpakete des "Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten" dabei zu sein. "Ich hatte lange vorher absolut nichts gegessen. Es war eine sehr schwere Zeit, weil ich ja auch nicht mehr der Jüngste bin", sagt Youssuf A. (57) als Zeuge im Kammergericht aus.

Geld und Feuerzeug hätten ihm die assadtreuen Milizen an einem Kontrollpunkt abgenommen. Sein Nokia-Handy hätten die Männer auch haben wollen, aber einer der Männer habe gesagt, die anderen sollten es ihm lassen. Laut Bundesanwaltschaft hatten bis zu 1.500 Menschen an jenem 23. März 2014 in dem von syrischen Sicherheitskräften abgeriegelten palästinensischen Flüchtlingslager ausgehungert auf Lebensmittel gewartet.

Die Bewohner wurden der Unterstützung der gegnerischen Freien Syrischen Armee (FSA) bezichtigt. Nach dem Erhalt eines Paketes habe er von hinten Schüsse eines Maschinengewehrs gehört, er sei zu einem Sandhügel gerannt und dann sei "dieses Geschoss von hinten eingeschlagen, wo die Systemangehörigen anwesend waren".

Er habe gefühlt, wie sein Körper zersplittere. Er habe leblose Körper herumliegen sehen, schwer Verletzte seien weggeschleppt worden. Mehrere Granatsplitter drangen unter anderem in A.s Oberkörper ein und sind bis heute nicht entfernt. "Ich habe noch sechs Splitter in der Lunge", sagt der Zeuge, der später aus dem Lager flüchten konnte, "aber meine Frau und Kinder blieben dort." Jetzt lebt der 57-Jährige in Berlin.

Man hätte sterben können, aber ich war gezwungen, so ein Lebensmittelpaket zu bekommen.

Zeugenaussage des zweiten Opfers

Das Leben riskiert für ein Lebensmittelpaket

"Man hätte sterben können, aber ich war gezwungen, so ein Lebensmittelpaket zu bekommen", sagt das zweite Opfer aus, das im Prozess um Kriegsverbrechen in Syrien als Nebenkläger auftritt. Auch dieses mutmaßliche Opfer einer Granate hatte versucht, nach dem Verteilen der Hilfslieferung in dem abgeriegelten Stadtteil von Damaskus nach Hause zu gehen. "Ich habe das Rauschen des Geschosses über meinem Kopf gehört, dann ist es eingeschlagen. Etwas Schweres und Scharfes ist in meinen rechten Oberschenkel eingedrungen."

Ein junger Mann mit Fahrrad habe ihn weggebracht, mit einem abgeschnittenen Stromkabel sei sein Bein abgebunden worden, um die Blutung zu stoppen. Der Syrer beschreibt im Gerichtssaal wortreich und ergriffen die Situation der auf Essen wartenden Frauen, Kinder und wenigen Männer, von denen nach der Explosion der Granate viele am Boden gelegen hätten.

Ein Kind habe einen offenen Bauch gehabt. Auch dieser Zeuge macht teilweise widersprüchliche Angaben darüber, ob er den Angeklagten am Tattag gesehen hat. Bei der Polizei soll er angegeben haben, Moafak D. nicht bemerkt zu haben, bei anderer Gelegenheit soll er von einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit gesprochen haben, den Angeklagten vor Ort gesehen zu haben. D. müsse aber dagewesen sein, denn andere hätten erzählt, dass er die Granate abgeschossen habe.

Vorwürfe der Bundesanwaltschaft zu begrenzt?

Nebenklageanwalt und Menschenrechtler Patrick Kroker kritisiert im Zusammenhang mit der Anklage die Bundesanwaltschaft. Zwar sei die juristische Einordnung des Tatvorwurfs der Kriegsverbrechen in einem nichtinternationalen Konflikt richtig, aber zu begrenzt. "Man hätte im Sinne der Opfer den Blickwinkel weiter spannen können", so Kroker. Neben des Feuerns mit einer Granate im Flüchtlingslager Yamouk hätten die Menschheitsverbrechen, die der Rahmen für das mutmaßliche Verbrechen des Angeklagten waren, im Sinne der Opfer thematisiert werden können.

Es seien die Menschen systematisch ausgehungert, vergewaltigt und gefoltert worden, Taten, "die direkt von Assad gesteuerte Milizen begangen haben." In diesem Rahmen sei es zu der Schussabgabe gekommen. Diesen zu verhandeln sei löblich, zu mehr komme man so aber nicht.

Unter Umständen hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts ähnliche Kritikpunkte bei der Anklage der Bundesanwaltschaft: die fünf Richter:innen erwägen ein zweites sogenanntes Selbstleseverfahren in dem Prozess, in dem unter anderem die internationalen Hintergründe und die Dimension der mutmaßlichen Tat des Angeklagten auch im Urteil weiter gefasst werden könnte. So soll das am Freitag mündlich vorgetragene Gutachten von Geschichts- und Islamwissenschaftler Guido Steinberg über den internationalen Syrienkonflikt und Bürgerkrieg dort auch mit seinen schriftlichen Ergänzungen vertieft werden.

Staatsfolter in Syrien: rechtskräftiges Urteil in Deutschland

Im April 2022 war im ersten Prozess zur Staatsfolter in Syrien ein Mann wegen Beihife zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren rechtskräftig verurteilt worden. Der Angeklagte hatte für den syrischen Geheimdienst gearbeitet. Nach einer friedlichen Demonstration 2001 hatte der Geheimdienst das Feuer eröffnet. Der Angeklagte hatte danach Demonstranten ins Gefängnis transportiert, wo sie unter anderem Folter erwartete. Im erstinstanzlichen Urteil war das Vorgehen von Staatschef Baschar Al-Assad als systematischer Angriff auf die eigene Bevölkerung bewertet worden.

Bis zum 24. Februar 2023 ist der Prozess gegen Moafak D. wegen des tödlichen Angriffs auf die Zivilbevölkerung im Flüchtlingslager Al Yamouk terminiert. Unter anderem werden noch zahlreiche weitere Zeugen erwartet.

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.10.2022, 15:25 Uhr

Beitrag von Ulf Morling

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