Nan-Goldin-Ausstellung in Berlin - "Jegliche Form von Voyeurismus ist ausgeschlossen"

Fr 20.01.23 | 14:25 Uhr | Von Marie Kaiser
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Werke der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin sind bei einem Pressetermin vor der Ausstellungseröffnung in der Akademie der Künste zu sehen.(Quelle:dpa/J.Kalaene)
Bild: dpa/J.Kalaene

2022 wurde die US-Fotografin Nan Goldin vom deutschen Kunstmagazin "Monopol" als einflussreichste Künstlerin des Jahres ausgezeichnet. Die Akademie der Künste verleiht ihr den Käthe-Kollwitz-Preises und ehrt Goldin nun mit einer Ausstellung mit 50 Arbeiten aus fünf Jahrzehnten. Von Marie Kaiser

Ihr Gesicht sehen wir nicht - nur die unglaublich zarte Haut ihres nackten Körpers. Eine Haut, die an Porzellan erinnert und von innen heraus zu leuchten scheint. Die Frau mit dem dunklen Haar kehrt uns den Rücken zu und blickt in den Spiegel einer Frisierkommode. Auf dieser intimen Aufnahme "Thora at my vanity" von 2022 ist die Autorin Thora Simpson zu sehen, in der New Yorker Wohnung von Nan Goldin, wo beide während des Corona-Lockdowns viel Zeit miteinander verbrachten. Es ist genau diese intime und ungezwungene Ästhetik, mit der Nan Goldin zu einer der einflussreichsten Fotografinnen der Welt geworden ist. Die Wahrhaftigkeit, mit der sie Menschen in ganz privaten Situationen einfängt.

"Der Mensch als schönes Wesen in all seinen Facetten"

Die Kuratorin der Ausstellung in der Akademie der Künste, Anke Hervol, drückt es im Interview mit dem rbb so aus: "Das sind alles Situationen, die wir ja alle kennen und in denen wir nicht unbedingt fotografiert werden möchten." Nan Goldin aber schaffe es "diese Momente auf eine Art zu fotografieren, dass wir nicht irritiert sind. Es hat eine Wärme und eine Schönheit. Der Mensch als schönes Wesen in all seinen Facetten: egal ob er auf dem Sterbebett liegt, ob er geboren wird, ob er Drogen konsumiert, ob der Mann sich als Frau verkleidet oder ob es zwei Liebende sind."

Fotos wie Renaissance-Gemälde

Auf den 50 Arbeiten aus fünf Jahrzehnten sehen wir immer wieder Menschen, die sich beispielsweise in der Garderobe zurechtmachen, in Unterwäsche auf Betten liegen oder eng umschlungen sind im Liebesspiel. Das aktuelle Foto "Thora at my vanity" aus der Corona-Zeit knüpft also direkt an die frühen Arbeiten Nan Goldins an. Und doch hat dieses Foto fast schon etwas von einem Renaissance-Gemälde.

Beim Betrachten der Ausstellung "Käthe-Kollwitz-Preis 2022. Nan Goldin" sei sie selbst überrascht gewesen, wie stark die Fotos von der Malerei der Renaissance inspiriert sind, sagt die Kuratorin der Ausstellung Anke Hervol. Zum einen wegen der vielen Spiegel, die in den Fotos auftauchen: "Es ist interessant, dass Nan Goldin eigentlich immer versucht auch den Raum, in dem etwas geschieht, zu erweitern. Und damit zieht sie uns natürlich rein. Der Spiegel hat immer eine Sogwirkung im Bild." Zum anderen wegen der differenzierten Darstellung der Haut. "Wir wussten schon immer, dass Nan Goldin viel nackte Haut fotografiert. Aber als ich alle Bilder hier zusammen gesehen habe, ist mir aufgefallen, wie unglaublich faszinierend sie Haut darstellen kann in all ihren Facetten", sagt Hervol. "Und das in dieser Zufälligkeit des Motivs oder der Situation. Das ist ja nicht wie bei anderen, die alles ausleuchten."

"Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit"

Zu dem Spiel mit Hell und Dunkel auf den Fotos passt gut, dass auch der Ausstellungsraum ungewöhnlich dunkel ist. Die Fotografien werden mit einzelnen Spotlights in Szene gesetzt. Sie leuchten den Besucher:innen entgegen, als würde es sich um Dias handeln, die in einem Kinosaal gezeigt werden. Zu sehen ist eine Auswahl von Fotografien aus "Der Ballade von der sexuellen Abhängigkeit", Nan Goldins wohl bekanntester Serie, die wie ein privates Foto-Tagebuch funktioniert, das sie über Jahrzehnte mit der Öffentlichkeit teilt.

Doch nicht das einprägsamste Selbstporträt aus dem Jahr 1984 wird gezeigt, das die Künstlerin mit geschwollenen, blau geschlagenen Augen zeigt, schwer verprügelt von ihrem damaligen Freund Brian, sondern ein ganz zartes und beeindruckendes "Selbstporträt im blauen Badezimmer" aus dem Jahr 1980. Im Vordergrund ist eine Badewanne mit Badeschwamm, Shampoo und Duschbad zu sehen. Nan Goldin erscheint nur in der unteren Ecke eines Badezimmerspiegels, als winzige, aber dennoch sehr präsente Figur mit Kopf und nackten Schultern. Durch die Jalousie fallen Streifen von warmem Sonnenlicht auf ihre Haut.

Auch die "Roommates"-Fotos aus den 1970er Jahren haben nichts von ihrer Stärke verloren. Damals tauchte Nan Goldin in Boston in die LGBTQ-Szene ein und lebte mit Dragqueens in einer WG zusammen. Aber auch neuere Arbeiten wie die "Grids" überzeugen - gitterartige Collagen aus jeweils neun thematisch passenden Fotografien, die Nan Goldin auf einem Print kombiniert - wie die Aufnahmen eines Transvestiten in Bangkok.

"Jegliche Form von Voyeurismus ist ausgeschlossen"

Gestellt sind die Situationen nie. Nan Goldin fotografiert Menschen in natürlicher Bewegung, wodurch oft eine verschwommene Ästhetik entsteht. Immer wieder schauen die Menschen auf ihren Bildern dem Betrachter direkt in die Augen. Ein Mann ist noch perfekt geschminkt als Dragqueen, doch die Perücke und das Kleid hat er schon abgelegt und die Haare auf seinem Oberkörper und seinen Armen sind zu erkennen. Es ist ein Blick, der uns direkt ins Bild holt und nicht zu störenden Beobachtern werden lässt. Anke Hervol betont: "Jegliche Form von Voyeurismus ist hier eigentlich ausgeschlossen, weil es auf so natürliche Weise dargestellt ist, die uns zum Teil dieser Situation werden lässt."

Die Nan-Goldin-Ausstellung zum Käthe-Kollwitz-Preis 2022 läuft noch bis 19. März in der Akademie der Künste im Hanseatenweg in Berlin-Tiergarten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 19.01.2023, 3:30

Beitrag von Marie Kaiser

4 Kommentare

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  1. 4.

    Titel von Brecht's Ballade wird aus dem Amerikanischen rückübersetzt. So kommt es, dass von der "Ballade von der sexuellen Abhängigkeit (sic!)" statt von der "[...] sexuellen Hörigkeit" die Rede ist. Sollte korrigiert werden, verletzt Urheberpersönlichkeitsrechte von Bert Brecht.

  2. 2.

    Man hat bei solchen Überschriften instinktiv den Eindruck, dass die Leute mit "Haltungsjournalismus" missioniert werden sollen? Selbst die falschen Gendersprachformen dienen diesen Zweck, wo man sich gefühlt einfach wehren muss...
    Der Sache dient das nicht.

  3. 1.

    Die Wahl der Überschrift ist allzu bezeichnend für den herrschenden pseudo-freien, de facto wieder höchst verklemmten Zeitgeist: Bei einer Ausstellung über die vielfältige Ästhetik des Menschen muss offenbar zuallererst klargestellt werden, dass sie kaum Gefühle triggert; jedenfalls definitiv keine erotischen oder anderen niederen Instinkte anspricht, sondern selbstverständlich nur wissenschaftlichen und/oder künstl(er)i(s)chen Zwecken dient.

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