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Quelle: dpa/Paul Zinken

Ein Jahr nach dem Breitscheidplatz-Attentat

Der Fall Amri – Chronologie der Behördenfehler

Anis Amri war den Sicherheitsbehörden lange vor dem Anschlag als Drogendealer und gewaltbereiter "Gefährder" mit Kontakten zu radikalen Islamisten bekannt. Warum zogen ihn die Sicherheitsbehörden nicht aus dem Verkehr? Versuch einer Rekonstruktion, zusammengestellt von Andrea Marshall und Susanne Opalka.

Der Tunesier Anis Amri steuert am 19. Dezember 2016 einen gekaperten Lkw in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Er ermordet zwölf Menschen, 56 Verletzte kommen in Krankenhäuser. Dabei war Amri als gefährlicher radikaler Islamist und Drogenhändler bekannt, sogar mehrfach festgenommen worden. Warum konnte er sich trotz alledem frei in Deutschland bewegen? Hätten die Sicherheitsbehörden durch eine Inhaftnahme oder durch seine Abschiebung das Attentat verhindern können?

Die folgende Zusammenstellung von Widersprüchen, Behördenpannen und Merkwürdigkeiten basiert im Wesentlichen auf rbb-Recherchen , den Ergebnissen des Berliner Sonderermittlers Bruno Jost [PDF] sowie der Chronologie des Bundesinnenministeriums [Download]. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Viele Fragen sind auch knapp ein Jahr nach dem Attentat noch immer ungeklärt – auch, weil dem Sonderermittler nach eigener Aussage manche Informationen gar nicht oder nur bruchstückhaft zugeliefert wurden.

Zwei Untersuchungsausschüsse – in Berlin und Nordrhein-Westfalen – sind noch mit der Aufklärung befasst. Ein dritter Ausschuss - auf Bundesebene - ist weiterhin im Gespräch.

Chronik der Ereignisse

Sommer 2015 - Einreise

Im 6. Juli 2015 reist Anis Amri illegal in Deutschland ein. Er mischt sich unter die Flüchtlinge. Der Tunesier war 2011 als 19-Jähriger als Asylbewerber auf der italienischen Insel Lampedusa registriert worden – er hatte sich fälschlicherweise als Minderjähriger ausgegeben. In Italien war er unter anderem wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahl zu vier Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis fällt er bereits als gewalttätig mit radikal-islamistischem Gedankengut auf. Die italienischen Behörden schieben ihn nach Ende der Haft nicht ab, obwohl seine Personaldokumente vorliegen. Amris Daten werden im Schengener Informationssystem erfasst. Ihm ist die Einreise in ein anderes europäisches Land zu verweigern.

In Deutschland meldet sich der Tunesier zuerst in Freiburg, kurz danach in Ellwangen. Seine Finger- und Handflächenabdrücke werden registriert und in der gemeinsamen Datenbank der Polizeien von Bund und Ländern gespeichert. Abgeglichen werden diese Daten zunächst nicht.

Damit sind eigentlich die Behörden in Baden-Württemberg für ihn zuständig, auch für eine mögliche spätere Abschiebung. Aber seine Erfassung in Süddeutschland "bleibt unbemerkt", schreibt der Berliner Sonderermittler Jost. Auch weil Amri fortan unter verschiedenen Namen und Identitäten in Deutschland unterwegs ist. Ausländerrechtlich zuständig wird Nordrhein-Westfalen, wo er mit Behörden in Dortmund, Oberhausen, Kleve, Köln und Münster zu tun hat. Offizielle Wohnsitze hat er in Emmerich und in Oberhausen.

Amri ist sehr viel in Deutschland unterwegs, überwiegend zwischen Berlin und Nordrhein-Westfalen. In fünf deutschen Städten wird er mit seiner Absicht, sich als Asylbewerber registrieren zu lassen, vorstellig. Einen offiziellen Antrag auf Asyl stellt er nur einmal: in Dortmund und nach Aufforderung der Behörden. Dutzende Ämter sind mit seinen Anträgen befasst, insgesamt verwendet er 14 verschiedene Identitäten.

Herbst 2015 – Sicherheitsbehörden nehmen Amri ins Visier

Im Zuge der Ermittlungen um die Gruppe des radikal-islamistischen Hasspredigers Abu Walaa in Hildesheim, dem mutmaßlichen Statthalter des "Islamischen Staats" (IS) in Deutschland, taucht ein "Anis" auf – der "Junge aus Dortmund", den Ermittlern zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Später werden die Ermittler vermerken: Amri sei "mit hoher Wahrscheinlichkeit" durch Mitglieder des Abu Walaa-Netzwerkes gezielt "zur Verübung des Anschlags in Berlin angeworben" worden. So heißt es nach Informationen des rbb und der Berliner Morgenpost in einem Dokument des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen. Bei Abu Walaa, dem Kopf der Gruppe, habe Amri sogar an Weihnachten 2015 eine "30-minütige Privataudienz" gehabt – sehr wahrscheinlich, um sich die "religiöse" Legitimierung von Anschlägen zu holen.

Schon zuvor – rund drei Monate nach Amris Einreise in Deutschland - weist der vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen im Abu-Walaa-Netzwerk eingesetzte Polizeispitzel – die so genannte Vertrauensperson VP-01 - auf Anis Amri hin. Dieser wolle sich Kriegswaffen und Sprengstoff beschaffen und plane Anschläge in Deutschland.

Möglicherweise stachelt "VP-01" Amri und andere gewaltbereite Islamisten aus dem Abu-Walaa-Netzwerk auch selbst zu Anschlägen auf. "Komm, mach hier in Deutschland was", soll er gesagt haben, berichtet ein Zeuge später. Ein anderer  Zeuge, ein enger Bekannter Amris, berichtet später dem Verfassungsschutz, dass "VP-01" nach "einem zuverlässigen Mann" für einen Anschlag mit einem Lkw gesucht habe. Die "Vertrauensperson" räumt gegenüber seinen Führungsbeamten ein, über Anschläge gesprochen zu haben: "Ich habe mich absprachegemäß immer als 'anschlagsbereit' dargestellt. Ich will damit sagen, dass ich von euch den Auftrag hatte, mich so zu positionieren, dass ich von Leuten, die möglicherweise Anschläge planen, mit einbezogen werde, um an Informationen zu gelangen.“

Der Polizeispitzel chauffiert Amri auch mehrfach zu den verschiedenen Moscheen und Koranschulen der radikal-islamistischen Gruppierungen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin. Ein „Agent Provocateur“ im Dienst des Staates – damit dieser an geheime Informationen gelangt?

Amri wird in NRW schon sehr früh als "Nachrichtenmittler" geführt – als Quelle, die nicht weiß, dass sie abgeschöpft wird. Die Beamten schalten sich bei Bedarf auf Amris Handy. Sie erhoffen sich dadurch wichtige Informationen über das islamistische Netzwerk des Hasspredigers Abu Walaa und seiner Gefolgsleute.

Fast zeitgleich warnt ein syrischer Mitbewohner aus der Flüchtlingsunterkunft in Emmerich vor Amri:  Er schildert den Tunesier, mit dem er zeitweise ein Zimmer teilte, als radikalen und gefährlichen Islamisten, der auf seinem Handy IS-Propagandavideos anschaut und prahlt, sich eine Waffe - eine AK47 - besorgen zu können. Das sagt der Mann einem Sozialarbeiter seiner Flüchtlingsunterkunft im Herbst 2015 und später noch einmal in seinem Asylverfahren im Juni 2016.

Beim Staatsschutz des nordrheinwestfälischen Landeskriminalamtes wird Amri als "Prüffall Islamismus" aktenkundig. Doch das LKA informiert damals offenbar weder die örtlichen Polizeikollegen noch andere Behörden.

Bei der Überwachung seiner Telekommunikation erfahren die Ermittler, dass Amri sich über die Herstellung von Sprengsätzen informiert sowie über den Bau von Handgranaten. Da die  Hinweise auch aus verdeckter Vermittlung stammen, stufen die Ermittler sie als nicht gerichtsverwertbar ein.

Januar 2016 – Verfassungsschutz-Präsident stellt Behördenzeugnis aus

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, unterzeichnet ein so genanntes Behördenzeugnis zu Amri – ein Vorgang, mit dem verdeckte Ermittlungen und Quellen geschützt werden sollen. In dem Schreiben teilt er den Landeskriminalämtern in Berlin und Düsseldorf, dem Bundeskriminalamt sowie den Landesämtern für Verfassungsschutz in Berlin und Nordrhein-Westfalen zu Amri mit: Er halte sich unter verschiedenen "Identitäten hauptsächlich in Berlin (Moabit, Weißensee, Charlottenburg und Spandau) und sporadisch in Hildesheim, Oberhausen, Duisburg, Emmerich und Freiburg" auf. Er versuche offensiv "Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen." Er beabsichtige, "sich mit Schnellfeuergewehren des Typs AK 47 zu bewaffnen, die er über Kontaktpersonen in der französischen Islamistenszene beschaffen könne." Zur Finanzierung seiner Anschlagspläne plane er mit Komplizen einen Raub.

Februar 2016 – Amri als islamistischer Gefährder eingestuft

Bei der Telefonüberwachung erfahren die Ermittler, dass Amri mit IS-Kämpfern in Libyen kommuniziert – im Hintergrund hören sie Kampfgeräusche – und dass er über sein geplantes "Dugma", ein Codewort für einen Selbstmordanschlag, spricht.

Am 17. Februar wird Amri vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen als islamistischer Gefährder eingestuft. Zuvor hatte bereits das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) den inzwischen Identifizierten als gefährlichen radikalen Islamisten auf der Tagesordnung. In dem hochrangigen Gremium tauschen sich rund 40 Bundes- und Länderbehörden über die innere Sicherheit aus. Zwischen Februar und November befasst sich das GTAZ sieben Mal mit Anis Amri - so intensiv und häufig wie über kaum einen anderen, sagen Insider später. Doch Erkenntnisse versanden; daraus folgende Maßnahmen werden in Absprache der Landeskriminalämter NRW und Berlin nicht immer ausreichend umgesetzt.

So bei der Beschlagnahme des als gestohlen gemeldeten Handy Amris:

Am 18. Februar bitten die Düsseldorfer Ermittler die Berliner Polizei, Amri nur zu observieren, aber nicht anzusprechen. Als Amri aber am selben Tag am Zentralen Busbahnhof (ZOB) in Berlin-Charlottenburg eintrifft, passiert genau das: Amri wird vorläufig festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt, sein als gestohlen gemeldetes Handy wird beschlagnahmt. Es kann von den Ermittlern jetzt ausgewertet werden.  

Das Bundeskriminalamt fertigt eine Kopie der Handydaten an. Im Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) wird verabredet, dass die Landeskriminalämter in NRW und Berlin die Daten "zeitnah" auswerten. Doch keine der Behörden setzt dies konsequent um.

Erst ein Jahr später – nach dem Anschlag – entdeckt das Bundeskriminalamt, dass auf dem Gerät 12.000 Fotos gespeichert sind. Einige zeigen Amri mit einer Waffe posierend. Die automatische Datenauswertung in NRW hatte die Brisanz nicht erkannt.

März 2016 – Berlin wird Amris Lebensmittelpunkt

Amri verlagert jetzt seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin. Die Behörden in Nordrhein-Westfalen beschließen deshalb die "Ausstufung" Amris als Gefährder und übergeben die Zuständigkeit der "Gefährderbearbeitung" an die Berliner Kollegen. Diese beschließen wiederum die Einstufung als Gefährder.

Am 28. März, nach den Terroranschlägen in Brüssel, gibt der Spitzel VP-01 den Hinweis, dass Amri einen möglichen Selbstmordanschlag mit einem Sprengstoffgürtel angedeutet hat (BMI-Chronik PDF).

April 2016 – Telefon-Überwachung und Beschattung

Das Amtsgericht Tiergarten genehmigt die die Observation  Amris sowie die Überwachung seines Telefons bzw. der Telefone (Handys und SIM-Karten werden ständig gewechselt). Sieben- oder achttausend Telefongespräche, zumeist auf Arabisch, werden im Laufe der Telefonüberwachung  zwischen Anfang April und dem 21. September gespeichert. Aber weder die Gespräche noch die Chats werden zeitnah übersetzt und umfassend ausgewertet.

Zudem werden aus abgehörten Telefonaten keine Konsequenzen gezogen. So legt laut Sonderermittler Jost ein Telefonat den Verdacht nahe, dass Amri einen tunesischen Reisepass besitzen dürfte. Hat er also doch gültige Papiere? Dann könnte er schneller abgeschoben werden. Doch die Erkenntnis wird nicht weitergeleitet.

Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamts reisen nach Tunis. Denn Tunesien verlangt die Handflächenabdrücke für die Identifizierung Amris als tunesischer Staatsbürger. Die Anerkennung wiederum brauchen die deutschen Behörden, um Amri in sein Heimatland abschieben zu können.

Die BKA-Beamten nehmen Fingerabdrücke Amris und Fotos mit, aber keine Handflächenabdrücke. Dabei waren die Handflächenabdrücke bereits bei Amris Einreise im Juli 2015 und dann noch einmal im Februar 2016 in Berlin abgenommen worden. Sie sind jederzeit in der polizeiinternen Datenbank von Bund und Ländern abrufbar.

Mai 2016 – "Dealer-Observation nach Bürozeiten der Beamten"

Erste Erkenntnisse über mögliche Drogenaktivitäten Amris aus der Telefonüberwachung. Er handelt mit Kokain und Cannabis.

Den Beamten, die ihn observieren sollen, wird dies aber nicht mitgeteilt. Dadurch können sie ihn nicht beim Drogenhandel auf frischer Tat ertappen und festnehmen. Zudem sind die Oberservierungskräfte nur tagsüber und nicht nachts und auch nicht am Wochenende im Einsatz – den "Arbeitszeiten" eines Dealers. Stattdessen eine "Observation nach Bürozeiten" der Beamten, wie Sonderermittler Jost später kritisiert. Amri meist tagsüber zu folgen, sei bei "einem nachtaktiven Drogendealer" problematisch.  Eine bessere Observation hätte den Verdacht des gewerbsmäßigen Drogenhandels untermauern und zu Amris Festnahme führen können, sagt Jost später.

Juni 2016 – Observation vorzeitig abgebrochen

Die Beamten beobachten, dass Amri selbst Drogen nimmt, Alkohol trinkt, Porno-Videos anschaut und am Ramadan nur manchmal interessiert ist, was sie als unislamisch interpretieren. Sie stufen ihn als Kleinkriminellen ein und zählen ihn nicht mehr zu den Top-Gefährdern. Formal "ausgestuft" als Gefährder wird Amri aber nicht.

Am 15. Juni brechen die Berliner Beamten die Observierung Amris nach sechs Wochen ab – obwohl der Beschluss weiterhin gilt und Amri auf der Prioritätenliste islamistischer Gefährder in Berlin als Nummer 1 bzw. "1a" geführt wird.

Wer genau den Abbruch aus welchen Gründen entschieden hat, bleibt später selbst für Sonderermittler Jost unklar. Zumal das LKA danach bei Amri eine "gruppendynamische Steigerung des Gewaltpotentials“ erkennt und zwei Gerichtsbeschlüsse für weitere Observationen erwirkt: Amri soll jetzt bis Ende Oktober 2016 überwacht werden. Wird er aber nicht. Damit wird laut Jost die Chance vertan wurde, Amri unmittelbar beim Rauschgifthandel zu erwischen.  "Mir fehlen die Worte", sagt dazu Jost. Eine Mitverantwortung für die Geschehnisse trage die Generalstaatsanwaltschaft. Ein wichtiger Grund sei auch der dramatische Personalmangel bei der Berliner Polizei.

Amris Asylantrag wird abgelehnt. Da er keinen Widerspruch einlegt, ist Amri ab dem 1. Juli "vollziehbar abschiebefähig", wie es im Amtsdeutsch heißt.

Juli 2016 – An der Ausreise gehindert

Amri überfällt mit weiteren Männern einer Cocktailbar in Neukölln - eine "nicht ungewöhnliche Revierstreitigkeit unter Drogendealern" (Jost-Bericht). Amri ist mit einem Gummihammer bewaffnet. Sein Drogendealer-Kumpan sticht auf einen Rivalen ein. Schnelle strafrechtliche Konsequenzen gegen Amri gibt es nicht. Ein Komplize wird später zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt.

Der ausreisepflichtige Tunesier will jetzt offenbar über die Schweiz nach Italien ausreisen, wie die Live-Telefonüberwachung ergibt. Er wird aber von der Bundespolizei in Friedrichshafen am Bodensee im Fernbus gestoppt und festgenommen. Er hat zwei gefälschte italienische Pässe bei sich und kommt zwei Tage in Haft in Ravensburg. Doch seine Vernehmung läuft trotz des "Gefährder"-Status‘ nur oberflächlich. Um ihn mit seinen terroristischen Anschlagsplänen zu konfrontieren, müssten sich jetzt Fahnder aus Berlin und Nordrhein-Westfalen auf den Weg nach Süddeutschland machen. Aber es ist Wochenende – und es wird lediglich telefoniert, E-Mails werden ausgetauscht.

Da die Behörden in Ravensburg nichts gegen Amri in der Hand haben, können sie ihn nicht länger in Haft belassen. Abgeschoben werden kann er auch nicht, weil in der Kürze der Zeit nicht die nötigen Unterlagen vorhanden sein werden. Noch immer fehlen die Passersatzpapiere, denn Tunesien hat wegen fehlender Handflächenabdrücke immer noch nicht Amris Identität anerkannt. Doch die Handabdrücke liegen in den polizeilichen Datenbanken seit Monaten zweifach vor. Die Ermittler nehmen sie jetzt zum dritten Mal ab.

Amri wird danach freigelassen und reist zurück nach Berlin. Später berichtet Sonderermittler Jost, dass er über die Freilassung fassungslos war. Gleichzeitig habe er sich euphorisiert und ausgewählt gefühlt.

Tunis bestätigt Amris Identität schließlich am 21. Dezember 2016 – zwei Tage nach dem Attentat.

September, Oktober 2016 - Telefon-Überwachung endet, Marokko warnt

Am 21. September endet die Telefonüberwachung Amris.

Der marokkanische Geheimdienst schickt vier Mitteilungen und warnt: Der Islamist Amri wolle "ein Projekt ausführen".  

Das BKA in Wiesbaden und die Landeskriminalämter in Berlin und NRW werden informiert, aber offenbar nur "rudimentär" und "unvollständig". Sofortige Klärungsversuche werden nicht eingeleitet.

Oktober 2016 - Amri ist untergetaucht

Die formale Zuständigkeit für Amri als Gefährder liegt weiterhin in Nordrhein-Westfalen, weil er dort offiziell gemeldet ist. Tatsächlich aber ist er ab dem Spätsommer in Berlin untergetaucht. In einer E-Mail vom 26. Oktober fragt ein LKA-Beamter aus NRW die Berliner Kollegen: "Ich bin mit der 'Rundumversorgung' des als Gefährder eingestuften Anis Amri beauftragt und habe eine Frage zu dessen Lebensmittelpunkt. Habt Ihr Erkenntnisse über seinen Aufenthaltsort?" Die Bitte um "zeitnahe Rückmeldung" verhallt jedoch ungehört. Unter dem Ausdruck der E-Mail wurde später - ohne Datum - handschriftlich vermerkt: "Rückmeldung nicht erfolgt!"

Damit verletzt die Berliner Polizei ihre Pflicht nach dem bundeseinheitlichen Rahmenkonzept "Maßnahme 300". Das Konzept, das  nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 beschlossen worden war, sieht vor, dass die Sicherheitsbehörden jederzeit den Aufenthaltsort potentieller terroristischer Gewalttäter kennen. Ziel ist es, im Falle eines Anschlags ihren Verbleib zu kontrollieren.

Vermutlich zwischen dem 31. Oktober und dem 1. November nimmt Amri auf der Kieler Brücke in Berlin das Bekennervideo für seinen Anschlag auf: Er schwört, den "Heiligen Krieg" gegen die Ungläubigen zu führen.

November 2016 – Polizeierkenntnisse führen nicht zur Festnahme

Über die Informationen des marokkanischen Geheimdienstes und Amris "Projekt" berät das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), in dem rund 40 Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern vernetzt sind.  Ergebnis laut Protokoll vom 2. November: "Es besteht Einigkeit, dass auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar ist."

Intern vermerkt jedoch das LKA NRW, dass Amri weiterhin gefährlich sei und vermerkt daher "einen Gefahrenüberhang".

Die Berliner LKA-Beamten wiederum tragen vor, dass Amri nur ein Kleindealer sei. Dabei liegt seit dem Vortag ein umfangreicher Bericht des Berliner LKA zu einer Anzeige gegen Anis Amri wegen banden- und gewerbsmäßigem Drogenhandel vor. Diese Anzeige könnte für einen Haftbefehl ausreichen. Doch sie bleibt im polizeiinternen System als Entwurf liegen.

Dezember 2016 – Attentat und Fahndungspanne

Am 13. Dezember, sechs Tage vor dem Anschlag, fragt man sich im Landeskriminalamt NRW, wo sich Amri aufhält und welche Erkenntnisse die Berliner Kollegen dazu haben. Denn seit Wochen gibt es keine Antwort aus Berlin. Zu einer erneuten Anfrage in der Hauptstadt kommt es nicht.

Am 14. Dezember aktualisieren die Sicherheitsbehörden das Personenprofil mit der Information, dass Amri von der Wohnanschrift in Emmerich am Rhein abgemeldet wurde. Dort war er nicht angetroffen worden. Sein Handy wurde im Raum Berlin-Brandenburg verortet.

Nach dem Moscheebesuch bringt Amri einen Lastwagen in seine Gewalt und erschießt den polnischen Fahrer. Aus dem Führerhaus sendet er ein Handy-Foto, eine Text- und eine Audionachricht  an seinen IS-Instrukteur: "Ich bin jetzt in der Karre. Bete für mich, Bruder." Antwort: "So Gott will."

Dann steuert er das Fahrzeug mit hohem Tempo in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Er ermordet damit zwölf Menschen, 56 Verletzte werden in Krankenhauser gebracht.

Am Abend des Anschlags leitet die Berliner Polizei erst mehr als drei Stunden nach dem Attentat wichtige Fahndungsmaßnahmen ein – viel später als Brandenburg, Thüringen, Bayern und die Bundespolizei. Grund: Der diensthabende Berliner Polizeiführer klassifiziert die Lage zunächst als "Verdachtsfall Amok", obwohl LKA-Spezialisten frühzeitig von einem Terroranschlag ausgingen. Da zugleich eine halbe Stunde nach dem Anschlag ein Tatverdächtiger festgenommen wird, suchen die Sicherheitskräfte nicht, wie im Konzept "Maßnahme 300" vorgesehen, alle islamistischen Gefährder in Berlin an ihren aktuellen Aufenthaltsorten auf. In einem internen Polizeibericht ist später die Rede von einer "ungeübten Führungsgruppe".

Anis Amri kann sich frei in der Stadt bewegen. Im Laster zurückgeblieben ist sein Portemonnaie mit Bargeld, die Duldungsbescheinigung und seine BVG-Umweltkarte. Daher tritt er die Flucht vom Tatort zu Fuß an: Nach rbb-Informationen läuft er fast anderthalb Stunden lang - mit der Waffe - quer durch die Stadt zu seiner Wohnung in die Freienwalderstraße. Dort zieht er sich um und packt seinen Rucksack. Dann begibt sich unbehelligt auf die Flucht. Unklar ist bis heute, welche Route er nimmt.

Während der europaweiten Fahndung wird Amri mehr als drei Tage nach dem Attentat, am 23. Dezember, bei einer Personenkontrolle nördlich von Mailand von einem italienischen Polizisten erschossen.

Der IS-Kanal Amak veröffentlicht das zweieinhalb Minuten lange Bekennervideo, auf dem Amri im Herbst im Berlin dem IS-Anführer die Treue schwört.

Januar 2017 – Manipulation des Polizeiberichts?

Mai 2017 - Innensenator stellt Anzeige gegen Ermittler

April 2018 - Ermittlungen gegen LKA-Beamte werden eingestellt

Das Ermittlungsverfahren gegen zwei Beamte aus der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes wird eingestellt. Die Staatsanwaltschaft sieht keine "Anhaltspunkte" dafür, dass beide Beschuldigten vor dem Anschlag "Handlungen vorgenommen oder unterlassen" hätten, die eine Bestrafung von Amri verhindert hätten.

Das Landeskriminalamt stellt derweil einen 188-seitigen Bericht der Taskforce "Lupe" fertig. Darin werden zahlreiche Versäumnisse der Polizei bei Ermittlungen gegen Amri aufgelistet, darunter 32 schwere Mängel.

Fazit

Anis Amri handelte bei dem Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz nach rbb-Recherchen nicht alleine. Hinter ihm stand auch ein internationales Terrornetzwerk mit einer Basis auch in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt eine umfassende rbb-Fernsehdokumentation.

Dem Anschlag von Berlin ging eine Kette von Fehleinschätzungen, Versäumnissen und Pannen bei den Sicherheitsbehörden voraus. Polizei und Geheimdienste hatten den Attentäter immer wieder auf dem Schirm, doch individuelle Fehler und ein strukturelles Versagen der Sicherheitsarchitektur machten den Weg frei für die Mordtat auf dem Breitscheidplatz.

Rückblickend führt Sonderermittler Jost die Berliner Behördenpannen auch auf die Arbeitsbelastung zurück. Die Zahl islamistischer Gefährder habe sich in einem sehr kurzen Zeitraum verdoppelt. Dadurch sei die Ausbildung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter bei der Polizei zu kurz gekommen. Innensenator Andreas Geisel (SPD), der erst Tage vor dem Attentat ins Amt kam, erklärte: "Das LKA hatte mehrfach Verstärkung gefordert und scheiterte damit an der damaligen politischen Führung" - also an Geisels Amtsvorgänger Frank Henkel (CDU).

Jost rügt auch die mangelhafte Dienstaufsicht innerhalb des Berliner Landeskriminalamtes sowie die Zusammenarbeit zwischen LKA und Generalstaatsanwaltschaft. Die Geheimdienste hätten eine „bemerkenswert bedeutungslose Rolle“ gespielt, schlussfolgert der Sonderermittler. Vom MAD über den BND, das Bundesamt und die beiden Landesämter für Verfassungsschutz in Berlin und NRW hätten übereinstimmend erklärt: Zum Fall Anis Amri hatten wir keine Erkenntnisse.

Zusammengestellt von Andrea Marshall und Susanne Opalka

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