Interview | "Schiri-Boss" Lutz Michael Fröhlich - "Es gibt über 95 Prozent weniger klare Fehler als ohne den Videoassistenten"

Sa 06.01.24 | 18:10 Uhr
  4
Lutz Michael Fröhlich (imago images/Bernd Feil)
Bild: imago images/Bernd Feil

Gefühlt laufen die Kontroversen um den Videobeweis im Fußball aus dem Ruder. Dabei ist der viel besser als sein Ruf, sagt Lutz Michael Fröhlich, Geschäftsführer der Schiri GmbH. Was dennoch anders werden muss und wieso dabei auch Taktik eine Rolle spielt.

rbb|24: Lutz Michael Fröhlich, wir erreichen Sie in Portugal, wo Sie gerade mit den deutschen Profi-Schiedsrichtern im Trainingslager weilen. Was steht denn da so auf der Tagesordnung?

Lutz Michael Fröhlich: In erster Linie geht es um die Aufarbeitung der bisherigen Spielzeit und um Impulse, damit die Schiedsrichter bestmöglich vorbereitet in das Fußballjahr 2024 gehen. Dabei haben wir unter anderem mit Frank Kramer einen Trainer vor Ort, der eine Spielanalyse für die Schiedsrichter aus der Sicht der Trainer vorgestellt hat. Wir haben Roberto Rosetti zu Gast, den Schiedsrichterchef der Uefa, dessen Ausführungen sich intensiv mit der Regelauslegung beim Handspiel beschäftigen. Und natürlich gibt es ein umfangreiches Trainingsprogramm, inklusive Physiotherapie, um die Schiedsrichter auch körperlich optimal auf das Fußballjahr 2024 vorzubereiten.

Zur Person

Der 66-jährige Berliner Lutz Michael Fröhlich war selbst ein ausgezeichneter Schiedsrichter. 1988 gab er sein Debüt in der 2. Bundesliga, 1991 folgte die Bundesliga. Neben zehn Länderspielen und 14 Europapokalspielen pfiff Fröhlich das DFB-Pokalfinale 2003 und von 1994 an auch Partien in der japanischen und südkoreanischen Liga. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere 2005 übernahm er verschiedene Positionen in der Schiedsrichter-Ausbildung. Noch bis zum Sommer 2024 ist er Geschäftsführer der von DFB und DFL geführten Schiri GmbH, die sich um die Belange der deutschen Profi-Schiedsrichter kümmert.

Was lief denn eher weniger gut?

Wie eigentlich jedes Jahr ist die Regelauslegung überwiegend klar und einheitlich. Aber es gab auch einige Dinge, die aufgearbeitet werden mussten. Es geht darum, aus Fehlern zu lernen und sich weiter zu verbessern. Zum Beispiel in der Konsequenz bei groben Fouls. Da haben wir ein paar Unwuchten wahrgenommen in der Hinrunde. Da gilt es nachzuschärfen, damit es in der Rückrunde besser läuft.

Viele Anhänger würden wohl vor allem den Videobeweis kritisieren.

Der Videoassistent hat leider noch nicht die Akzeptanz in der Öffentlichkeit, die wir uns wünschen. Da geht es uns vor allem um die Eingriffe, bei denen viele keine einheitliche Linie wahrnehmen. Aber auch hier darf man nicht nur das Negative sehen. In dem Bereich Videoassistent wird intensiv an der Verbesserung der Kommunikation gearbeitet und natürlich auch daran, dass die Nachvollziehbarkeit bei den Interventionen gesteigert wird.

Wie könnte das aussehen?

Bei der Kommunikation geht es um Effizienz, also darum, dass in den Prozessen Klarheit herrscht und man dabei das Wesentliche nicht aus den Augen verliert.

Nicht wenige Fußball-Fans würden den VAR, also den Video Assistant Referee, vermutlich am liebsten einfach wieder abschaffen. Die Schiedsrichter auch?

Der Videoassistent ist inzwischen ein etabliertes Instrument, bei der Fifa, der Uefa und in fast allen nationalen Ligen. Ich denke, es ist wichtig, dass man sich im Umgang mit diesem Instrument weiterentwickelt und Geduld hat und vor allem, dass man sich von dem Gedanken löst, dass es durch den Videoassistenten keine Fehler mehr gibt. Der Videoassistent kommt in Deutschland im Moment leider nicht aus der Defensive raus. Das hängt vielleicht auch mit zu hohen Erwartungen zusammen.

Sie betrachten den Videobeweis also als Erfolg?

Es gibt über 95 Prozent weniger klare Fehler als noch vor der Zeit des Videoassistenten. Dieser positiven Erkenntnis wird aber - oft auch aus der Betroffenheit heraus - gegenübergestellt, dass es immer noch Fehlentscheidungen gibt, weil der Videoassistent vermeintlich mal eingreift, wo er nicht sollte, oder nicht eingreift, wo er vermeintlich eingreifen sollte. Wir dürfen auch im Zeitalter des Videoassistenten nicht die Rolle der Schiedsrichter verändern oder ihn in der Betrachtung vernachlässigen. Sie sind nach wie vor diejenigen, die das Team führen und die Entscheidungen treffen, nicht der Videoassistent. Jede gute und korrekte Entscheidung auf dem Feld erspart dem Videoassistenten, dass er strapaziert werden muss.

Schauen wir auf die Sonnenseite: Was lief denn besonders gut in der bisherigen Saison?

Es ist kein ungewöhnlicher Saisonverlauf. Es gab sehr gute Spielleitungen und Spielleitungen, in denen es nicht ganz rund lief. Gesprochen und berichtet wird aber nur über die Spiele, in denen Fehler passierten. Auch die Handspielauslegung zum Beispiel ist bei weitem nicht so schlecht, wie es häufig dargestellt wird. Auch hier liegen 95 Prozent der Entscheidungen im grünen Bereich.

Es gibt so eine gefühlte Wahrheit, nach der niemand mehr so richtig eine Ahnung hat, was denn nun Handspiel ist und was nicht.

Ich habe Kommentierungen von Spielen erlebt, bei denen die Handspiel-Entscheidung korrekt war und dann hört man aber: Ja, die Entscheidung ist zwar nachvollziehbar, aber man weiß heutzutage eigentlich nicht mehr, was alles Handspiel ist. Da kommt also zu einer positiven Entscheidung in der öffentlichen Kommentierung eine negative Darstellung. Das ist schon manchmal verrückt und trägt Züge von Populismus.

Vielleicht sollten Sie nicht nur Trainer in ihr Trainingslager einladen, sondern auch die Medien?

Im Trainingslager sind auch Journalisten zu Gast, mehrere TV-Sender berichten von unserer Rückrunden-Vorbereitung. Außerdem führen wir in der Saison auch Medien-Workshops durch – ein Angebot, das Journalisten nutzen können, um ihre schiedsrichterfachliche Expertise weiterzuentwickeln. Wir haben den Bereich Kommunikation verstärkt, mit Alexander Feuerherdt, vorher Collinas Erben. Wir sind jetzt in der Lage, rund um die Spieltage zeitnah schiedsrichterfachliche Informationen an die Medien weiterzugeben, um so häufig zu einer sachgerechteren Berichterstattung beizutragen.

Die Laufwege und die Positionierung der Schiedsrichter haben eine erhebliche Bedeutung. In welchen Räumen sind welche Spielvorgänge, zum Beispiel Zweikämpfe, zu erwarten? Eine gute Antizipation ist wesentlich für eine gute Spielleitung.

Lutz Michael Fröhlich

Zurück zum Gast, der da ist. Frank Kramer zuletzt bei Arminia Bielefeld und Schalke 04 in der Bundesliga tätig. Worauf weist er ihre Kollegen denn so hin?

Das ist die Expertise aus dem Fußball, die den Schiedsrichter noch mehr Verständnis für Abläufe und Reaktionen nahebringt. Zum Beispiel, dass die Schiedsrichter sich im Vorfeld der Spiele mit den Mannschaften und deren aktuellen Status beschäftigen. Zum Beispiel auch, dass die Schiedsrichter sich auf taktische Systeme und das Pressingverhalten vorbereiten.

Warum spielt das eine Rolle?

Das kann sich auf den Spielcharakter auswirken und auch wichtig sein für das Laufverhalten und die Positionierung. Die Laufwege und die Positionierung der Schiedsrichter haben eine erhebliche Bedeutung. In welchen Räumen sind welche Spielvorgänge, zum Beispiel Zweikämpfe, zu erwarten? Eine gute Antizipation ist wesentlich für eine gute Spielleitung.

Klassischerweise haben auch Schiedsrichter Laufwege. Zumeist sollen sie sich diagonal über den Platz bewegen, um das Geschehen im Zusammenspiel mit den Assistenten immer optimal beurteilen zu können. Hat sich daran etwas verändert?

Absolut. Die Vorgabe der diagonalen Linie ist überholt. Es gibt zwar immer noch eine diagonale Grundausrichtung. Diese wird aber idealerweise spielbezogen gelaufen, das heißt mal abweichend nach links, mal abweichend nach rechts, je nachdem, wie sich das Spiel aufbaut und entwickelt. Es geht um den besten Blickwinkel zur Situation und nicht um eine theoretische Laufvorgabe. Das erfordert auch Antizipationsvermögen, das heißt, den nächsten Spielvorgang vorauszudenken, und es geht um das Vermögen, Positionen von Spielern durch kurze Veränderungen des Blickwinkels zu scannen. Dieses Vermögen zeichnet zum Beispiel auch Top-Fußballer aus.

Positiv entwickelt hat sich zuletzt die Anzahl der deutschen Schiedsrichter insgesamt. Im Jahr 2023, dem "Jahr des Schiedsrichters", sind erstmals mehr Menschen neu dazugekommen, als aufgehört haben.

Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Wir liegen jetzt bei etwa 54.000 Schiedsrichtern in Deutschland. Vor allem bei den Unter-18-Jährigen sind deutlich mehr Schiedsrichter als in den vergangenen Jahren dazugekommen.

Schaut man auf die Umfragen, die unter den Unparteiischen zu Beginn und zum Ende des Aktions-Jahres durchgeführt wurden [berliner-fussball.de], hat sich vieles zum Positiven verändert. Abgenommen hingegen hat die gefühlte Akzeptanz bei den Vereinen und der Respekt, der durch Zuschauer entgegengebracht wird.

Es ist ein Problem, dass es vielen heutzutage nicht mehr gelingt, Entscheidungen, die ihren Interessen entgegenstehen, zu akzeptieren. Die jeweiligen Entscheider werden dann schnell attackiert, aggressiv mit Worten, Gesten, bis hin auch zur Gewalt. Das betrifft Vereine und Zuschauer gleichermaßen. Ich wünschte mir hier zum einen mehr Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen für den Sport Fußball insgesamt und zum anderen, dass gegen respektloses und übergriffiges Verhalten viel konsequenter und schärfer vorgegangen wird. Der Wert von Entscheidungsträgern müsste mehr geschützt und dadurch auch gewürdigt werden.

Zum Abschluss, Sie müssen es schließlich wissen: Was macht einen guten Schiedsrichter aus?

Im technischen Bereich: Klare und regeltechnisch konsequente, berechenbare Regelauslegung und Fußballverständnis. Im persönlichen Bereich: Entscheidungsstärke, Verantwortungsbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit. Fokus auf den Schiedsrichterjob und unbeeindruckt bleiben vom ganzen Rummel um den Fußball. Und auch Lust und Freude auf Sport haben, denn auch in diesem Bereich sind die Anforderungen enorm. Die Motivation für den Job sollte nicht sein, ein Superstar werden zu wollen, das Sagen zu haben oder bestimmen zu wollen und übermäßig viel Geld verdienen zu wollen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde geführt von Ilja Behnisch.

Sendung: rbb24 Inforadio, 06.01.2024, 09:15 Uhr

4 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 4.

    Wenn man sich an Regeln halten würde, aber das fällt manchen Vereinen besonders schwer. Respekt und Anstand sollte in Vereinen eigentlich vermittelt werden.Gerade, wenn man mit Jugendlichen arbeitet.Würde ich unter der Würde des Menschen einordnen.Das ist im übrigen mein Spielzeug, welches als Tor zweckentfremdet wird.

  2. 3.

    Sind wir mal ehrlich: Mit VAR und Abseitstechnologie ist es besser als davor. Es werden wie im Interview gesagt mehr Fehler behoben, als gemacht werden.

  3. 2.

    Fehlerwird es immer bei Elfmeter -Entscheidungen geben.
    Vom Schiedsrichter, ohne und mit Videoassistenten.
    Ärgerlich, wenn der Gewinner vom Spiel den geschenkten Elfmeter nicht verdiente.


  4. 1.

    Immer wieder erstaunlich wie kritikresistent Fröhlich ist und den VAR immer noch verteidigt obwohl die Akzeptanz bei den Fans mehr und mehr nachlässt.
    Und das ein Zwayer immer noch pfeifen darf setzt dem ganzen die Krone auf.

Nächster Artikel