Immer mehr Spitzenathleten betroffen - Wie der Klettersport mit dem Problem der Mangelernährung umgeht

Fr 08.03.24 | 16:21 Uhr | Von Lukas Witte
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Eine Kletterwand (imago images/Panthermedia)
Bild: imago images/Panthermedia

Eine Mangelernährung kann im Leistungssport zu einem gefährlichen Energiedefizit führen. Gerade im Klettersport nimmt das Problem zu, weil sich Athleten einen Vorteil durch geringes Gewicht erhoffen. Nun will der Weltverband dagegen angehen. Von Lukas Witte

Mehrmals in der Woche wird die moderne Halle der Berliner Sektion des Deutschen Alpenvereins (DAV) in Moabit zum Treffpunkt kletterbegeisterter Jugendlicher. Die Trendsportart hat in den vergangenen Jahren viele neue Anhänger gefunden, weshalb der drittgrößte Verein der Stadt sein Angebot – gerade für Jugendliche – mittlerweile enorm ausgebaut hat.

In den verschiedenen Gruppen geht es dabei aber längst nicht nur ums reine Klettertraining. Die Jugendlichen sollen neben ihrer sportlichen auch bei ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt werden. "Es gilt eine Kultur und eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle willkommen sind", erklärt Frederico Göpelt, Jugendreferent im Vorstand des DAV Berlin.

Es gibt definitiv genügend Fälle, um zu sagen, dass es ein wichtiges Thema ist

DAV-Berlin-Jugendreferent Frederico Göpelt zu Mangelernährung im Klettersport

Bodypositivity als Präventionsmaßnahme

Dabei ist vor allem ein Thema im Fokus: das Körpergewicht. "Körpergewicht ist nicht nur ein Leistungskriterium, sondern darüber hinaus in der Praxis der Jugendarbeit auch ein Sicherheitsfaktor. Wir sprechen das Körpergewicht sehr offen an, weil es für die gegenseitige Sicherung beim Klettern relevant ist", so Göpelt.

Das soll aber so sensibel wie möglich geschehen. Die Übungsleitenden und Betreuenden beim DAV Berlin halten sich an verbindliche pädagogische Module, was den Umgang mit Körpergewicht angeht. "Wir sprechen nicht direkt an, wie jemand aussieht. Das ist tatsächlich auch sanktioniert bei uns", sagt der Jugendreferent. Auch das Klettern mit freiem Oberkörper und das Umziehen außerhalb der Umkleidekabinen ist deshalb verboten.

Bodypositivity ist eines der Hauptthemen bei den jungen Kletterern – und Teil einer Präventionsmaßnahme. Denn die Sportart hat ein Problem: Essstörungen und Mangelernährung. "Es gibt definitiv genügend Fälle, um zu sagen, dass es ein wichtiges Thema ist", erklärt Göpelt.

Jeder zehnte Spitzenkletterer betroffen

Im vergangenen Sommer hatte der Mediziner Dr. Volker Schöffl eine große Debatte in der Trendsportart angestoßen. Der deutsche Sportarzt war 14 Jahre lang Teil der Medical Commission des Kletter-Weltverbands (IFSC) gewesen und hatte dabei den gefährlichen Trend ausgemacht. Immer mehr Kletterinnen und Kletterer seien mangel- und minderernährt, um an der Kletterwand weniger Gewicht in die Höhe ziehen zu müssen und sich so einen Vorteil zu verschaffen.

Eine Studie aus dem Jahr 2022 geht davon aus, dass rund jeder zehnte Leistungs-Kletterer von Mangelernährung betroffen ist. Vor allem seit der Aufnahme der Sportart in den olympischen Katalog habe dieses Phänomen stark zu genommen, berichtete Schöffl im vergangenen Sommer. In der Weltspitze gebe es Athletinnen und Athleten mit Essstörungen, die eigentlich nicht starten dürften. Weil die IFSC seiner Ansicht nach nicht konsequent genug dagegen vorging, verließ der deutsche Arzt aus Protest die medizinische Kommission.

Nicht nur im Klettersport sind Essstörungen ein Problem. Fast in allen Sportarten, in denen geringes Gewicht einen Vorteil bietet, oder in denen Ästhetik mitbewertet wird, häufen sich die Fälle. Prominente Beispiele sind Skispringer Sven Hannawald oder auch die Weltklasse-Biathletin Miriam Neureuther und Turnerin Kim Bui, die kürzlich gemeinsam in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks auf das Thema und ihre Erfahrungen damit aufmerksam machten. Oft waren es dabei auch Trainerinnen und Trainer, die zur Gewichtsabnahme drängten.

Energiedefizit mit schweren Folgen

Mangelernährung ist für Leistungssportlerinnen und -sportler besonders gefährlich, denn sie haben durch hartes Training und Wettkämpfe einen deutlich höheren Energiebedarf als die Normalbevölkerung. Betroffene entwickeln mit der Zeit ein sogenanntes "relatives Energiedefizit im Sport", kurz RED-S. Bei dem Syndrom steht dem Körper nicht genug Energie zur Verfügung, um alle Körperfunktionen abzudecken – mit teils schwerwiegenden Folgen.

Der Körper schaltet in eine Art Energiesparmodus und unterdrückt nicht-essenzielle Prozesse. Es verlangsamt sich der Herzschlag und der Hormonhaushalt verschiebt sich. Weitere Folgen können das Ausbleiben der Regelblutung bis hin zur Unfruchtbarkeit, Verdauungsprobleme, Ermüdungsfrakturen und Osteoporose, Funktionsstörungen der Nieren und der Leber, Depression und auch kognitive Einschränkungen sein.

Betroffene können teils jahrelang mit dem Syndrom leben, bevor ihre sportliche Leistungsfähigkeit einbricht, weshalb sie die Grenzen ihres Körpers nicht erkennen. Je länger sie jedoch in diesem Mangelzustand bleiben, desto schwieriger ist es, die erlernten Muster einer Essstörung wieder abzulegen. So plagen Betroffene zum Beispiel oft Bauchschmerzen, wenn sie wieder versuchen mehr zu essen, weil dem Körper die Energie zur Verdauung fehlt. Es ergibt sich eine Negativspirale, deren Folgeschäden nach einer Weile schwer und irreparabel sein können.

DAV setzt auf Screenings und Prävention

Der Bundesverband des DAV hat das Thema RED-S schon länger auf dem Schirm. "In körpergewichtssensitiven Sportarten wie dem Sportklettern, in denen das Körpergewicht gegen die Schwerkraft bewegt werden muss, besteht ein höheres Risiko für Essstörungen, als in anderen Sportarten. Darüber hinaus wissen wir, dass Leistungssportler:innen häufiger betroffen sind, als Freizeit- und Breitensportler:innen", berichtet der DAV-Bundestrainer für Bildung und Wissenschaft, Nico Schlickum.

Man kann es nicht an der Nasenspitze ansehen. Nicht jeder normalgewichtiger Mensch hat kein Problem mit dem Thema Ernährung und nicht jeder dünne hat direkt eine Essstörung

Bundestrainer Nico Schlickum

Nicht immer sei es dabei leicht, Betroffene zu identifizieren. "Man kann es nicht an der Nasenspitze ansehen. Nicht jeder normalgewichtige Mensch hat kein Problem mit dem Thema Ernährung und nicht jeder dünne hat direkt eine Essstörung", so der Bundestrainer. Deswegen sei die Vertrauensarbeit und das Schaffen verschiedener Anlaufstellen enorm wichtig, damit Athletinnen und Athleten die Möglichkeit haben zu kommunizieren, dass sie Probleme haben und Hilfe benötigen.

Hinzu kommen medizinische Screenings der Spitzenkletterer. Bei allen nationalen Titelwettbewerben werden Kontrollmessungen des Body-Mass-Index (BMI) durchgeführt. "Athlet:innen, die am Wettkampftag ein zu geringes Körpergewicht haben, wird nach dem Wettkampf so lange die Lizenz entzogen, bis sie Daten vorlegen, die eine Unbedenklichkeit attestieren. Ansonsten haben sie keine Möglichkeit, an weiteren Wettbewerben teilzunehmen", erklärt Schlickum.

Weltverband hat das Problem mittlerweile erkannt

Der DAV ist mit seiner Strategie einer der Vorreiter. Lange wurde das Problem von RED-S im Spitzensport vernachlässigt und kaum diagnostiziert. Das Skispringen war die erste Sportart, in der es ein wirkliches Konzept gab, um Mangelernährung zu vermeiden. Mittlerweile hat man aber auch beim Kletter-Weltverband Handlungsbedarf gesehen und im Februar dieses Jahres strengere Regeln eingeführt.

Die Athletinnen und Athleten müssen zu Beginn der Saison zwei Fragebögen ausfüllen, in denen sie neben medizinischen Daten auch Angaben zur Gefühlslage, Trainingsablauf, Essverhalten und Frauen auch zu ihrem Zyklus machen müssen. Anhand dieser Angaben sollen die nationalen Verbände dann entscheiden, ob die Sportlerinnen und Sportler für den Wettkampf freigegeben werden, oder Auffälligkeiten zeigen und erst weitere Untersuchungen stattfinden sollen.

Außerdem speichert auch die IFSC die Daten und führt im Rahmen von Wettkämpfen zufällige Kontrollen des BMI, der Herzrate, des Blutdrucks und der Knochenstruktur durch. Bei Abweichungen kann der Athlet weiter untersucht werden und im Zweifelsfall von einem unabhängigen Beratungskomitee gesperrt werden.

IFSC setzt auf Vertrauen

Auch wenn der DAV grundsätzlich die Einführung eines strengeren Reglements begrüßt, äußert Bundestrainer Schlick Kritik. "Ich kann nachvollziehen, dass die IFSC nicht für alle Athlet:innen die Gesundheitsfürsorge betreiben kann. Das muss bei den nationalen Verbänden im direkten Umfeld der Sportler geschehen. Aber wenn ich die Verantwortung delegiere, muss ich auch die Kontrollen intensivieren. Und da liegt meine größte Kritik."

Denn der Weltverband hatte zuvor verpflichtende BMI-Messungen für alle Halbfinalteilnehmerinnen und -teilnehmer eines internationalen Wettkampfs durchgeführt, welche nun zu Gunsten unregelmäßiger Stichpunktkontrollen wegfallen.

Wenn wir alles im Sport auf eine freiwillige Selbstverpflichtung reduzieren, dann muss man leider befürchten, dass das nicht alle wahrheitsgemäß tun. Schließlich droht der Verlust der Wettkampflizenz.

Nico Schlickum über die Fragebögen der IFSC

Auch die Fragebögen als Grundstein der Kontrolle hält Schlick für wenig sinnvoll. "Das Beantworten von Fragebögen beruht immer darauf, dass man davon ausgeht, dass diese wahrheitsgemäß beantwortet werden. (…) Teil einer Essstörung ist es aber auch, überzeugt davon zu sein, dass man kein Problem hat. Wir finden dieses Vorgehen deshalb ein Stück weit kritisch, denn es funktioniert nur, wenn alle wahrheitsgemäß antworten. Wenn wir alles im Sport auf eine freiwillige Selbstverpflichtung reduzieren, dann muss man leider befürchten, dass das nicht alle wahrheitsgemäß tun. Schließlich droht der Verlust der Wettkampflizenz."

Prävention statt Kontrolle in Berlin

Auch im Kletterzentrum in Moabit gibt es Skepsis. "Wir haben eine Leistungsgruppe, die an die Jugend angegliedert ist, die sich klar dagegen ausgesprochen hat, das Gewicht für die Athletenakte zu erheben", sagt der Berliner Jugendreferent Göpelt. Gerade in der Jugend wolle man eher auf einen gesunden Umgang mit dem eigenen Körper, statt auf Kontrolle und die Erhebung von sensiblen Daten setzen.

"Die Risikobewertung im Bergsport ist eigentlich jedes Menschen eigene Sache. Wir versuchen zu schulen und aufzuklären, aber am Ende müssen die Personen das Gelernte selbst anwenden. (…) Und nur wenn das nicht funktioniert, würden wir zu strengeren Regeln greifen", so Göpelt.

Bislang war das bei der Berliner Sektion des DAV nicht notwendig. Und durch die gute Aufklärung gehen die Spitzenkletterinnen und -kletterer von morgen zumindest mit einem großen Wissen um die Problematik in den Leistungsbereich. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob auch die Strategie des Weltverbands aufgeht, und RED-S nach und nach wieder aus der Sportart verdrängt werden kann.

Sendung: Der Tag, 08.03.2024, 19:15 Uhr

Beitrag von Lukas Witte

6 Kommentare

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  1. 6.

    Es ist wie überall - die Mischung machts. Nicht wenige Muskelberge sind gelenkig wie 'ne Brechstange und haben in der dritten Etage - ohne Einkaufstüten - schon Schnappatmung. Beim Klettern sind aber eine Vielzahl von Fähigkeiten erforderlich - Kraft allein hilft nicht. Der Sportler sollte generell für sich erkennen wie weit er gehen kann ohne seinem Körper Schaden zuzufügen. Hier sind auch Trainer und Therapeuthen gefragt darauf zu achten. Die ollen Römer hatten mit "Mens sana in corpore sano" schon recht. Denn zum Geist gehört auch auf die Signale des Körpers zu hören, sich ausgewogen und der Leistung entsprechend zu ernähren und zu merken und zu akzeptieren, auch wenn es manchmal echt hart ist, das der Zenit erreicht ist.
    Übrigens @ "toberg" ... Sport ist Mord, oder No Sports. Der Herr, dem das zugeschrieben wird, war in jüngeren Jahren
    Boxer, Schütze, Reiter, Polospieler, Schwimmer und nahm betagt noch an Fuchsjagden teil.

  2. 5.

    Wäre es nicht besser, zu versuchen Muskeln und somit auch Koerpergewicht aufzubauen um schneller, besser, stärker zu sein?

  3. 4.

    Der Artikel war
    interessant, hatte was Wachmachendes weil unbekannt gefährliches... Mangelernährung. Wegen spezieller Anforderungen. Bei der Sportart. Unter anderem. Beunruhigend.

  4. 2.

    >"Mensch fragt sich ob "Leistungssport" doch mehr schadet also nützt..."
    Definitiv! In Schulzeiten hieß es beim Thema Sportstunde immer "Sport ist Mord!". Scheint ja was dran zu sein, wenn die eigene Gesundheit leidet. Gut, dass ich das mit der Leistung im Sport immer nie so ernst genommen habe. Die 4 und 5 wegen schlechter Sportleistung waren mir da lieber als Gesundheitsquälerei ;-))

  5. 1.

    Mensch fragt sich ob "Leistungssport" doch mehr schadet also nützt, erst recht wenn nicht viel Geld damit zu verdienen ist

    Auch die Radsportler bekommen ganz genau vorgeschrieben wie viel (oder vielmehr wie wenig) sie essen sollen/dürfen

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