Diskussion über Lockerungen - Berliner Amtsärzte kritisieren Festhalten an Inzidenzwerten

Mo 22.02.21 | 20:35 Uhr
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Pflegekräfte pflegen einen Patienten auf der Intensivtherapiestation (Quelle: dpa/Bernd Wüstneck)
Bild: dpa/Bernd Wüstneck

Seit Tagen stagnieren die Corona-Zahlen auch in Berlin, die für Lockerungen ausgerufene Inzidenz von 35 scheint utopisch weit weg. Die Berliner Amtsärzte fordern daher einen anderen Weg. Doch der Senat will vorerst weiter an seiner Strategie festhalten.

Die Berliner Amtsärzte fordern ein Umdenken auf dem Weg zu Lockerungen. Dem rbb liegt ein Schreiben der Amtsärzte an den Senat vor, in dem gefordert wird, Öffnungsszenarien nicht mehr an generelle Inzidenzwerte zu knüpfen. Zunächst hatte darüber der "Tagesspiegel" berichtet.

Es sei "nicht zielführend, Eindämmungsmaßnahmen an Inzidenzen von 20/35/50" zu koppeln, heißt es in der Stellungnahme aller zwölf Amtsärzte. "Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab", heißt es in dem Schreiben. Sie seien von Testkapazitäten und dem Testwillen der Menschen abhängig. "Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln", argumentieren die Ärzte.

Mediziner wollen "Alterskohorten" stärker betonen

Es sei zudem ein gewaltiger Unterschied, ob eine 7-Tage-Inzidenz von 50 herrsche, dabei aber alle Infizierten symptomfreie Kinder seien und die über 80-Jährigen schon durchgeimpft oder ob bei einer Inzidenz von 50 vor allem Risikogruppen betroffen seien. Demnach müsste man auch die politischen Maßnahmen entsprechend justieren.

Die Amtsärzte schlagen deshalb vor, Maßnahmen nach den möglichen Konsequenzen einer Erkrankung auszurichten. Konkret fordern sie "intensive Maßnahmen der Infektionsprävention" für Alte und Kranke und gleichzeitig eine Abmilderung der Maßnahmen für andere Gruppen wie Schulkinder. Es solle deshalb in Zukunft eine nach Alterskohorten ausgerichtete Inzidenzanalyse als "Frühwarnsystem" geschaffen werden.

Die Amtsärzte fordern in der Stellungnahme außerdem, dass die Gesundheitsämter "in den nächsten Wochen wieder in die Lage versetzt werden, dass sie ihre originären Aufgaben der existenziellen teilhabesichernden Gesundheitsdaseinsvorsorge für Kinder und Erwachsene realisieren". In der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung fehle derzeit diese wichtige dritte Säule. "Außerhalb der Pandemiebewältigung finden die anderen Aufgaben gar nicht oder nur noch als Notbetrieb statt, mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen für Betroffene", heißt es in dem Schreiben weiter.

Kalayci verweist auf bundeseinheitliche Regelungen

Der Berliner Senat sieht in den Corona-Inzidenzwerten nach rbb-Informationen weiter einen wichtigen Orientierungspunkt. Im Stufenplan für Lockerungen, die Bund und Länder vorbereiten, spielen sie weiter eine wichtige Rolle, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Er selbst hält es für realistisch, bis Ostern die 7-Tage-Inzidenz von 30 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zu erreichen.

Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) reagierte ebenfalls zurückhaltend auf den Vorstoß der Amtsärzte: "Der Senat wird über einen Lockerungsplan nach Clustern am Dienstag beraten, aber noch nichts beschließen, denn das muss bundesweit einheitlich geschehen", sagte sie am Montagmorgen im Gespräch mit dem rbb-Sender Radioeins.

Lockerungen müssten insgesamt mit großer Vorsicht geschehen, denn die Corona-Mutationen seien auch in Berlin nach wie vor auf dem Vormarsch - aktuell zähle man 736 Fälle von Mutationen. "Natürlich müssen wir das auch nach Alter differenzieren. Bei Älteren hatten wir zuletzt extrem hohe Inzidenzen gehabt. Die Amtsärzte hatten ja gesagt, wir schützen vor allem die vulnerablen Gruppen, das ist aber nicht ganz gelungen über die letzten Monate. Jetzt ist der Impfstoff für Ältere da, aber auch heute gibt es noch Infektionen in Pflegeheimen", so Kalayci.

 

Müller will andere Zahlen auch berücksichtigen

Derweil bereitet sich die Berliner Senatskanzlei auf das nächste Bund-Länder-Treffen zur Corona-Krise vor, das am 3. März stattfinden soll. Für den Termin wurde auch ein Stufenplan für Lockerungen angekündigt.

Der amtierende Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), kündigte am Wochenende an, sich dabei nicht nur an der Zahl der Neuinfektionen zu orientieren. "Der Inzidenzwert bleibt wichtig, aber auch ein R-Wert deutlich unter 1 und eine sinkende Auslastung der Intensivmedizin werden wichtige Kriterien für nächste Lockerungsschritte sein", sagte Müller der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten" (Montag).

Müller: "Keine Einbahnstraße in Richtung von Lockerungen"

Müller kündigte für die neue Woche "einen Vorschlag ohne die Werte 10 oder 25" an, wie sie von einigen vorgeschlagen wurden. In seinem Entwurf werde es vielmehr um Zeiträume mit Ansteckungsraten unter 35 oder 50 gehen. "Wenn Bundesländer stabil über mehrere Wochen diese Inzidenzen erreichen, können weitere Schritte in der Kultur und der Gastronomie folgen."

Angesichts der am Wochenende wieder gestiegenen Fallzahlen und der Gefahr durch Virusmutationen stellte er klar, der Stufenplan sei "keine Einbahnstraße in Richtung von Lockerungen". Der SPD-Politiker sagte: "Wir werden notfalls auch wieder Einschränkungen beschließen müssen, wenn die Zahlen wie in anderen europäischen Ländern wieder stark steigen."

Sendung: Inforadio, 22.02.2021, 7 Uhr

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69 Kommentare

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  1. 69.

    "Wenn Bundesländer stabil über mehrere Wochen diese Inzidenzen erreichen, können weitere Schritte in der Kultur und der Gastronomie folgen."

    Ja, und wenn ich nächsten Samstag im Lotto den Jackpot knacke, gibt es Freibier für ganz Berlin.

    Leider ist das ungefähr genauso wahrscheinlich wie das Erreichen schöner Zahlen und Werte (es wird uns doch dauernd erzählt, dass die Mutanten kommen), weshalb ich nunmehr von Lockdown bis Weihnachten ausgehe. Dumm bloß, dass es dann aller Voraussicht nach nicht mehr viel wiederzueröffnen geben wird. Aber natürlich besteht Hoffnung: Ich denke doch an Weihnachten 2021. Jedenfalls noch.

  2. 68.

    Kann schon sein, dass ich Dinge zu rosarot sehe, aber so bin ich eben... :-)
    Todeszahlen von einst tausend am Tag und jetzt 62, das ist für mich nicht nur eine "leichte" Verbesserung.
    Auch eine Inzidenz von 200 auf 60 gedrückt zu haben, das finde ich einen großen Erfolg.
    Und dass sich "keiner" impfen lässt, das kann ich beim besten Willen nicht erkennen... Ich werde es jedenfalls machen, sobald ich dran bin. Warum sollte ich denn nicht?
    Aber das kann alles an meiner rosaroten Brille liegen; andere Menschen sehen Dinge eben anders, und das ist kein bisschen böse gemeint! Für mich zählen die Erfolge und nicht, was alles noch passieren könnte, wenn wenn wenn...

  3. 67.

    Bei Kinderärzten und Hausärzten ist der Praxisalltag seeeeeehr ruhig derzeit.
    Die üblichen Infektionen sind homöopathisch selten.
    Für meine Praxis stand heute: 1051 Menschen seit dem4.1. 21.
    Im letzten Jahr waren es 1485 Menschen.
    Und wir haben die gleichen Öffnungszeiten.
    Kinder daheim stecken sich halt nicht an.

    Ach könnte ich die Zeit doch zum Impfen nutzen.

  4. 66.

    Am selben Tag wird vom Gesundheitssenat verkündet, dass Risikopatienten mit Priorität 2 unter 65 de facto derzeit noch keinen Impftermine bekommen, anders als andere Gruppen mit Priorität 2. Dafür kann jeder Hausarzt chronisch Kranke über 65 zum impfen anmelden. Die Aussage der Amtsärzte bedeutet, wenn vor allem junge gesunde Menschen positiv getestet werden, muss man dann die Risikogruppe schützen. Schützen heißt in diesem Fall, vom öffentlichen Leben isolieren, sich nicht frei bewegen können, nicht einkaufen dürfen...Impfungen sind ja für Risikopatienten mit hoher Gefährdung unter 65 nicht in Sicht. Sie wären womöglich der Schutz gewesen. Statt dessen wird im geschilderten Fall ihre Freiheit eingeschränkt, die sowieso schon länger eingeschränkt er ist als bei Gesunden.

  5. 64.

    "Sind den unsere ausländischen Mitbürger nicht aufgeklärt ?" Gegenfrage. Wollen sie auf ihren durchsichtigen Versuch eine ehrliche Antwort?

    Mach ich gerne, wenn mal wer kurz die Nettiquette ausstellt. ^^

  6. 63.

    Lesen bildet! Ich sprach von Experten. Mehrzahl. Und dass sie auf Tatsachen verzichten können, das kann man auch lesen.

  7. 62.

    "Denen überlassen die sich damit auskennen",
    Der ist gut!

  8. 61.

    Das kommt davon wenn man nicht weiterdenken kann wie der gleichnamige Hund. Jeder der klar denken konnte, wußte dass das mit diesen undiszipinierten Haufen, den wir Deutsche geworden sind, bis April dauern wird.

    Ich meine keinen Kadavergehorsam, ich meine selbstständig und logisch denken. Das scheint außer Mode gekommen zu sein.

  9. 60.

    Hey Leute seht euch doch mal auf den Spielplätzen um !
    Zehn Mütter und mindestens soviel Kleinkinder alle ohne Maske!
    Sind den unsere ausländischen Mitbürger nicht aufgeklärt ?
    Warum dann Schulen und Kitas schließen ? Wie sollen wir so einen niedrigen Intensidenzwert erreichen

  10. 59.

    Und ihre Experten sind Attila Hildmann und die Heulboje Xavier Naidoo? Ihr Coronaleugner seid einfacher zu duchschauen wie ein 4-jähriger vor dem Süßwarenregal. :-D

  11. 58.

    Sie bezeichnen andere als Neoliberal, und meinen selber, dass die einzige Konsequenz des jetzigen Lockdowns reduzierte Steuereinnahmen wären? Ich denke, dass wissen auch Sie besser, dass die Schäden weit über finanzielle Verluste hinausgehen und irgendwann die vermiedenen Schäden durch Corona übersteigen (oder das schon bereits getan haben), insbesondere, wenn nun vermehrt Risikogruppen durch Impfungen den nötigen Schutz erhalten.

  12. 57.

    Die Alternative ist Impfen. Und solange die Menschen nicht geimpft sind kommen wir von einem Lockdown in den nächsten. Da wir kaum Impfungen haben geht der Spaß von vorn los, ob Ihnen das passt oder nicht!

  13. 55.

    Sehr lustig, einen Kommentar von 12.24 Uhr gibt es hier garnicht. Ein Schelm der böses dabei denkt. rbb24, schreibt Ihr selber Kommentare, dann müßt Ihr sie auch veröffentlichen ;-)

  14. 54.

    Was nützen Ihnen diese leichten Verbesserungen? Wenn geöffnet wird und keiner geimpft ist sind die Zahlen sehr schnell wieder oben.

  15. 52.

    Schweden hat auf Eigenverantwortung gesetzt, weil es dort gesetzlich nicht anders ging.
    Ein Vergleich Deutschland mit Schweden macht genauso wenig Sinn wie Deutschland mit Neuseeland zu vergleichen.
    Selbst mit Nachbarländern wie Frankreich oder Polen ist der Vergleich nicht so einfach.
    Es gibt einfach viel zu viele Faktoren die man berücksichtigen müsste.... altersstruktur oder ganz banal wie viele nutzen wann den ÖPNV usw. usw.

  16. 51.

    Ist nur ne Reaktion auf einen Kommentar, kannste entsprechend nachlesen.
    Davon abgesehen, was mischen sich jetzt auch noch die Amtsärzte ein? Die sollen sich auf ihre Arbeit konzentrieren und die den Job machen lassen, die sich damit auskennen.

  17. 50.

    Bullshit! Was käme denn langfristig teurer? Der jetzige Ausfall an Steuern, der sich kompensieren lässt oder der Ausfall durch die Toten, der sich nicht kompensieren lässt. Mal ganz von dem menschlichen Leid und den Tragödien die damit einher gehen? Aber das interessiert Neoliberale ja nicht. Aber auch die Kosten für die langwierigen Folgen dürften immens sein.

    Und Deutschland ist so immens reich, wir können uns schwimmende Schrotthaufen, veraltete Flugzeuge und nicht fliegende Drohnen für Abermilliarden leisten, mal ganz davon abgesehen dass wir Banken, Großkonzernen und Milliardären das Geld noch hinterwerfen, weil wir keine Steuern von denen eintreiben.

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