30 Jahre Brandenburger Gedenkstättenstiftung - "Die politische und moralische Stimme der Überlebenden schwindet"

Do 05.10.23 | 23:13 Uhr | Von Christoph Hölscher
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Audio: rbb24 Inforadio | 05.10.2023 | Amelie Ernst | Bild: BA

Orte wie die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen oder das frühere KGB-Gefängnis in Potsdam erinnern an die Folgen von Terror und Gewalt. Seit 30 Jahren betreut sie die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ihre Arbeit muss sich ändern. Von Christoph Hölscher

Salvatore Trapani führt fast jeden Tag Schülergruppen durch die Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück. Der Kunsthistoriker ist vor mehr als 20 Jahren aus Italien nach Deutschland gekommen und arbeitet nur als einer von rund 50 freiberuflichen Guides für die Gedenkstättenstiftung. Es ist ihm ein persönliches Anliegen, jungen Menschen die Geschichte von Gewalt und Verfolgung an diesen Orten zu vermitteln, wie er erzählt.

Aber das sei zunehmend schwierig, weil die Vergangenheit schon so weit zurückliege: "Doch das Gute an einer solchen Gedenkstätte ist, dass der Ort spricht", sagt Trapani. Jede Ecke, jeder Zentimeter des früheren Konzentrationslagers erzähle die Geschichten der Menschen, die hier gelitten hätten. Indem er diese konkreten Geschichten am authentischen Ort erzählt, versucht Trapani, bei den Schülern Empathie für die Opfer zu wecken - oft mit Erfolg.

Festakt erinnert an Stiftungsgründung

Um diese "authentischen Orte" des Schreckens zu erhalten und die Erinnerung an deren Vergangenheit zu bewahren, wurde vor dreißig Jahren die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten gegründet. Daran wurde am Donnerstag mit einem Festakt in der Potsdamer Staatskanzlei erinnert.

Der Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) lobte, dass sich die Stiftung seit ihrer Gründung mit "viel Empathie, Klarsicht und herausragender historischer Expertise" um die Orte des politischen Terrors gekümmert habe. Sie halte die Erinnerung wach und mahne, dass die Vergangenheit sich so nicht wiederholen dürfe. Die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Andrea Genest, betonte, die Gedenkstätten hätten sich nach der Gründung der Stiftung zu "modernen zeithistorischen Museen" entwickelt.

Wege zu einer neuen Erinnerungskultur

Der Weg dorthin war nicht einfach. Die neue Stiftung musste sich zunächst mit dem Erbe der DDR auseinandersetzen. Deren "Nationale Mahn- und Gedenkstätten" in Sachsenhausen und Ravensbrück waren nicht nur baulich in einem schlechten Zustand. Ihre Darstellung der Geschichte war auch stark auf das Bild des - meist kommunistischen - "antifaschistischen Widerstandskämpfers" verengt.

In den folgenden Jahren wurden Nachkriegsbauten entfernt, die oft überformte historische Struktur der Lager wieder sichtbar gemacht. Dabei weitete sich auch das Bild auf die Vergangenheit: Vernachlässigte Opfergruppen wie Homosexuelle, Sinti und Roma oder sogenannte "Asoziale" rückten in den Fokus der Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen.

Verbrechen des Stalinismus im Fokus

Außerdem geriet nun erstmal die "zweite Vergangenheit" der Lager in den Blick. Neben den Verbrechen des NS-Zeit wurde auch das stalinistische Unrecht unter sowjetischer Besatzungsherrschaft zum Thema gemacht. 2001 eröffnete in Sachsenhausen ein Museum zur Geschichte des "Sowjetischen Speziallagers Nr. 7": Auf dem ehemaligen KZ-Gelände wurden nach Kriegsende neben ehemaligen Nazis auch politische Gegner der Sowjets eingesperrt und drangsaliert.

Inzwischen betreut die Stiftung neben den ehemaligen Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück viele weitere Gedenkorte: Das ehemalige Zuchthaus sowie die Euthanasiegedenkstätte in Brandenburg an der Havel, das "Todesmarschmuseum" im Belower Wald, das einstige KGB-Untersuchungsgefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße sowie die Gedenkstätte Lieberose-Jamlitz; erst KZ-Außenlager und danach ebenfalls sowjetisches Speziallager [stiftung-bg.de].

Insgesamt haben seit Gründung der Stiftung mehr als 15 Millionen Menschen all diese Gedenkstätten besucht - davon allein elf Millionen die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Der Bund und das Land Brandenburg fördern die Gedenkstättenstiftung mit zusammen rund 7,5 Millionen Euro im Jahr.

Wir sind nun bald in der Situation, dass die politische und moralische Stimme der Überlebenden schwindet.

Andrea Genest, Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück

Die letzten Zeugen sterben aus

Doch die Gedenkstätten stehen vor neuen Herausforderungen: In den vergangenen Jahrzehnten haben vor allem die Überlebenden der Lager die Erinnerung mit ihren persönlichen Berichten wachgehalten. Doch fast 80 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus leben nur noch wenige von ihnen. "Wir sind nun bald in der Situation, dass die politische und moralische Stimme der Überlebenden schwindet", beklagt auch die Gedenkstättenleiterin Andrea Genest.

Um diese Lücke zu füllen, etwa mit pädagogischen Angeboten oder digitaler Museumstechnik, bräuchte es aber zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen, so Genest. Auch Ib Katznelson, einer der letzten Überlebenden des KZ Ravensbrück, wirft zum 30. Stiftungsjubiläum die Frage auf, ob historische Ausstellungen in Zukunft genügen, um die "Herausforderungen der digitalisierten Gesellschaft" zu bewältigen, wie er sagt. "Wie erreichen wir, dass die junge Generation in der Tiefe ihres Herzens bewegt wird?", fragt Katznelson. Besondere Sorge bereite ihm das Erstarken von rechtspopulistischen Bewegungen in ganz Europa, die zum Teil die Verbrechen der Nationalsozialisten leugneten oder verharmlosten.

Auch in Zukunft "Schulen der Demokratie"?

Die für die Gedenkstätten zuständige Kulturministerin Manja Schüle (SPD) zeigte sich am Donnerstag überzeugt, dass diese dem "Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus der Gegenwart den Spiegel vorhalten". In diesem Sinne hofft auch Gedenkstättenmitarbeiter Salvatore Trapani, dass die Gedenkstätten eine "Schule der Demokratie" sein können, sagt er: Wenn Jugendliche dort sähen, wozu Hass, Verfolgung und Ausgrenzung führen könnten, würden sie sich womöglich stärker für Toleranz, Solidarität und Menschrechte einsetzen. Für ihn ist diese Hoffnung eine wichtige Motivation, Tag für Tag Schülergruppen über das einstige Lagergelände in Sachsenhausen und Ravensbrück zu führen.

Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 05.10.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Christoph Hölscher

8 Kommentare

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  1. 8.

    Ich hoffe, Sie haben Recht und es bleibt auch so. Denn: die Zeit ist gerade wieder sehr unruhig, nicht nur hier bei uns, sondern überall. Ich hoffe so sehr, wir befinden uns nicht auf einem Kipppunkt. Aber wir haben es ja schließlich immer noch selbst in der Hand und letztendlich glaube ich an die Menschen.

  2. 7.

    Erinnerungskultur wird durch Zeitzeug*innen unschätzbar aufgewertet, aber sie lebt davon, nicht auf diese angewiesen zu sein. Man muss nicht erst in Auschwitz-Birkenau stehen, um das Ausmaß der Menschenverachtung zu begreifen. Vor allem aber ist Gedenkkultur eine zeitlose Aufgabe, sie muss ganz zwingend über das Leben der Überlebenden hinausgehen, sonst ist sie nur Makulatur, eine ritualisierte Farce. ich sehe einen durchaus großen Verlust in den scheidenden Zeitzeug*innen, der nicht kompensiert werden kann, aber es gibt auch schon heute Möglichkeiten, Gespräche zu digitalisieren. In der Sendung 'Aspekte' stand der Moderator einmal einer digitalisierten, aber realen Shoah-Überlebenden gegenüber und konnte, in Maßen, einen Dialog mit ihr führen. Technologieunabhängig bleibt es aber eine zentrale Bildungsaufgabe, die Vergangenheit zu erinnern. Die Mittel dafür können sich durchaus ergänzend erweitern.

  3. 6.

    Sehe ich komplett anders. Wenn wir nichts aus der Geschichte gelernt hätten, hätten wir seit fast einem Jahrhundert längst wieder einen Weltkrieg. Wir haben die stabilste Demokratie auf der Welt durch konsequente Gewaltenteilung in Verbindung einer sozialen Marktwirtschaft.
    Es sind diese Grundprinzipien, die ein erneutes Aufflammen eines Irren, wie Hitler, quasi unmöglich machen, zumindest solange die Mehrheit in Deutschland nicht komplett und nachhaltig den Verstand verliert.
    Man könnte auch mit Gauck argumentieren, wir Deutschen sind zweimal geimpft.

  4. 5.

    Ich hätte nicht geglaubt, dass ich Ihnen das irgendwann mal schreiben könnte (wenn Sie derselbe Steffen sind wie sonst): Ich danke Ihnen von Herzen für diesen Kommentar. Respekt.

  5. 4.

    "Deutschland hat in Wahrheit nahezu nichts aus der Geschichte gelernt."

    Wie man am erstarken der rechtsextremen AfD aber am bürgerlichen Lager sieht wo ein Merz Rassismus und Fremdenfeindlichkeit hoffähig redet.

  6. 3.

    Ich will Ihnen darin keineswegs widersprechen.

    Ich denke, Menschen des bloßen Vollzuges, sprich: Diejenigen, die das ausgeführt haben, was an Menschenverachtung angeordnet wurde, teilen sich in Jene, die das voller Überzeugung aus den von Ihnen genannten Gründen genauso sahen wie die Anordnenden und Jene, die das als Teil des Apparates ausführten und billigend in Kauf nahmen. Jenen zweiten Aspekt hatte ich im Auge; das Erste darf aber dabei nicht vernachlässigt werden und, ja, diese Denkfigur waltet heute analog und gewiss in Vorformen, mit gewiss anderen Konsequenzen.

    Zu DDR-Zeiten wurde von feindlich-negativen Elementen (!!) gesprochen, Im Fahrwasser eines erklärten Antifaschismus ist so manch Unliebsamer mit erledigt worden, heute werden Menschen als Teil einer Flut definiert, gegen die Dämme zu bauen wären. Der deduktive Schluss von einer angenommenen großen Bezugsgruppe und sämtlichem darin Vorkommenden auf jeden einzelnen Menschen hin ist das wirkliche Übel.

  7. 2.

    Was Sie als Ursache beschreiben, waren aber leider nur die Symptome. Die Ursachen liegen deutlich tiefer. Dass es überhaupt dazu kommen konnte, dass Befehle unwidersprochen und gegen jede Menschlichkeit ausgeführt wurden, dass Nachbarn, Freunde und sogar Familienmitglieder massenweise denunziert und damit dem Regime ausgeliefert wurden, hatte die Ursache in einer Indoktrination, die Menschen das Menschsein absprach. Erst diese Entmenschlichung in Verbindung mit der Behauptung, sie seien die Ursache allen Übels, hat Grausamkeiten, Folter und Mord erst den Weg geebnet.
    Und wenn ich mir heutige politische Diskussionen aller Seiten anschaue, so ist dieses Muster und diese Gefahr keineswegs überwunden. Deutschland hat in Wahrheit nahezu nichts aus der Geschichte gelernt.

  8. 1.

    So unersetzbar die Stimmen der Überlebenden waren und sind, so wäre eine weiterführende Perspektive m. E., die strukturelle Gewalt im Dahinterliegenden zu benennen. Mit anderen Worten: Das völlig selbstverständliche Ausführen von Direktiven und Befehlen, gleich, ob es sich um ein neues Bestellreglement für Bleistifte oder um neue, perverse Methoden zur Schikanierung und Tötung von Menschen handelt.

    All der Sadismus, der sich in solchen Lagern ausleben konnte, hätte niemals seine Wirkmacht erhalten ohne dieses beschriebene, selbstverständliche Tun auf allen Ebenen der Hierarchie. Dazu dann - quasi den Kern setzend - exemplarisch das menschenverachtende Bild Derjenigen, die alles anordneten.

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