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Debatte um freiwillig wiederholtes Schuljahr

"Die Pistole auf die Brust gesetzt"

Der Berliner Sonderweg, dass Schüler freiwillig ein Jahr wiederholen können, erzeugt Druck auf mehreren Seiten. Eltern haben Angst, ihr Kind müsse womöglich die Schule wechseln. Schulleiter fürchten explodierende Klassengrößen. Von Tobias Schmutzler

Eine gute Idee, denkt sich Dieter M., als er das erste Mal von der freiwilligen Ehrenrunde hört. Ende Februar in den Radionachrichten ist das. Zwei Monate später sind er, seine Frau und ihr gemeinsames Kind ernüchtert. Aus der Idee, die alle drei am Anfang gut fanden, ist inzwischen eine große Enttäuschung geworden. Die Eltern üben jetzt harte Kritik an ihrer Schule – doch so einfach ist die Geschichte nicht, wenn man alle Seiten kennt.

Aber der Reihe nach. Das Abgeordnetenhaus hat für Berlin eine Sonderregelung geschaffen: Eltern können in diesem Corona-Krisenjahr beantragen, dass ihr Kind freiwillig eine Klasse wiederholt. Die Möglichkeit haben auch Dieter M., seine Frau Melissa und ihr Kind Alex diskutiert. Sie haben sich an den rbb gewandt, um zu erklären, welche Probleme sie mit der Regelung hatten. Die Familie will anonym bleiben, um keinen Ärger in der Schule zu bekommen. Deswegen nennen wir Geschlecht und genaue Klassenstufe des Kindes nicht, die Namen der Familienmitglieder haben wir geändert.

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Alex hat sich die Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht. Wäre ein freiwilliges Wiederholen das Richtige? Die Vor- und Nachteile hat das Kind auf einer Liste gesammelt, seit die Familie die Idee zum ersten Mal besprochen hat. Vor allem in den Fremdsprachen könnte Alex die Vokabeln nochmal von vorn lernen und seine Noten verbessern, wenn das Kind die Klasse freiwillig wiederholt – so überlegen alle drei in gemeinsamen Gesprächen.

"Wir haben ein paar Vorteile gesehen – und waren auch stolz darauf, dass Alex sich aktiv damit auseinandersetzt", sagt Mutter Melissa M. im Nachhinein. Auf der Negativseite listet Alex auf, den aktuellen Klassenverband verlassen zu müssen – das wäre aus Kindessicht ein großes Opfer, das die Ehrenrunde fordern würde. Und so herrscht nach einigen Wochen Gleichstand zwischen den Argumenten. Doch dann kommt der Hammer für die Familie.

Das Kind muss "im schlimmsten Fall" die Schule verlassen

"Im schlimmsten Fall kann es dazu kommen, dass Kinder die gewohnte Schule verlassen müssen." Dieser Satz haut Dieter und Melissa M. um, als sie ihn Anfang April in einer Mail lesen. Absender ist Norman Heise, der Vorsitzende des Landeselternausschusses Berlin. Einige Sätze in der Info-Mail hören sich für Alex' Eltern fast schon wie Drohungen an. Zum Beispiel der Hinweis des Landeselternsprechers, "dass das freiwillige Wiederholen nicht nur positive Konsequenzen haben kann".

Alex nimmt die angesprochene Möglichkeit, die Schule verlassen zu müssen, bereits als Fakt wahr: "Wenn freiwilliges Wiederholen nur geht, wenn ich die Schule wechsle, dann will ich definitiv nicht wiederholen", sagt das Kind. Auch vom aus ihrer Sicht eng gesteckten Zeitrahmen fühlen sich Dieter und Melissa M. unter Druck gesetzt. Die E-Mail von Norman Heise bekommen sie am 8. April, aber schon bis 13. April sollen sie einen Antrag an die Schulleitung stellen. "Wir hatten das Gefühl, man hat uns die Pistole auf die Brust gesetzt", sagt Melissa M. im Nachhinein.

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"Organisatorisch sehr schlecht", kritisieren die Eltern

Weder genug Informationen, etwa über einen Elternbrief, noch eine neutrale Beratung hätten sie bis dahin bekommen, sagen die Eltern. Stattdessen haben Dieter und Melissa M. die Klassenlehrer nach eigener Schilderung selbst angesprochen – doch auch von den Pädagogen hörten sie vor allem die Warnung, dass ihr Kind womöglich die Schule verlassen müsse. Die Eltern betonen zwar, auch Verständnis für die Schule zu haben, der die Organisation sicher nicht leichtfalle. Dennoch: "Das war organisatorisch sehr schlecht. Wir haben uns unschön behandelt gefühlt", sagt die Mutter. Den Antrag, dass Alex freiwillig wiederholen will, hat die Familie schließlich nicht abgeschickt.

"Ich verstehe die Frustration der Eltern", sagt Dana Wolfram, die stellvertretende Schulleiterin des Otto-Nagel-Gymnasiums, das Alex besucht. 910 Schülerinnen und Schüler besuchen die Schule, unterrichtet von 70 Lehrerinnen und Lehrern. Wolfram bedauert, wenn die Beratung durch die Klassenlehrer im Fall von Dieter und Melissa M. "nicht optimal" gelaufen sei. Doch dankt sie dem Landeselternsprecher für die offenen Worte in seiner Info-Mail. Denn sie sieht das Problem aus einer anderen Perspektive: mit Blick auf die Folgen, die das freiwillige Wiederholen für die Klassengrößen haben kann.

Die Schulleitung will verhindern, dass Klassen überfüllt werden

"Wir haben im neuen Schuljahr weder mehr Lehrerpersonal noch mehr Räumlichkeiten", erklärt Wolfram gegenüber dem rbb. Schon jetzt seien viele Klassen mit 33 Kindern am Anschlag. "Wenn da ein 34. Kind dazukommen würde, würde ich mich dagegen verwehren", sagt die stellvertretende Schulleiterin. Deshalb bleibt ihr aus ihrer Sicht nichts anderes übrig, als klarzustellen: "Jedes Kind hat das Recht, freiwillig zu wiederholen. Aber das Abgeordnetenhaus hat nicht gesagt, dass das an der Schule sein wird, an der das Kind im Moment ist."

Besonders bei den 7. Klassen sei platztechnisch kaum noch Luft. Bisher liegen elf Anträge auf freiwilliges Wiederholen auf Wolframs Schreibtisch. Allerdings waren die bisherigen Fristen "gesetzlich gesehen nicht bindend", so die stellvertretende Schulleiterin. Würden beispielsweise auf den letzten Metern vor den Sommerferien noch zehn weitere Schülerinnen und Schüler zurücktreten wollen, dann stünde Dana Wolfram vor einem "Scherbenhaufen", sagt sie.

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War es richtig, die Eltern allein entscheiden zu lassen?

Vielleicht hätten die Probleme, die die freiwillige Ehrenrunde jetzt macht, verhindert werden können. Der FDP-Politiker Paul Fresdorf nennt es einen "Geburtsfehler" der Gesetzesänderung, dass Eltern allein entscheiden und die Schulen nicht mitbestimmen. "Wir haben von Anfang an gewarnt, dass das zu schulorganisatorischen Problemen führen kann", so der bildungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion gegenüber dem rbb.

Dagegen verteidigt der CDU-Politiker Dirk Stettner die Regelung grundsätzlich. "Ist es richtig, dem Elternwillen den Vorrang vor dem Willen der Pädagogen zu geben? Ja", sagt Stettner dem rbb. Der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion hat für die Gesetzesänderung gestimmt, die vor allem von der rot-rot-grünen Koalition vorangetrieben wurde. Wenn es nach Stettner gegangen wäre, hätte allerdings unter anderem eine verbindliche Antragsfrist schon im Gesetz gestanden.

"Alle müssen an der Kommunikation arbeiten"

Sorgen vor den organisatorischen Folgen der Gesetzesänderung hat er indes nicht. "Ich halte es für höchst zweifelhaft, dass noch ein großer Schwung an verspäteten Anträgen kommen wird", so Stettner. Und wenn doch, sieht er die Schulleitungen in der Pflicht, zu verhindern, dass ein Kind die aktuelle Schule verlassen muss.

Wahrscheinlich wäre Dana Wolfram froh, wenn Dieter und Melissa M. keinen verspäteten Antrag für ihr Kind Alex stellen. Trotzdem schlägt die stellvertretende Schulleiterin des Otto-Nagel-Gymnasiums die Tür nicht zu – sondern lädt die Eltern ausdrücklich zu einem neuen Beratungsgespräch ein. "In der Krise hat sich gezeigt, dass ein Schwerpunkt Kommunikation ist. Ich glaube, da müssen wir alle dran arbeiten", so Wolfram. Jetzt liegt es an der Familie, ob sie auf das neue Gesprächsangebot eingeht.

Die Kommentarfunktion wurde am 28.04.2021 um 11:16 Uhr geschlossen

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Sendung: Inforadio, 28.04.2021, 6 Uhr

Beitrag von Tobias Schmutzler

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