Interview | 100 Jahre Insulingewinnung - "Alle, die auf Insulin angewiesen sind, feiern dieses Jahr!"

Sa 31.07.21 | 15:42 Uhr
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Messgerät zur Blutzuckerbestimmung
Bild: imago images / Martin Bäuml Fotodesign

Diabetes ist eine Volkskrankheit. Millionen von Menschen leben mit der Stoffwechselerkrankung - hauptsächlich mit Hilfe von zugeführtem Insulin. Das konnte vor 100 Jahren erstmals hergestellt werden. Ein Meilenstein für die Medizin.

Am 30. Juli 1921, vor 100 Jahren, hat es in der Medizin einen Meilenstein gegeben. Erstmals konnte das körpereigene Stoffwechselhormon Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Tieres gewonnen werden - ein Segen für Millionen von Diabetes-Patienten. Das Insulin rettete den Erkrankten das Leben.

Roswitha Kupsch ist Typ I-Diabetikerin seit sie eine Jugendliche war - seit 43 Jahren. Heute ist sie die Koordinatorin der Diabetes-Selbsthilfegruppen in Südbrandenburg und bietet auch Beratung zu Insulinpumpen an. Im Interview spricht sie über diesen Meilenstein der Medizin und darüber, was sich in den letzten 100 Jahren in der Behandlung von Diabetespatienten getan hat.

rbb24: Frau Kupsch, die Gewinnung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Tieren war eine medizinische Sensation am 30. Juli 1921. Musste daraufhin niemand mehr an Diabetes sterben?

Roswitha Kupsch: Richtig in die Produktion ging es erst 1922. Aber ab diesem Zeitpunkt wurde weltweit Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Tieren gewonnen. Die ersten Experimente wurden an Hunden gemacht. Man hat es dann geschafft, das Insulin, das beispielsweise aus den Schlachthöfen gewonnen wurde, in eine spritzfähige Form zu bringen. Banting und Best haben dafür 1923 den Nobelpreis bekommen, weil das eine Sensation war. Vor 1921 sind alle Typ-I-Diabetiker gestorben. Es gab keine Therapie dafür. Dieses Patent für Insulin wurde nicht verkauft. Es wurde damit kein Geld gemacht, sondern man wollte es der Welt zur Verfügung stellen, damit alle, die an einem Insulinmangel, an Diabetes leiden, leben können. Man konnte das Leben retten.

War denn die andere Form, der Typ-II-Diabetes damals schon bekannt?

Ja, bei den Königen. Der Sachsenkönig beispielsweise hatte Typ-II-Diabetes. Aber dort war der Tod nicht so nah. Es ist so, dass diese zwei Varianten unterschiedliche Erkrankungen sind. Auch, wenn sie den selben Namen und die selben Folgeerkrankungen haben. Einmal heißt es Insulinmangel, es ist so, dass der Körper kein eigenes Insulin mehr herstellt. Wir wissen heute noch nicht warum. Etwa neun bis zehn Prozent der Diabetiker leiden am Typ I. Und Typ II ist eine Insulinresistenz. Das heißt, dass der Patient noch über viele Jahre Insulin selbst herstellt, also die Bauchspeicheldrüse arbeitet. Aber das Insulin, das produziert wird, das wirkt nicht. Es kann nicht so eingesetzt werden, wie es gebraucht wird.

Welche Fortschritte hat es denn seitdem gegeben? Also wie geht beispielsweise ein 13-jähriges Mädchen heute anders mit Typ-I-Diabetes um, als ein 13-jähriges Mädchen, beispielsweise in den 1950-er Jahren?

Bei einem 13-jährigen Mädchen in den 50-er Jahren stand die Familie genauso unter Schock wie heute. Das Mädchen hatte damals ein festes Spritzschema, hatte eine ganz strenge Diät. Das hat immer nur mit der Uhr gelebt und mit einem Plan. Das war ein hartes Regime. Im Nachhinein denke ich, das grenzte fast an Misshandlung, weil man einfach nicht Kind sein durfte. Es durfte nicht genascht werden, es durfte kein Sport gemacht werden.

Heute ist ein 13-jähriges Mädchen, das mit Typ-I-Diabetes im Krankenhaus liegt, für die Familie auch eine Katastrophe. Ich habe das heute erst erlebt. Aber, es ist so, dass es heute eine Insulinpumpe gibt. Innerhalb der ersten drei Tage kann die schon angelegt werden. Man muss sich nicht mehrmals spritzen am Tag. Es gibt Sensorsysteme, die die Patienten rund um die Uhr bewachen. Und das Wissen, das wir uns in den hundert Jahren angeeignet haben, die Ärzte, die Diabetologen, die Wissenschaftler, die können heute schulen, wie man damit umgeht. Und es gibt sogar schon eine automatisierte Insulinpumpentechnik, die angelehnt an eine gesunde Bauchspeicheldrüse agiert und sie nachahmt.

Das heißt in 20 Jahren werden die jungen Menschen, bei denen Typ-I-Diabetes diagnostiziert wird, kaum noch Einschränkungen haben?

Es gibt heute schon ganz wenige Einschränkungen. Man empfindet das vielleicht als Last, dass man eine kleine Insulinpumpe bei sich tragen muss, oder sich ab und zu in den Finger pieken muss, um den Blutzuckerspiegel zu messen. Aber wir können heute Sport machen, wir können fast alle Berufe ausüben. Das war noch vor 20 oder 30 Jahren einfach nicht möglich. Das Wissen, das wir in den Jahren und Jahrzehnten erworben haben hilft uns.

Sie selbst sind seit 43 Jahren Typ-I-Diabetikerin. Was hat sich in diesen 43 Jahren für Sie verändert.

Mit 17 Jahren einen Typ-I-Diabetes zu bekommen war zu DDR-Zeiten nicht ganz einfach. Ich kann mich noch an die Glaskolbenspritzen und die großen dicken Nadeln erinnern. Man konnte keinen Blutzucker selbst messen, nur Urinzucker. Für eine Untersuchung des Blutzuckerverlaufs über mehrere Tage musste man ins Krankenhaus gehen. Das war natürlich eine sehr schwierige Zeit. Es gab damals noch viele Verbote. Ich durfte keinen Sport machen und wurde bei vielen Dingen ausgeschlossen. Es war auch von vornherein klar, dass ich viele Berufe nicht ausüben durfte, weil mein Diabetes im Weg stand.

Heute habe ich eine automatische Insulinpumpe, sensorunterstützt. Es ist so, dass diese heutige Technik mir ermöglicht, ein vollkommen normales Leben zu führen. Ich habe seit 25 Jahren eine Insulinpumpe. Damit fing für mich ein neues Leben an. Und jetzt, mit der Automatik, ist das noch mal ein Quantensprung für mich. Dass ich mich mit 60 wohler fühle, als ich mich mit 30 gefühlt habe, sieht man mir an. Ich wäre nie so leistungsfähig, wenn wir diese Technik nicht hätten. Und natürlich auch nicht ohne die modernen Insuline, die heute nicht mehr aus Bauchspeicheldrüsen kommen, sondern im Labor hergestellt werden.

Sie waren noch heute morgen im Krankenhaus und haben junge Eltern in die Technik eingewiesen. Was haben sie denen erzählt, mit ihrem Wissen über die Geschichte des Insulins?

Ich habe ihnen zum Beispiel erzählt, dass das Insulin jetzt 100 Jahre feiert. Also wir feiern es, alle Insuliner, die darauf angewiesen sind feiern dieses Jahr. Und ich habe ihnen sagen können, das ist das schönste für mich, dass Folgeerkrankungen von Diabetes keine Rolle mehr spielen. Wir haben eine Rundumbewachung, wir haben eine Betreuung und die Kinder können heute ihren Stoffwechsel so gestalten, dass sie gesund alt werden können. Das ist für mich das schönste Überhaupt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anke Blumenthal für Antenne Brandenburg.

Sendung: Antenne Brandenburg, 30.07.2021, 15.10 Uhr

5 Kommentare

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  1. 5.

    Typ 2 sind 95% der Diabetes Erkrankungen. Die Zuckerindustrie wusste schon in den 50ern von der Gefährlichkeit ihres Produkts. "Das Tolle ist, dass es ganz legal ist, aber so abhängig wie Kokain macht"

  2. 4.

    Was für ein ignoranter Kommentar. Da wurde wohl die Typ I Diabetes (eine unheilbare Autoimmunerkrankung die oft bereits im Kindesalter auftritt) überhaupt nicht verstanden. "Volkskrankheit" klingt geradezu so als ob die Betroffenen selber Schuld wären oder sich die Erkrankung nur einbilden.

  3. 3.

    Herzlichen Glückwunsch zu 100 Jahren Insulin! Ich freu mich für alle, denen mit der heutigen Technik und dem Insulin ein fast normales Leben ermöglicht werden kann. In den letzten jahren hat es Riesenfortschritte gegeben, das kann ich voll bestätigen. Impfer, wäre es Ihnen lieber, die Pharmaindustrie, die übrigens auch Unsummen in die Entwicklung neuer Diabetesmedikamente investiert, würde nicht existieren und die Betroffenen wären mit der Erkrankung allein gelassen?

  4. 2.

    Vielen Dank für diesen Artikel. Ich habe 2 Kinder mit Typ 1 Diabetes und ohne die heutige Technik (Insulinpumpen, Sensor Messgeräte usw.) wäre es wesentlich schwerer mit dem Diabetes umzugehen. Ich finde es super, dass in diesem Artikel der Typ 1 Diabetes näher erläutert wird. Es ist manchmal ganz schön schwierig mit Menschen umzugehen, die sagen, dass das Insulin für die Pharmaindustrie Geldschneiderei ist. Gäbe es das Insulin nicht, würden beide Kinder nicht mehr leben. Deshalb werden wir den heutigen Tag feiern. Es stimmt einen manchmal etwas traurig, wenn es von Menschen die vom Typ 1 Diabetes keine Ahnung haben, sagen, der Diabetes wäre heilbar. Und selbst nach langem erklären,nicht von ihrer Meinung abweichen.

  5. 1.

    ..und die Pharmaindustrie, ich empfehle auf Arte „Diabetes, die lukrative Volkskrankheit“..

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