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Audio: rbb | 27.01.2018 | Maria Ossowski | Quelle: rbb/Maria Ossowski

Restauratoren in der Gedenkstätte Auschwitz

Lack entfernen, um Erinnerungen zu erhalten

Vor 74 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das KZ Auschwitz. Über eine Million Menschen wurden dort von den Nazis ermordet. Zurück blieben ihre Habseligkeiten: Schuhe, Koffer, Briefe. Experten arbeiten heute daran, diese Zeugnisse als Mahnung für die Zukunft zu erhalten. Von Maria Ossowski

"Der leere Zug mit seinen weit geöffneten Waggontüren ist längst schon zurück gefahren. Auf der Rampe ist nur noch das Kanada-Kommando zu sehen. Aufmerksam überwacht von SS-Männern sortieren Häftlinge den gesamten Besitz all jener Menschen, die vor einer Stunde angekommen sind: Koffer, Brieftaschen, Bündel, Kinderwagen. Hunderte, Tausende kleinere oder größere Gegenstände." So beschreibt der Gefangene mit der Auschwitznummer 121466, Wojciech Kawiecki, das, was von einem Transport nach Auschwitz übrig geblieben war. Die Züge endeten oft keine 200 Meter von den Gaskammern entfernt. An der Rampe entschied sich das Schicksal der Opfer: Zwangsarbeit im Lager oder direkt ins Gas.

Tausende Schuhe von Auschwitz-Opfern sind noch erhalten | Quelle: rbb/Maria Ossowski

Tausende von Schuhen, Koffern, Prothesen und anderen Habseligkeiten sind in den meisten Fällen die letzten Spuren jener Menschen, von denen nichts übrig geblieben ist, außer dem, was der Dichter Paul Celan "das Grab in den Lüften" nannte. Im sogenannten Kanada-Lager, einer Baracke, bediente sich dann die SS, und suchte sich Wertsachen raus. Kanada hieß dieser Teil des Lagers, weil Kanada in jenen Zeiten für Reichtum und Überfluss stand.

Holocaust-Gedenktag

Am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Holocaust gedacht. Das Datum erinnert an die Befreiung der überlebenden Häftlinge des größten NS-Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945. Seit 1996 gedenken die Deutschen jeweils an diesem Tag der Millionen Opfer des Völkermords. Im November 2005 verabschiedete auch die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, die den 27. Januar zum weltweiten Gedenktag macht. Das 1940 errichtete Konzentrationslager Auschwitz ist zum Inbegriff des Völkermords an den Juden geworden. Dort wurden rund 1,5 Millionen Menschen, die meisten davon Juden, sowie viele Tausend Sinti und Roma und Polen ermordet. Insgesamt erfasste das nationalsozialistische Terrorsystem in Europa 24 Hauptlager und etwa 1.000 Außenlager.

Überbleibsel werden konserviert

Heute kümmern sich rund 20 Konservatoren und Restauratoren, unter ihnen Chemiker und Mikrobiologen, in modernsten Werkstätten um diese letzten Habseligkeiten. Alles wäre längst zerfallen ohne Konservierung.

Christin Rosse aus Cottbus hat in Köln die Kunst des Konservierens und Restaurierens studiert. Die junge Mitarbeiterin des Teams ist seit vier Jahren dabei. "Dieses Jahr konservieren wir 30 Protesen und Corsagen", berichtet sie - von 470 in der Sammlungsabteilung. Im Archiv gebe es "Mengen", sagt Rosse: "Sie wissen, wie viele Objekte wir haben." Und nennt als Beispiel 110.000 Paar Schuhe, rund 4.000 Koffer, 12.000 Emaille-Waren.

Die Werkstätten sind untergebracht im ehemaligen Aufnahmelager von Auschwitz, dort, wo jene ankamen, die registriert wurden und meist zum Tod durch Zwangsarbeit verurteilt waren. Die Stiftung Auschwitz-Birkenau Foundation finanziert die Werkstätten und ihre Mitarbeiter.

Authentizität ist das oberste Gebot

Christin Rosse ist gelernte Buch- und Papierkonservatorin. In einem Brief, den sie konserviert, schreibt eine junge Frau namens Elisabeth aus dem Frauenlager Birkenau: "Wie steht's mit Deinem Herzen? Bleib gesund, verzage nicht, es wird schon werden. Wenn mir schwer auf dem Herzen wird, dann lese ich Deinen Brief. Deine Schrift gibt mir Kraft und Hoffnung, dass wir uns noch einmal sehen werden." Gestiftet wurde er von Angehörigen.

Die meisten Briefe wären ohne die Kunst von Christin Rosse und ihren Kollegen längst unlesbar. Doch Authentizität ist das oberste Gebot der Restauratoren. Nichts darf ergänzt werden. Und auch die Reinigung ist eine Kunst für sich. Denn der Schmutz von heute soll entfernt werden, der von damals soll bleiben.

Wenn die Objekte nicht in Depots lagern oder in den Werkstätten konserviert werden, dann sind sie in der Ausstellung zu sehen: Kleidungsstücke, Haare, Koffer, Schuhe. Oft in riesigen Haufen. Im Schnitt 6.000 Menschen besuchen die Gedenkstätte täglich, darunter viele Schulklassen aus aller Welt. In der Baracke mit den Habseligkeiten der Opfer ist es meist sehr still, auch angesichts der vielen Schuhe - Kinderschuhe, Damenschuhe, Herrenstiefel, viele krumm und schief.

Letzte Lebenszeichen

"Wenn die Menschen hier ins Lager aufgenommen worden sind, haben sie ja nicht ihre ursprünglichen Schuhe zurückerhalten", erklärt Rosse. "Sie haben irgendwas bekommen. Das können auch zwei linke Schuhe gewesen sein, Schuhe in einer kleineren Größe." Daher hätten die Menschen alle möglichen Materialien genutzt, um Schuhe passend zu machen, auch Füllmaterial. So fand sich in einem Herrenschuh in der Spitze ein kleines Stück Papier mit hebräischen Schriftzeichen.

An Wilma Bass - 49 Jahre alt, eine Schönheit mit hochaufgestecktem dunklem Haar - erinnert wiederum ein Koffer. Christin Rosse entfernt von dem Gepäckstück Konservierungsmittel-Lack aus früheren Jahrzehnten: Der Koffer soll erhalten bleiben in Erinnerung an Wilma Bass, so, wie er aussah, als das Lager befreit wurde.

Es sind bewegende Momente, wenn die eilig nach dem Krieg aufgetragenen Farbschichten verschwinden und Gegenstände ihre Geheimnisse freigeben. Die Nazis wollten nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Geschichte vernichten. Die Konservatoren von Auschwitz bewahren die Erinnerung, weil nichts geblieben ist als die letzte kleine Habe.

"Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, die Objekte zu halten, und sicherzugehen, dass sie noch eine nächste Generation überdauern werden", sagt Rosse. Sie versuche, Biografien aus der Tiefe - aus der Vergangenheit und Vergessenheit - zu holen.

Prothesen in der Ausstellung in Auschwitz | Quelle: NurPhoto/Beata Zawrzel

Zeugnisse für kommende Generationen

Auch 2.000 Kunstwerke sind in Auschwitz im Lager entstanden. 2.000 weitere haben Häftlinge später geschaffen, auch, um Erinnerungen an Details aus dem Lagerleben und Sterben zu bewahren. Um diese Kunstwerke kümmert sich Jan Kaplon, Kunsthistoriker und Kurator.

Teilweise hätten die Künstler auch im Auftrag der SS gemalt, erklärt Kaplon, beispielsweise Produktionsanlagen. Einige Künstler hatten zwar Aufträge, porträtierten jedoch nebenbei Häftlinge, andere zeichneten völlig illegal. Ihre Themen waren Haftbedingungen, Strafen, ebenfalls Porträts. Es entstanden manchmal auch kleine Skulpturen.

Seit der Lagergründung 1940 entstand Kunst unter widrigsten Bedingungen. Ständig drohte der Tod durch Hunger, Kälte, Krankheiten, Seuchen, Folter, Strafkompanie oder die Selektion ins Gas. Viele Künstler kamen gar nicht mehr dazu, irgendetwas zu erschaffen: 198 Personen, die am 16. April 1942 im Krakauer Künstlercafé verhaftet wurden, erschoss die SS an der Auschwitzer Todeswand.

Blick auf das Auschwitz-Gelände im Januar 2019 | Quelle: NurPhoto/Beata Zawrzel

Andere Künstler mussten im Auftrag des brutalsten SS-Arztes arbeiten. Eine von ihnen war die Prager Malerin Dina Godliebova: Sie habe für Josef Mengele gezeichnet, sagt Kaplon. Godliebova habe beispielsweise Sinti und Roma gemalt, um für Mengeles Experimente Kopf- und Nasenform zu dokumentieren.

Zofia Stepien, eine polnische Widerstandskämpferin, kam nach fünf Monaten im Verhör, wo sie keinen Mitkämpfer verriet, ins Birkenauer Frauenlager. Dort zeichnete sie Hunderte von Porträts. Viele entstanden in der Krankenstation, denn Stepien hatte sich mit Typhus angesteckt. Das Erstaunliche: Die porträtierten Frauen sehen nie aus wie Häftlinge. "Charakteristisch für alle diese Frauenporträts ist, dass immer wieder schöne Frauen gezeigt werden, mit langem Haar, in Zivilkleidung", sagt Kaplon. Niemand sei mit geschorenem Haar zu sehen, abgemagert. Nach dem Krieg habe Stepien erklärt, dass die Wirklichkeit zu grässlich gewesen sei, um sie darzustellen; viele hätten sich nach etwas Schönem gesehnt.

Die Arbeiten der Künstler bewertet Jan Kaplon nicht als Kunstwerke, sie sind unendlich wichtige Dokumente, so wie auch die Briefe, die Koffer, die Textilien, die Schuhe, die Haare, und all jene Dinge, die die Restauratoren in Auschwitz bewahren. Alle Sorgfalt, die damals den Menschen gebührt hätte, können die Restauratoren und Kuratoren heute nur noch den Dingen und Dokumenten angedeihen lassen. Sie sind Zeugnisse für kommende Generationen, wenn keine Überlebenden mehr berichten können, was den Opfern von Auschwitz und Birkenau geschehen ist.

Frühere Häftlinge erinnern am 27. Januar 2019 an den 74. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung | Quelle: PAP/Lukasz Gagulski

Beitrag von Maria Ossowski

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