Interview | Digitale Streetworkerin - "Die sozialen Medien allein sind kein Grund, um eine Essstörung zu entwickeln"

Mi 13.03.24 | 06:02 Uhr
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Symbolbild: Essstoerung bei Jugendlichen durch Smartphone Nutzung am 03.05.2021.(Quelle: picture alliance/Ute Grabowsky)
Video: rbb24 Brandenburg Aktuell | 13.03.2024 | Helena Daehler | Bild: picture alliance/Ute Grabowsky

Social Media Trends wie die "Legging Legs" und Hashtags wie #thinspo glorifizieren gefährliche Körperbilder. Sabine Dohme spricht als digitale Streetworkerin im Netz gezielt junge Menschen mit einem Risiko für Essstörungen an. Was sind ihre Erfahrungen?

Die Betroffenen von Essstörungen in Berliner und Brandenburger Kliniken werden immer jünger. Aktuelle Studien geben Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Nutzung von sozialen Medien und der Entwicklung von Essstörungen.

Aber: Für viele ist Social Media auch Teil des Heilungsprozesses. Über ihre Kanäle dokumentieren sie ihre "Recovery" oder tauschen sich mit anderen Betroffenen aus. Sabine Dohme ist als digitale Streetworkerin im Netz unterwegs und im Austausch mit jungen Menschen mit einem Risiko für Essstörungen.

rbb|24: Frau Dohme, fragwürdige Schönheitsideale gab es schon immer. Was ist heute anders in den sozialen Medien?

Sabine Dohme: Junge Mädchen vergleichen sich nicht mehr – wie wir vielleicht früher – mit ihrer Freundin und ihrem Freundeskreis, sondern mit der ganzen Welt. Die sozialen Medien öffnen dieses Fenster in die ganze Welt. Damit gibt es jetzt Vergleiche mit Frauen, aber auch Männern, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als ihre Social-Media-Kanäle professionell zu füllen.

Ich vergleiche mich jetzt mit einer Kim Kardashian, früher hätten wir nie erfahren, dass es überhaupt eine Kim Kardashian gibt. Also es gibt Vorbilder, die eigentlich nicht mehr für die Mädchen zu regulieren und richtig einzuschätzen sind.

Welche Rolle spielen heute Filter dabei?

Studien zeigen, dass junge Mädchen, bevor sie ein Foto posten, bis zu 30 Filter testen. Es kann kein Foto mehr einfach gepostet werden – ich vor meiner Geburtstagstorte – sondern ich muss mich eine Stunde mit dem Foto beschäftigen, bevor ich der Meinung bin, dass es schön ist.

Man muss sich vergegenwärtigen, was es für einen jungen Menschen bedeutet, wenn er das Bedürfnis hat, sein Gesicht so anzupassen, dass es in das heutige Schönheitsideal passt. Es spielt keine Rolle mehr, ob ich klug bin oder ob ich ganz tolle Interessen habe, sondern es zielt nur noch auf das Bild und den perfekten Körper ab.

zur Person

Sabine Dohme (Quelle: ANAD)
ANAD

Sabine Dohme ist pädagogische Fachkraft beim Versorgungszentrum ANAD, einer Anlaufstelle für Essstörungen in München. Sie betreut das digitale Streetwork federführend.

Seit September bietet ANAD digitales Streetworking an. Was ist daran neu?

Die Idee dahinter ist, dass wir in die digitale Welt der Jugendlichen eintauchen, sie dort finden und dann Hilfsprogramme im Analogen anbieten. Wir gehen gezielt ins Internet, in die sozialen Medien, und sprechen speziell zu unserem Thema User:innen an. Wir sind zum Beispiel unterwegs in "gutefrage" - das ist das größte deutschsprachige Forum. Dort beobachte ich alles, was zum Thema Ernährung, Essstörungen und ähnlichem aufpoppt.

Wenn ich merke, die Frage kommt mir komisch vor, dann gehe ich in die digitale Kommunikation. Ich spreche die Personen an, sage, ich habe das Gefühl, da läuft etwas nicht so gut bei dir, hast du Probleme, kann ich dir helfen? Es geht darum, über das Thema zu informieren. Es geht auch darum, Informationen einzuordnen: Schau nochmal hin, ist das richtig?

Wie wird dieses digitale Streetworking angenommen?

Bisher habe ich sehr positive Erfahrungen gemacht. Die Rückmeldungen auf meine Fragen oder meine Antworten sind positiv. Aber natürlich werde auch ich erstmal ein bisschen als Fremdkörper betrachtet. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch viele User gibt, die mich beobachten. Aber das bekomme ich im Hintergrund nicht mit.

Für mich ist nur wichtig: Reagiert der- oder diejenige darauf, war es hilfreich? Mein erster Schritt ist immer, zu sagen: Ich merke, es geht dir nicht gut. Wieso ist es denn so wichtig für dich, was du wiegst? Was ist so wichtig daran, dass die anderen dich toll finden?

Was sind für Sie klassische Warnhinweise auf eine Essstörung?

Das ist ganz vielschichtig. Diäten sind für mich immer ein Signal. Ich werde aber auch hellhörig, wenn über exzessiven Sport gesprochen wird. Dann schaue ich genau hin, ob Mädchen etwa Bilder posten, was sehr oft vorkommt. Auch Männer posten Bilder mit der Frage: Ist mein Körper gut, bin ich zu dick oder zu dünn?

Schreibt beispielsweise ein Mädchen, dass Ihre Eltern ihre Portionsgrößen kommentieren, versuche ich sie zu ermutigen, auf ihr Bauchgefühl zu hören und die Eltern zu bitten, dies künftig zu unterlassen.

Gab es schon Erfolge, bei denen die digitale Kontaktaufnahme eine klassische Beratung nach sich gezogen hat?

Ja, das können wir messen. Zur Anmeldung bei der Onlineberatung werden Betroffene gefragt, wie sie zur Beratung gekommen sind. Da können sie dann angeben: Durch Instagram oder Facebook, durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder durch das digitale Streetwork. Insgesamt führen wir im Jahr etwa 1.000 Beratungen durch – über Video, E-Mail, Telefon und jetzt das digitale Streetwork. Ich habe eine messbare Einheit und kann sehen: Okay, die kommen über unsere aufsuchende Arbeit im Netz.

Inwiefern wurde mit dem neuen digitalen Schritt eine Leerstelle ausgefüllt?

Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass die Jugend heute nicht mehr analog unterwegs ist, sondern digital. Da gab es wirklich eine digitale Leerstelle. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns als Sozialarbeiter da tummeln, wo sich die Jugendlichen tummeln, wo der Austausch stattfindet, über Internet-Foren, soziale Medien. Und deswegen muss das moderiert werden, das ist ganz wichtig.

Können Sie eine Tendenz erkennen, wer von Essstörungen betroffen ist?

Die von Essstörungen betroffenen werden immer jünger. Das ist eine klare Tendenz. Wir haben teilweise bei ANAD Anfragen von Müttern, deren sechsjährige Kinder schon Störungen entwickeln. Es gibt aber auch neue Gruppen, Essstörungen bei Männern steigen zum Beispiel immer mehr an. Auch ältere Personen geraten in Essstörungen.

Wie erklären Sie sich solche jungen Fälle wie von sechsjährigen Kindern?

Eine Ursache ist das Vorbild Eltern: Wie gehen Eltern mit Essen um, sind sie immer dabei, Essen zu beobachten, zu bewerten, darüber zu reden? Ist überhaupt ein entspanntes Essen möglich? Es gibt auch Eltern, die nie im Beisein ihrer Kinder essen. Sondern die Kinder müssen alleine essen, weil die Eltern nicht wollen, dass die Kinder sie beim Essen beobachten.

Wie hoch schätzen Sie dann also den Einfluss der sozialen Medien beim Thema Essstörung ein?

Die sozialen Medien allein sind kein Grund, um eine Essstörung zu entwickeln. Sie sind vielleicht noch das Tüpfelchen auf dem i-Punkt, damit sich eine Essstörung entwickelt.

Können TikTok und Co. auch einen positiven Effekt haben?

Ja, da sprechen Sie den Fluch und den Segen von sozialen Medien an. Natürlich gibt es auch einen positiven Effekt: Jugendlichen wird die Welt geöffnet, sie können sich zusammenfinden und über gemeinsame Themen sprechen. Schwierig ist immer, dass das Monitoring fehlt. Es wird nicht qualifiziert geantwortet, sondern jeder kann alles sagen. Wir müssen lernen, Jugendliche in sozialen Medien zu begleiten. Dann kann man absolut was Positives sehen.

Es gibt auch Recovery Kanäle, bei denen ein Jugendlicher anderen aus der Essstörung herausgeholfen hat. Aber auch das sehe ich ein bisschen kritisch: Auch hier wird wieder das Bild in den Vordergrund gestellt. Das schöne Essen. Vorher war es das schöne Gesicht, der schöne Körper, jetzt eben das schöne Essen. Und was machen die Jugendlichen dann damit? Wird es gegessen, wird es weggeschmissen? Das kann keiner kontrollieren.

Was muss passieren, damit gerade Jugendliche sich wieder selbst anschauen können und wieder einen liebevollen Umgang mit sich selbst bekommen?

Da gibt es ganz unterschiedliche Ansätze. Ein großer Ansatz ist die Erziehung. Wenn Eltern auf Äußerlichkeiten fixiert sind, auf schöne Bilder, wenn ich das schon bei meinen Eltern erlebe, dann liegt es nahe, dass ich das übernehme. Dazu kommt die Medienkompetenz. Jugendliche müssen wissen, dass diese Bilder nicht real, sondern gefaked sind. Ein stabiler Freundeskreis, ein gesundes Selbstwertgefühl, die Gedanken auch auf andere Themen lenken - das ist eine gute Prävention, um nicht in diese Falle zu tappen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Jonas Wintermantel, rbb|24.

Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 13.03.2024, 19:30 Uhr

1 Kommentar

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  1. 1.

    Es gibt für keine Psychische Störung eine alleinige auslösende Ursache. Soziale Medien bergen aber durch den dort entstehenden Gruppendruck ein sehr hohes Potential, falsche Trends zu setzen und immer weiter zu verstärken, gerade bei Menschen, die charakterlich (noch) nicht so gefestigt sind, sich dem zu widersetzen. Diese Medien haben in den letzten Jahren schon mehrere lebensgefährliche Challanges ausgelöst und angefeuert, da gerade bei Kindern und Jugendlichen die vermeintliche "Anerkennung" durch Likes eine wahre Währung ist. Darin liegt die Gefahr, wenn solche Trends nicht von den Anbietern unterbunden werden.

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