Wrestlingschule in Neukölln - "Im Grunde wollen wir immer eine Heldenreise darstellen"

Do 05.10.23 | 14:10 Uhr | Von Hasan Gökkaya
Toni Tiger Harting zeigt Margarethe Neubauer Grundlagen der Wrestling-Schule in Berlin-Neukölln. (Quelle: rbb)
Video: rbb24 Abendschau | 05.10.2023 | M. Neubauer/M. Wenzel | Bild: rbb

In den USA werden mit den Showkämpfen Milliarden umgesetzt, hierzulande ist Wrestling immer noch eher ein Nischensport. In einer Wrestlingschule in Berlin-Neukölln lassen sich Kämpfer ausbilden. Hasan Gökkaya hat sie besucht.

Laute Schreie sind in der Schulturnhalle an der Neuköllner Kopfstraße zu hören. Toni verdreht Georg den Arm, der befreit sich plötzlich und hat jetzt seinen Gegner im Griff. Toni, 105 Kilogramm schwer, 1,85 Meter groß, muskulös, verzieht das Gesicht, fällt auf die Knie, es scheint vorbei zu sein. Doch dann kontert er mit einer akrobatischen Bewegung und springt auf, schleudert seinen Gegner gegen einen Bock, läuft hinterher, Georg dreht sich noch um, zu spät: Toni verpasst ihm einen Schlag gegen die Brust. Es klatscht.

Platt liegt er auf der blauen Matte. Toni springt auf ihn, Bauch an Bauch, er presst seinen Gegner tief in die Matte. "Eins, zwei, drei!" Es ist vorbei, der Sieger steht fest.

Nur Sekunden später jubeln Toni und Georg, lachen, wirken zufrieden. Alles verlief nach Plan, ein normaler Moment für einen Profi-Wrestler.

Im Ring: Wrestler, im Alltag: Polizeibeamter

"Im echten Ring sieht das deutlich spektakulärer aus", sagt Toni, der ein wenig ins Schwitzen gekommen ist. Der 37-Jährige ist Polizist in Brandenburg, steigt er aber in den Ring, kennen seine Fans ihn nur noch als Toni "Tiger" Harting. Seit acht Jahren tourt er durch Deutschland, wird in den verschiedenen Städten gebucht, vor allem aber in Berlin, der Stadt, in der er 2022 "Worldchampion" in der eigenen Liga der German Wrestling Federation (GWF) wurde.

Die GWF gehört zu den größten Wrestling-Veranstaltern Deutschlands - und das Geschäft läuft offenbar nicht schlecht. Jeden Monat zahlen 500 bis 700 Menschen 18 Euro für ein Ticket im Festsaal Kreuzberg, wo die Ringkämpfe stattfinden. Warum? "Weil Wrestling Entertainment ist", sagt Ahmed Chaer. "Wenn du als Kickboxer in einem Turnier teilnimmst, klopft dir ein Zuschauer auf die Schulter, wenn du Glück hast. Wenn du als Wrestler irgendwo hinfährst, wollen die Leute ein Foto und Autogramm mit dir. Als Wrestler bist du eine Art Star für die Zuschauer." Der 44-Jährige hat die GWF 1995 zusammen mit seinem Bruder Hussen Chaer gegründet. Insgesamt gibt es in Deutschland vermutlich nicht mehr als eine Handvoll größerer Wrestlingschulen. "Wir haben uns durchgebissen", stellt Chaer klar.

Es ist Montagabend, ein paar Frauen sind dabei, die meisten der rund 20 Teilnehmer sind Männer. Zwei Mal in der Woche trainieren sie; schlagen, werfen, springen, üben den "Uppercut", den Vorarmschlag, die "Clothesline", den "Suplex". Einige hoffen auf den Sprung in den echten Ringkampf. "Wer talentiert ist, kann vielleicht nach acht Monaten in den Ring steigen. In der Regel braucht sich aber nicht niemand Hoffnung machen, der nicht mindestens sein einem Jahr Training hinter sich hat", sagt Chaer. Und das hat seinen Grund: In der US-Wrestlerszene kommt es immer wieder mal zu Ausfällen, weil sich die Athleten ernsthafte Verletzungen wie Halswirbelbrüche oder schwere Rückenverletzungen zuziehen.

Wer gewinnt oder verliert, entscheidet das Drehbuch

Was hier gerade in Neukölln passiert, heißt korrekt "Professional Wrestling" und ist nicht zu verwechseln mit dem olympischen Wrestling, also Ringen. Anders als Ringen ist Wrestling zudem eine Schaukampf-Sportart: Wer gewinnt, wer verliert, das entscheidet hier ein Drehbuch. Die Wrestler arbeiten im Grunde ein Skript ab. Bei der GWF entscheidet Ahmed Chaer, wer Champion und Loser wird. Er bestimmt auch, wer "Held" und wer "Schurke" im Ring ist. "Im Grunde wollen wir immer eine Heldenreise darstellen, und dafür braucht man eben auch einen Bösen, der den Helden leiden lässt, bevor dieser vielleicht irgendwann als Sieger empor steigt", sagt Profi-Wrestler Toni. "Auf der Bühne kannst du dafür das 'Biest aus Skandinavien' sein oder aber auch der 'Coole, der die Leute hintergeht'."

"Wir reden im Kampf, das kriegen die Zuschauer nicht mit"

Stört die Wrestler es nicht, wenn schon vorher feststeht, wer Champion wird? "Überhaupt nicht", sagt Toni beim Training. "Es geht nicht darum, ob du gewinnst oder verlierst. Sondern darum, wie man den Leuten die Geschichte erzählt. Das ist das Essentielle. Wenn du die Leute begeisterst, egal ob als Bösewicht oder Held, dann weißt du, dass du alles richtig gemacht hast." Nicht alles sei durchgeskriptet, vieles werde improvisiert. "Wir reden im Kampf miteinander, aber das kriegen die Zuschauer gar nicht mit", sagt Toni.

Auf die Frage, ob er seinen Gegner bei einem Kampf wirklich treffe, hebt er das T-Shirt von Georg hoch, dem Wrestler gegen den er vorhin auf der Matte gekämpft hatte. Die Brust ist haarig - und knallrot. "Wrestling ist hundert Prozent Athletik, das muss man ganz klar sagen." Tut das weh? "Na, du siehst doch wie rot das ist!", sagt Georg.

Hand gebrochen in Minute 5

In Deutschland noch ein Nischensport, ist Wrestling in den USA ein kommerzielles Event. Der weltweit größte Veranstalter World Wrestling Entertainment (WWE) sitzt in Stamford, Connecticut. Allein 2022 setzt das Unternehmen 1,3 Milliarden Dollar um. Von solchen Margen sind die Promoter in Berlin, Brandenburg, Deutschland weit entfernt.

Und während Wrestlern wie Dwayne "The Rock" Johnson ("Black Adam", "Jumanji"), Dave Bautista ("Guardians of the Galaxy", "Glass Onion") oder John Cena ("Suicide Squad", "Fast and Furious") bereits der Sprung vom Ring auf die Hollywood-Bühne gelungen ist, können Toni und Georg nur nebenberuflich Wrestler sein. Sie sind nämlich im Grunde Selbstständige, die für jeden Kampf gebucht werden und die Honorare sind gering. Zu einem Massenevent könne Wrestling nur werden, wenn Catchen im Fernsehen übertragen wird, sagt Ahmed Chaer.

Er selbst steigt anders als sein Bruder Hussen inzwischen nicht mehr in den Ring. Er habe genug zutun - auch weil er ab und zu als Stuntman auftritt. Zuletzt im Hollywoodfilm "Matrix 4" mit Keanu Reeves ("ein super bodenständiger Typ!").

Vielleicht weiß er aber auch zu gut, welche Kräfte trotz des Showeffekts beim Wrestling auf den Körper einwirken. Chaer betont zwar, dass ein trainierter Wrestler sich in der Regel nicht schwer verletze ("wehtun ist okay, verletzen nein"). Auf Nachfrage erinnert er sich aber an seine aktive Zeit im Ring. "Okay, ich habe mir mal die Hand gebrochen während eines Kampfs. Es war Minute fünf. Das stand im Drehbuch halt nicht drin. Also machte ich noch 25 Minuten weiter, mit gebrochener Hand, klar, das passiert."

Sendung: rbb24 Abendschau, 05.10.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Hasan Gökkaya

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