rbb24
  1. rbb|24
  2. Kultur
Quelle: dpa/Riedl

Interview | Autor Ingo Schulze

"Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation der Goldstandard"

Ingo Schulze ist Schriftsteller. Seine Texte und Romane verarbeiten oft ostdeutsche Erfahrungen oder die Wiedervereinigung. Nun hat er ein halbes Jahr im tiefsten Westen verbracht und ein Buch darüber geschrieben. Was hat er dort gelernt?

rbb: Herr Schulze, Ihre Erfahrungen in Westdeutschland haben Sie im Buch “Zu Gast im Westen” niedergeschrieben. Der Titel klingt freundlich, aber auch leicht distanziert. Im Sinne von: "Ich bin hier der Fremde, ich bin zu Gast."

Ingo Schulze: Von der Haltung her ist das schon wahr, alles andere hätte ich als eine Anmaßung empfunden. Auch wenn ich mich viel in Deutschland bewege, ich habe nie im Westen gewohnt. Aber ich finde den Status des Gastes einen sehr angenehmen Status. Man gehört dazu, ist aber nicht unbedingt verantwortlich.

Aber legt einem der Status eines Gastes nicht auch eine gewisse Fessel an? Man meckert als Gast ja auch nicht über das Essen...

Es macht einen Unterschied, ob man in der Wohnung bei jemandem ist oder ob man über eine Region schreibt. Insofern ist man etwas rücksichtsvoller, wenn man mit Menschen spricht, die sich öffnen, die einem etwas zeigen. Und auf die war ich ja auch angewiesen. Das hat aber nichts mit unkritischem Verhalten zu tun. Ich habe über das, was ich im Ruhrgebiet bemerkenswert fand, im Guten wie im Bösen geschrieben.

Zur Person

Was ist Ihnen da aufgefallen?

Man sieht im Ruhrgebiet die sozialen Unterschiede sehr deutlich. Oftmals ist das so ein Süd-Nord-Gefälle: Das Wohlhabende ist eher im Süden und das Ärmere im Norden. Durch diesen Kontrast springt es einem sehr viel mehr ins Auge. Und die Mentalität im Ruhrgebiet - wenn man das so verallgemeinernd überhaupt sagen darf - ist sehr offen. Also man ist ganz schnell beim 'Du', ob man das nun mag oder nicht.

Im Ruhrgebiet habe ich oftmals automatisch angefangen, vom Osten zu erzählen und die Unterschiede zu beschreiben, da ging es beispielsweise um die Abwicklung der Kohle. Was im Osten in zwei, drei Jahren stattgefunden hat, das hat im Ruhrgebiet über Jahrzehnte stattgefunden. Das sind Dinge, die sind vergleichbar – und aber eben doch ganz anders gelaufen.

Sie sagen, dass Sie viel über den Osten gesprochen haben. Warum muss man den Osten 35 Jahre nach dem Mauerfall noch immer erklären?

Dass der Osten immer in Erklärungsnot kommt, hängt einfach mit diesem unglaublichen Gefälle zusammen, das dadurch entstanden ist, dass es keine Vereinigung gab, sondern nur einen Beitritt. Im innerdeutschen Verhältnis ist es doch so, dass jemand, der einen migrantischen Hintergrund hat, ein Bewusstsein für diesen Hintergrund hat. Und jemand, der aus dem Osten kommt, hat auch mehr oder weniger ein Bewusstsein dafür, aus dem Osten zu kommen. Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation aber der Goldstandard – also das, was eigentlich als der Bezugspunkt gilt. Das das ist die Crux. Und es wäre doch eine Chance für den Westen, sich der eigenen Spezifika klar zu werden.

Das Ruhrgebiet lebt von dem Mythos Stahl, Kohle, Maloche und Fußball. Wie viel ist an diesem Mythos noch dran?

An diesem Mythos Ruhrgebiet ist schon auch etwas Wirklichkeit dran. Das merkt man in den Begegnungen, wenn jemand darüber spricht, wie er aufgewachsen ist. Die Mutter arbeitete im Stahl, die Familie des Vaters in der Kohle. Aber heute hat das schon so einen Marketingcharakter bekommen. Es gibt viele Leute im Ruhrgebiet, die das kritisieren. Sie sagen: 'Wir waren nicht nur Malocher, das Ruhrgebiet war Hightech.' Denn wie fördert man diese Kohle, wie macht man den Stahl? Das sind unglaubliche technologische Dinge, die heruntergedimmt werden auf eine Folklore.

Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Ostdeutschland und dem Ruhrgebiet?

Es hat in beiden Regionen diese Erfahrung der Abwanderung und des Verschwindens von Industrie gegeben. Und auch die Erfahrung, dass Neues kommt. Aber es ist einfach diese große Abwanderung, die manches fast kulissenartig wirken lässt. Es ist wie in Kleinstädten in Ostdeutschland, die wunderbar aussehen, aber man hat manchmal den Eindruck, es seien Kulissen. Und im Ruhrgebiet weiß man auch oft nicht: Steht das einfach nur noch da oder hat das noch eine Funktion?

Sie haben im Nachwort zu Ihrem Buch geschrieben, Sie hätten sich auch vorstellen können, sechs Jahre im Ruhrgebiet zu bleiben...

Leider ist die Lebenszeit begrenzt. Was ich damit sagen wollte: Ich hätte da auch noch sechs Jahre schreiben können, ich habe nur einen Ausschnitt gegriffen. Je mehr ich geschrieben habe, umso mehr habe ich gemerkt, was ich alles nicht beschrieben habe. Das ist so wie mit dem Buchtitel, "Zu Gast...". Als Gast sieht man bestimmte Dinge vielleicht sogar besser als ein Einheimischer, aber eben vieles auch nicht.

Das Interview führte Ulf Kalkreuth für rbbKultur - Das Magazin

Sendung: rbbKultur - das Magazin, 13.04.2024, 18:30 Uhr

Artikel im mobilen Angebot lesen