Interview | Autor Ingo Schulze
Ingo Schulze ist Schriftsteller. Seine Texte und Romane verarbeiten oft ostdeutsche Erfahrungen oder die Wiedervereinigung. Nun hat er ein halbes Jahr im tiefsten Westen verbracht und ein Buch darüber geschrieben. Was hat er dort gelernt?
Ingo Schulze: Von der Haltung her ist das schon wahr, alles andere hätte ich als eine Anmaßung empfunden. Auch wenn ich mich viel in Deutschland bewege, ich habe nie im Westen gewohnt. Aber ich finde den Status des Gastes einen sehr angenehmen Status. Man gehört dazu, ist aber nicht unbedingt verantwortlich.
Es macht einen Unterschied, ob man in der Wohnung bei jemandem ist oder ob man über eine Region schreibt. Insofern ist man etwas rücksichtsvoller, wenn man mit Menschen spricht, die sich öffnen, die einem etwas zeigen. Und auf die war ich ja auch angewiesen. Das hat aber nichts mit unkritischem Verhalten zu tun. Ich habe über das, was ich im Ruhrgebiet bemerkenswert fand, im Guten wie im Bösen geschrieben.
Man sieht im Ruhrgebiet die sozialen Unterschiede sehr deutlich. Oftmals ist das so ein Süd-Nord-Gefälle: Das Wohlhabende ist eher im Süden und das Ärmere im Norden. Durch diesen Kontrast springt es einem sehr viel mehr ins Auge. Und die Mentalität im Ruhrgebiet - wenn man das so verallgemeinernd überhaupt sagen darf - ist sehr offen. Also man ist ganz schnell beim 'Du', ob man das nun mag oder nicht.
Im Ruhrgebiet habe ich oftmals automatisch angefangen, vom Osten zu erzählen und die Unterschiede zu beschreiben, da ging es beispielsweise um die Abwicklung der Kohle. Was im Osten in zwei, drei Jahren stattgefunden hat, das hat im Ruhrgebiet über Jahrzehnte stattgefunden. Das sind Dinge, die sind vergleichbar – und aber eben doch ganz anders gelaufen.
Dass der Osten immer in Erklärungsnot kommt, hängt einfach mit diesem unglaublichen Gefälle zusammen, das dadurch entstanden ist, dass es keine Vereinigung gab, sondern nur einen Beitritt. Im innerdeutschen Verhältnis ist es doch so, dass jemand, der einen migrantischen Hintergrund hat, ein Bewusstsein für diesen Hintergrund hat. Und jemand, der aus dem Osten kommt, hat auch mehr oder weniger ein Bewusstsein dafür, aus dem Osten zu kommen. Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation aber der Goldstandard – also das, was eigentlich als der Bezugspunkt gilt. Das das ist die Crux. Und es wäre doch eine Chance für den Westen, sich der eigenen Spezifika klar zu werden.
An diesem Mythos Ruhrgebiet ist schon auch etwas Wirklichkeit dran. Das merkt man in den Begegnungen, wenn jemand darüber spricht, wie er aufgewachsen ist. Die Mutter arbeitete im Stahl, die Familie des Vaters in der Kohle. Aber heute hat das schon so einen Marketingcharakter bekommen. Es gibt viele Leute im Ruhrgebiet, die das kritisieren. Sie sagen: 'Wir waren nicht nur Malocher, das Ruhrgebiet war Hightech.' Denn wie fördert man diese Kohle, wie macht man den Stahl? Das sind unglaubliche technologische Dinge, die heruntergedimmt werden auf eine Folklore.
Es hat in beiden Regionen diese Erfahrung der Abwanderung und des Verschwindens von Industrie gegeben. Und auch die Erfahrung, dass Neues kommt. Aber es ist einfach diese große Abwanderung, die manches fast kulissenartig wirken lässt. Es ist wie in Kleinstädten in Ostdeutschland, die wunderbar aussehen, aber man hat manchmal den Eindruck, es seien Kulissen. Und im Ruhrgebiet weiß man auch oft nicht: Steht das einfach nur noch da oder hat das noch eine Funktion?
Leider ist die Lebenszeit begrenzt. Was ich damit sagen wollte: Ich hätte da auch noch sechs Jahre schreiben können, ich habe nur einen Ausschnitt gegriffen. Je mehr ich geschrieben habe, umso mehr habe ich gemerkt, was ich alles nicht beschrieben habe. Das ist so wie mit dem Buchtitel, "Zu Gast...". Als Gast sieht man bestimmte Dinge vielleicht sogar besser als ein Einheimischer, aber eben vieles auch nicht.
Das Interview führte Ulf Kalkreuth für rbbKultur - Das Magazin
Sendung: rbbKultur - das Magazin, 13.04.2024, 18:30 Uhr
Artikel im mobilen Angebot lesen