Konzertkritik | Herbie Hancock in der Zitadelle - Ein geniales Kind, 82 Jahre alt

Di 02.08.22 | 10:54 Uhr | Von Thomas Lindemann
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Der Jazzpianist Herbie Hancock bei einem Konzert (Quelle: imago images/Simon Becker)
Audio: rbbKultur | 02.08.2022 | Interview mit Thomas Lindemann | Bild: imago images/Simon Becker

Der Keyboarder Herbie Hancock ist ein Gigant des Jazz. Er spielte als Kind mit dem Chicago Symphony Orchestra, war in der Band von Miles Davis, prägte Jazz-Rock, Funk und Elektro mit. Auch mit 82 springt er wie ein Kind über die Bühne. Von Thomas Lindemann

Am Anfang kommt Herbie Hancock auf die Bühne der Zitadelle Spandau, da erhebt das Publikum sich erst einmal und applaudiert minutenlang. Etliche rufen seinen Namen. Jemand hält seine Autobiographie hoch. Hancock lacht, sagt nur "Wow", und dann: "Wir spielen gleich ein paar echt seltsame Töne, ok?" Um danach mehr als zwei Stunden lang Wort zu halten.

Seltsame Töne

Natürlich ist diese Warnung ein Witz – wer an diesem Sommerabend in die ausverkaufte Zitadelle gekommen ist, weiß, worauf man sich einstellen muss. Herbie Hancock ist so etwas wie der letzte noch lebende Jazz-Gott.

Und alle seine Mitmusiker spielen auf Weltniveau: der Gitarrist Lionel Loueke, der seinen sechs Saiten manchmal Töne wie von Flöten entlockt. Der Drummer Justin Tyson, der sonst bei Kendrick Lamarr oder Kamasi Washington spielt. Und der Bassist James Genus, einer der besten der New Yorker Jazz-Szene. Alte schwarze Männer. Die besten, die es im Jazz gibt.

Hancock spielt einen Flügel, ein Kronos-Keyboard (eines dieser großen Geräte, die praktisch alles können) und das neueste Umhängekeyboard von Roland. Er wechselt nach Lust und Laune fliegend zwischen diesen Geräten. Das Publikum reagiert euphorisch. Es ist sehr bunt, junge hippe Paare, daneben weißhaarige Herrschaften, auch ein paar Kinder.

Der Jazzpianist Herbie Hancock bei einem Konzert (Quelle: imago images/Simon Becker)
| Bild: imago images/Simon Becker

Sorgen um die Welt

Immer wieder plaudert Hancock mit seinem Publikum. Da geht es um sein erstes Auto, einen AC Shelby Cobra. Aber er spricht auch über die Welt, über deren Zustand er sich Sorgen macht. "Wie viele Familien leben auf der Welt", fragt er. Und bekommt die Antwort, die er hören wollte: eine. "Kümmert Euch um Eure Brüder und Schwestern" lautet sein Wunsch an die Menschheit.

Dann sagt er etwas wie: "Wir spielen jetzt etwas aus dem Weltall". Sphärische, pulsierende Sounds folgen, Piepen und Gurgeln wie von einem frühen Videospiel. Und dann geht es ab – funky, laut und rhythmisch perfekt. Die großen Hits von Hancock – "Watermelon Man", "Actual Proof", "Rock It", "Chameleon".

Er kann etliche Stile und ist in allen brilliant. Hancock spielte schon mit elf mit dem Chicago Symphony Orchestra einen Mozart. Wurde dann doch Jazzpianist, landete mit 23 im Quintett des Trompeters Miles Davis. Das war damals das Höchste der Gefühle im Jazz.

Aber Hancock ging weiter, gründete eine eigene Band, gestaltete in den 1970er Jahren den Fusion-Jazz und Jazz-Rock mit, machte in den 1980ern dann plötzlich Pop und landete den Hit "Rock it". Und er blieb immer beweglich. Gerade erschien ein Song mit dem franko-amerikanischen Duo Domi & JD Beck, zwei Jazz-Wunderkindern, 19 und 22 Jahre alt. Hancock hat 14 Grammys und einen Oscar (für den Soundtrack zu Bertrand Taverniers "Um Mitternacht"), und wirkt so wach und interessiert wie eh und je.

Klassiker klingen immer wieder neu

Wenn er seine Klassiker spielt, die jeder Fan kennt, klingen sie doch immer wieder neu. Man erkennt sie schon, wundert sich aber immer wieder, was die Musik macht. Einmal sagt er einem Song eines "ganz jungen" Freundes an, eines Saxophonisten, der sei "erst 89 Jahre jung", damit ist natürlich sein Wegbegleiter Wayne Shorter gemeint. Dann folgt desssen Nummer "Footprints", die spielen die vier in 4/4 statt der 3/4 des Originals.

Auch wenn Hancock als Zugabe etliche Minuten über seinen Fusion-Hit "Chameleon" soliert, wird es einfach nicht langweilig. Hancock spielt, was er will, hält sich an keine Regeln des Jazz, aber es funktioniert einfach immer. Ein Wunder.

Sendung: rbbKultur, 02.08.2022, 6.00 Uhr



Beitrag von Thomas Lindemann

1 Kommentar

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  1. 1.

    The Godfather of Jazz - konnte leider nicht zum Konzert - aber habe dank des tollen Berichts alles vor dem inneren Auge und Ohr.

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