Jüdische Schicksale im Nationalsozialismus - Und dann stand er plötzlich in Luckenwalde vor der Tür

Fr 08.11.13 | 13:19 Uhr | Von Susanne Bruha
Werner Scharff in Begleitung einer Dame (Bild: Gedenkstätte Stille Helden)
Video: Inforadio | 25.10.2013 | Beitrag von Max Ulrich

Er hatte Mut und nutzte seine bescheidenen Möglichkeiten, um gegen das NS-Regime zu arbeiten: Der Berliner Jude Werner Scharff half Menschen, die auf ihre Deportation warteten, floh selbst aus dem KZ Theresienstadt und rief zusammen mit Helfern per Kettenbrief zum passiven Widerstand gegen das NS-Regime auf. Die Gruppe rettete mehreren Juden das Leben. Werner Scharff selbst aber wurde kurz vor Kriegsende ermordet. Von Susanne Bruha

Als die Nazis 1942 aus dem jüdischen Altenheim an der Großen Hamburger Straße eine Deportationssammelstelle machten, nutzte Werner Scharff seine Position, um Menschen zu helfen. Bereits als das Gebäude noch Altenheim war, war er dafür zuständig, die elektrischen Anlagen in Ordnung zu halten. "Er hat genau gewusst, was in diesem Gebäude passiert, er kannte alle Angestellten, er kannte die Gestapo-Leute und er hatte Bewegungsfreiheit", erzählt Barbara Schieb, Historikerin der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Das nutzte Werner Scharff, der damals etwa Ende 20 war. "Die Angehörigen kamen zu Scharff nach Hause in Kreuzberg in die Gethiner Straße und er zog jeden Tag mit vollgepackten Rucksäcken zur Arbeit in die Große Hamburger und hat hier den Menschen, die auf die Deportation warteten, Kleinigkeiten, Briefe, Lebensmittel, kleine Andenken zustecken können", sagt Historikerin Schieb. Den eigenen Bruder Steffen Scharff holt er sogar wieder aus der Sammelstelle raus, zieht ihm einen Monteursanzug über und gibt ihn als Mitarbeiter aus.

Werner Scharff gelang die Flucht aus dem KZ Theresienstadt

Als im Sommer 1943 auch die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde deportiert werden taucht Scharff unter. Sechs Wochen später wird er von einem Gestapomann auf der Straße erkannt, verhaftet - und landet an seinem ehemaligen Arbeitsplatz.

Heute steht an der Stelle kein Gebäude mehr. Verschiedenfarbige Steine markieren die Grundmauern des Gebäudes.

Passbild Werner Scharff (Bild: Gedenkstätte Stille Helden)
Der Pass von Werner Scharff

Wahrscheinlich auf dem Transport ins Konzentrationslager Theresienstadt bekommt Scharff von einem jüdischen Ehepaar die Adresse von einem gewissen Hans Winkler in Luckenwalde. Das Paar wollte dort ursprünglich untertauchen.

Hans Winkler war ein einfacher Justizangestellter, der im Amtsgericht ganz genau mitbekam, was die Nazis anrichteten, und zum flammenden Gegner wurde. Privat baute er in Luckenwalde ein Netzwerk auf, das kontinuierlich zwischen sechs und zehn Juden versteckte.

Unter den Versteckten war auch Eugen Herman-Friede. Er lernte Werner Scharff im September 1943 kennen. Da stand Scharff plötzlich vor der Tür des Hauses, in dem der damals 17-jährige Friede lebte. Scharff war nach einem Monat Haft aus Theresienstadt geflohen. Er wollte sich nicht unterkriegen lassen und er hatte Mut.

"Juden verstecken schön und gut, aber das allein reicht nicht. Wir müssen mehr machen." Das habe Scharff zu Winkler gesagt, erzählt Eugen Herman-Friede. Scharffs Idee: "Flugblätter in Form von Kettenbriefen über Post in ganz Deutschland zu verschicken. Jeder Brief sollte neben dem Aufruf zum passiven Widerstand den Aufruf enthalten, diesen Brief an weitere Adressen zu verschicken, so dass ein richtiges Schneeballsystem entstehen sollte", so Eugen Herman-Friede.

Projekt "Wegmarken"

Die Geschichte von Werner Scharff ist Teil des Projekts "Wegmarken" von rbb Inforadio und Studierenden der Historischen Wissenschaften der Berliner Humboldt-Universität. Sie recherchierten in Berliner Archiven nach Briefen und persönliche Dokumenten, um die Geschichten von Berliner Juden in den 30er und 40er Jahren aufzuspüren.

Sie wollten herausfinden, wie diese Menschen die Verfolgung in der NS-Zeit erlebten und welche Entbehrungen und Qualen sie erleiden mussten. Neben Dokumenten fanden die Autoren auch Angehörige und Nachkommen, die einige Zeugnisse ihrer Familiengeschichte teils noch gar nicht kannten.

Auf der Website des Online-Projekts sind die Geschichten auf einer Stadtkarte markiert. Alle erzählen anhand von Original-Dokumenten, Bildern und Audio-Zitaten bewegende Geschichten von Verfolgung, Verzweiflung und enttäuschter Hoffnung.

Auszug aus einem Flugblatt, das Werner Scharff mit Freunden und Bekannten im Schneeballsystem verbreietet hat (Bild: Gedenkstätte Stille Helden)
In Flugblättern rief die "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau" zum Widerstand auf

"Musste alles machen, wenn du Widerständler bist"

Eine solche Geschichte ist auch die von Werner Scharff und der "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau". Innerhalb eines Jahres druckt die Gruppe zwei Flugblätter mit einer Auflage von bis zu 3.500 Stück.

Ein Auszug aus einem Flugblatt der Gruppe lautet beispielsweise: "Die Gemeinschaft für Frieden und Aufbau marschiert. Mutige Männer und Frauen Deutschlands haben sich zusammengeschlossen, um Lüge und Mord der Nazis ein Ende zu bereiten. (...) Wir kämpfen für den sofortigen Frieden. (...) Wir rufen zum passiven Widerstand auf. Wir verlangen von Dir nichts anderes, als daß Du denken sollst."

Die untergetauchten Juden schrieben in ihren Verstecken Adressen aus dem Telefonbuch oder von Todesanzeigen aus der Zeitung auf Umschläge.

Eugen Herman-Friedes nichtjüdischer Stiefvater und andere reisen nach Leipzig oder Rotterdam und werfen die Briefe dort ein. Neben den Flugblättern und dem Verstecken von Juden verschickt die Gruppe symbolische Todesurteile - an jüdische "Greifer", die der Gestapo zuarbeiteten.

Die Ideen hatte Werner Scharff, die Helfer kamen aus Hans Winklers Freundeskreis. Die trafen sich schon auch mal am Stammtisch in der Dorfkneipe - waghalsig und wenig konspirativ. An einem Abend kamen viele SA-Leute in Uniformen in die Kneipe, weil sie eine Rede Hitlers verfolgen wollten, erzählt Eugen Herman-Friede. Sie mussten mitaufstehen und die "Fahnen hoch die Reihen fest geschlossen" singen. Auf dem Nachhauseweg habe Winkler in seiner unverwechselbaren Art gesagt: "Musste alles machen, wenn du Widerständler bist".

KZ Sachsenhausen Oranienburg (Bild: DPA)
Im KZ Sachsenhausen wurde Werner Scharff hingerichtet | Bild: dpa

Scharff kommt ins KZ Sachsenhausen

1944 fliegt die Gruppe auf. Werner Scharff wird festgenommen und kommt ins KZ Sachsenhausen, dort wird er am 16. März 1945 erschossen. Nur das Kriegsende verhinderte Todesurteile gegen den Rest der Gruppe. Das Besondere an der Gemeinschaft ist für Barbara Schieb von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, dass sie zu dieser Zeit überhaupt ein gutes Jahr existiert hat. "Sie haben es probiert, das ist die Wirkung, das ist auch die Wirkung für heute", so die Historikerin. "Sie sind im Prinzip gescheitert, außer, dass ein paar der Untergetauchten tatsächlich überlebt haben: Ilse Grün, Getrud Scharff, Hilde Bromberg, Eugen Friede, das Ehepaar Joachim. Das ist natürlich ein großes Ergebnis."

Das Ergebnis der "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau". Zu einer Zeit in der es in Deutschland eigentlich nur das Gegenteil gab - Vernichtung und Krieg und Zerstörung - haben sie den Krieg zwar nicht beendet, aber den Kopf oben behalten. Ein paar kleine mutige Leute aus Luckenwalde und der Berliner Jude Werner Scharff, der das große Ganze höher gestellt hat als sein eigenes Leben.

Beitrag von Susanne Bruha

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