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Quelle: dpa/Frank Hoermann

Diskussion über Lockerungen

Für Berliner Mobilitätsforscher ist Zielmarke 35 "bis auf Weiteres unrealistisch"

Soll weiterhin der Inzidenzwert 35 die Messlatte für Lockerungen sein? Mobilitätsforscher der TU Berlin halten diesen Wert für nicht so bald erreichbar. Der Berliner Senat hat derweil offenbar schon einen Stufenplan für Lockerungen erarbeitet.

Mit der Ausbreitung der ansteckenderen Corona-Mutante B.1.1.7 in Deutschland rückt die Zielmarke von 35 bei der 7-Tage-Inzidenz aus Expertensicht in die Ferne. Ohne zusätzliche Maßnahmen erscheine das Erreichen dieses Werts "bis auf Weiteres unrealistisch", erklärte der Leiter des Fachgebiets Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der TU Berlin, Kai Nagel, der Deutschen Presse-Agentur. Seine Gruppe modelliert das Infektionsgeschehen in Berlin unter anderem mit anonymisierten Mobilfunkdaten. Nagel zufolge sind die Ergebnisse übertragbar auf die Lage bundesweit.

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Die vor Weihnachten zunächst in Großbritannien entdeckte Mutante B.1.1.7 breitet sich nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) von vergangener Woche auch hierzulande aus: Binnen zwei Wochen wuchs der Anteil in Stichproben von knapp sechs auf 22 Prozent. Berücksichtige man die deutlich erhöhte Ansteckungswahrscheinlichkeit, sei die Situation laut Modell "deutlich kritischer als bisher von uns vorhergesagt", erläuterte Nagel. "Bei reiner Beibehaltung der jetzigen Maßnahmen bekommen wir dann laut Modell eine dritte Welle; jede Art von Öffnungen vergrößert diese Welle."

Nagel betonte: "Wir können dagegenhalten, indem Kontakte in Innenräumen ohne Schutzmaßnahmen generell vermieden werden." Das solle in Schulen und Mehrpersonenbüros gelten, aber auch für gegenseitige Besuche. Mögliche Schutzmaßnahmen seien Masken, Schnelltests, Impfungen und eine Verlagerung von Veranstaltungen nach draußen.

In die Modelle der TU-Wissenschaftler fließen auch Kennzahlen zum Virus und Aspekte wie die Temperatur und die davon abhängigen Freizeitaktivitäten ein. Zuletzt sei in den Mobilitätsdaten kein verändertes Verhalten der Menschen zu sehen gewesen, schilderte Nagel - mit Ausnahme der Wochenenden, an denen bei besserem Wetter mehr Leute unterwegs seien. Solange diese zusätzlichen Aktivitäten allerdings im Freien stattfänden, "entstehen daraus laut unseren Modellen aber keine relevanten zusätzlichen Infektionen", so Nagel.

Im ZDF-Morgenmagazin verteigte Michael Müller, Berlins Regierender Bürgermeister (SPD), am Dienstag, das Grundschulkinder in die Schulen zurückgekehrt seien. Das sei mit den Hygienemaßnahmen zu verantworten.

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In Berlin ist derweil eine Diskussion darüber entbrannt, ob tatsächlich die 7-Tage-Inzidenz von 35 weiterhin als Richtwert für Lockerungen gelten soll. Die Amtsärzte der zwölf Bezirke wollen davon abkehren - in einem gemeinsamen Brief schreiben sie, man müsse Lockerungen vielmehr davon abhängig machen, wie hoch das Erkrankungs- oder Sterberisiko bei den einzelnen Bevölkerungsgruppen ist.

Der Berliner Senat reagierte darauf ablehnend. Nach rbb-Informationen will der Senat daran festhalten, Lockerungen in der Corona-Pandemie von den Inzidenzwerten abhängig zu machen. Man arbeite aber an einem Stufenplan für Lockerungen, über den Bund und Länder am 3. März beraten würden, sagte der Regierende Bürgermeister Müller.

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"Tagesspiegel" und "B.Z." liegen nach eigenen Angaben der Stufenplan bereits vor. Demnach enthält der Stufenplan vier "Cluster", also Stufen.

Ab einer Inzidenz von 50 (Cluster 0) seien kaum Lockerungen vorgesehen, berichtet die Online-Ausgabe des "Tagesspiegels". Allein Sport im Freien solle in Gruppen bis zehn Personen mit Abstand wieder möglich sein. Für Kinder bis 12 Jahre gelte das sogar schon bei einer Inzidenz unter 100.

Bibliotheken und Museen sollen demnach bei einer Inzidenz unter 35 (Cluster 1) für einen eingeschränkten Betrieb öffnen. Theater, Konzerthäuser und Kinos erst 14 Tage später (Cluster 2) bei eingeschränkter Besucherzahl. Clubs weitere 14 Tage später (Cluster 3), allerdings mit Personenbeschränkung, Hygienekonzept – und ohne Gesang.

Der Einzelhandel soll laut Bericht ebenfalls erst ab einer Inzidenz von 35 wieder öffnen dürfen, zunächst mit einer Zugangsbegrenzung mit 10 Quadratmetern pro Kunde, ab einer Fläche von 800 Quadratmetern mit 20 Quadratmetern pro Kunde.

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In der Gastronomie dürfen laut Bericht die Außenbereiche dem Stufenplan zufolge ab einer Inzidenz von 35 öffnen (Cluster 1), allerdings mit Beschränkung auf maximal vier Personen aus zwei Haushalten. An Imbissen darf vor Ort verzehrt werden. Innenräume dürfen mit Personenbegrenzung öffnen, wenn die Inzidenz 14 Tage lang stabil ist (Cluster 2), das gilt auch für Kneipen.

Touristische Übernachtungen sollen demzufolge bei 14 Tage stabiler Inzidenz unter 35 wieder möglich sein (Cluster 2). Die Kontaktbeschränkungen werden dem Entwurf zufolge erst ab einer Inzidenz kleiner als 35 gelockert auf maximal fünf Personen aus zwei Haushalten (Cluster 1), dann zehn Personen aus drei Haushalten (Cluster 2) und zehn Personen (Cluster 3).

Die nächste Konferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Regierungschefs der Bundesländer steht am Mittwoch kommender Woche an. Der seit Mitte Dezember geltende Lockdown ist derzeit bis übernächsten Sonntag (7. März) befristet. Die Bundesregierung sieht angesichts zuletzt wieder gestiegener Infektionszahlen mögliche weitere Lockerungen derzeit aber skeptisch, wie ihr Sprecher Steffen Seibert kürzlich deutlich machte.

Sendung: Inforadio, 23.02.2021, 8 Uhr

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