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Video: rbb24 Abendschau | 25.09.2022 | Dorit Knieling | Quelle: dpa/Hauke-Christian Dittrich

Verhandlung vor Berliner Verfassungsgerichtshof

Wie es ein Jahr nach dem Wahlchaos in Berlin weitergeht

Superwahl-Chaos statt Super-Wahltag: Vor einem Jahr blamierte sich die Berliner Wahl-Organisation vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Über die Konsequenzen wird seitdem gestritten. Ob die Wahlergebnisse Bestand haben, können jetzt Gerichte klären. Von Christoph Reinhardt

Der 26. September 2021 hätte als Rekord in die Berliner Wahlgeschichte eingehen können: Zweieinhalb Millionen Wahlberechtigte, die am selben Tag den Bundestag, das Berliner Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen wählen sollten. On top: Die Abstimmung über den Enteignungs-Volksentscheid. 15 Millionen Stimmzettel in 105 verschieden Varianten, in den Händen von 34.000 ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfern.

Auf den Straßen Berlins 25.000 Marathonläufer, angefeuert von ungezählten Zuschauerinnen und Zuschauern, ein strahlend schöner Gute-Laune-Spätsommertag. Doch dieser Tag geht am Ende ganz anders in die Wahlgeschichte ein. Es ist der Tag, an dem die wohl peinlichste demokratische Wahl in der Geschichte Berlins stattfindet.

Bereits in den Mittagsstunden spricht sich herum, dass sich vor einigen Wahllokalen ungewöhnlich lange Schlangen gebildet haben. Auch, aber nicht nur wegen der weiten Corona-Sicherheitsabstände. Vielerorts reichen die aufgestellten Wahlkabinen nicht aus, weil die Wählerinnen und Wähler wegen der vielen verschiedenen Stimmzettel deutlich länger als die angesetzten drei Minuten benötigen, um alle Kreuze zu machen.

Richtig schwierig wird es in den Wahllokalen, denen die Stimmzettel ausgehen und keinen Nachschub bekommen. In manchen Teilen der Innenstadt sorgt noch der Marathon für Verkehrsbehinderungen. Andernorts stellt sich heraus, dass in den Paketen der Druckerei Stimmzettel für ganz andere Wahlbezirke gelandet sind.

Keine Laptops, keine E-Mail-Adressen für Wahllokale

Nicht überall fallen die Fehler sofort auf, immer wieder landen Stimmen für Kandidierende in den Wahlurnen, die gar nicht in diesem Wahlkreis angetreten sind. Die Wahlvorstände müssen improvisieren – manche verzweifeln beim Versuch, die völlig überlasteten Bezirkswahlleitung mit dem privaten Handy zu erreichen. Denn die Wahl findet wie seit jeher voll analog statt - Laptops und E-Mail-Adressen für jedes Wahllokal gibt es nicht.

Am Ende des Tages sind in 207 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten aufgetreten, stellt später der Bericht der Landeswahlleiterin fest. An 24 Orten wurden falsche Stimmzettel ausgegeben, an 56 zu wenige. Und in 73 Wahllokalen musste die Wahl unterbrochen werden, bis endlich der Nachschub eintraf. Um den Rückstau abzuarbeiten, blieben hunderte Wahllokale mindestens eine Stunde länger als erlaubt geöffnet. Das letzte schloss erst kurz vor 21 Uhr.

"Eine Blamage ist es auf jeden Fall"

Über die Folgen der nie dagewesenen Wahlpannen streiten seitdem die Gelehrten. Wahlfehler allein rechtfertigen keine Wiederholungswahl, darauf macht schon am nächsten Tag HU-Professor Ulrich Battis aufmerksam. Denn sie müssten auch mandatsrelevant sein. "Eine Blamage ist es auf jeden Fall", sagte Battis.

Sein Kollege Christian Waldhoff, der das Chaos als Wahlhelfer selbst erlebte, bringt dagegen eine komplette Neuwahl ins Spiel. FU-Professor Christian Pestalozza macht deutlich, dass nur die Teile der Wahl wiederholt werden dürfen, bei denen Fehler konkrete Folgen haben. Aber nicht nur Juristen und die zuständigen Behörden machen sich Gedanken, ob die Fehler Wiederholungswahlen rechtfertigen, sondern auch die betroffenen Politiker.

Nach Wahldebakel

Verwaltungswissenschaftler Bröchler zum neuen Landeswahlleiter in Berlin ernannt

Berlin hat eine neue Landeswahlleitung: Der Senat hat am Dienstag den Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler berufen. Er muss nun - nach dem Wahldebakel 2021 - die Organisation der künftigen Wahlen neu aufstellen.

Neue Wahlen, neue Chancen

Denn vor allem die Berliner CDU hatte am Wahltag schlecht abgeschnitten und war nur knapp an einem historischen Tiefpunkt vorbeigeschrammt. "Dass wir leider nicht den erhofften Rückenwind des Bundes hatten, haben wir sehr, sehr deutlich gespürt", so formulierte CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner mit Blick auf den glücklosen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet.

Noch im Februar hatte die Berliner CDU sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Grünen um den ersten Platz in der Hauptstadt geliefert, mit weitem Abstand zur schwächelnden SPD. Aber der Aufstieg von SPD-Mann Olaf Scholz reißt auch die Berliner Spitzenkandidatin Franziska Giffey mit, deren SPD am Wahlabend doch noch stärkste Partei wird.

Nur eine Momentaufnahme, die sich durch Wahlwiederholung noch kompensieren lässt? Denn nach Jahr und Tag haben sich die politischen Trends längst wieder gedreht.

Bundeswahlleiter Georg Thiel (CDU) lehnt sich am weitesten auf dem Fenster. Er legt Einspruch gegen die Bundestags-Wahlergebnisse in der halben Stadt ein. Mandatsrelevant seien die Fehler schon deshalb, so sein Argument, weil man nicht sicher sein könne, dass viele Menschen sich durch lange Schlangen von der Wahl hätten abhalten lassen. Wenn es nach Thiel ginge, müsste in sechs Wahlkreisen komplett neu gewählt werden.

Innensenator Geisel: nur in drei Wahlkreisen knappe Abstände zwischen Direktkandidaten

Auch Berlins SPD-Innensenator Andreas Geisel erhebt Einspruch, sieht aber für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus erheblich weniger Korrekturbedarf. In gerade einmal 14 der fast 2.300 Wahllokale gebe es Grund zur Besorgnis, dass die Fehler einen Unterschied ausmachen – denn nur in drei Wahlkreisen sind die Abstände der Direktkandidaten entsprechend knapp.

Nach dem Rücktritt von Berlins langjähriger Landeswahlleiterin Petra Michaelis empfiehlt ihre Stellvertreterin Ulrike Rockmann sogar, nur die äußerst knappen Wahlsiege des Grünen Alexander Kaas Elias in Charlottenburg-Wilmersdorf zu überprüfen sowie den des AfD-Abgeordneten Gunnar Lindemann. In beiden Wahlkreisen liegen die Ergebnisse der SPD-Kandidierenden so dicht an denen der Wahlsieger, dass die nachweisbaren Fehler einen Unterschied machen könnten.

Erste Verhandlung des Berliner Verfassungsgerichtshofs am Mittwoch

Was in Berlin tatsächlich geschehen muss, werden am Ende zwei verschiedene Gerichte entscheiden. Für die Bundestagswahl ist im ersten Schritt der Bundestag selbst verantwortlich. Der Wahlüberprüfungsausschuss hat mehr als 2.000 Einsprüche zu bearbeiten. Zuletzt hatten sich die Obleute der Parteien mehrheitlich für Wahlwiederholungen in mehreren hundert Wahllokalen ausgesprochen, eine offizielle Empfehlung steht aber noch aus.

Über die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen entscheidet dagegen direkt der Berliner Verfassungsgerichtshof. Nach monatelanger Vorarbeit findet die erste mündliche Verhandlung am Mittwoch statt. Wegen der vielen direkt beteiligten Parteien, Kandidaten und Behörden nicht wie sonst im Gerichtssaal, sondern im Großen Hörsaal der Freien Universität.

Neuwahlen müsste innerhalb von 90 Tagen erfolgen

Von den insgesamt 35 eingereichten Einsprüchen wollen die Verfassungsrichter zunächst vier verhandeln. Neben den Argumenten der Landeswahlleitung und der Innenverwaltung will das Gericht auch die Einsprüche der AfD und der Partei Die Partei bewerten. Hintergedanke: Was für die vier Musterfälle gilt, ist leicht auf die anderen zu übertragen.

Höchstens drei Monate lang Zeit hat das Gericht, um über die Einsprüche zu entscheiden, das Urteil könnte aber auch deutlich früher kommen. Falls tatsächlich in einem oder mehreren Wahlkreisen noch einmal abgestimmt werden muss, müsste das innerhalb von 90 Tagen erfolgen – also spätestens im Frühjahr 2023.

So schnell dürfte die Entscheidung über die Bundestagswahl nicht fallen. Die Bundestagsabgeordneten dürften vor ihrer Entscheidung erst einmal die Argumente des Verfassungsgerichtshofs abwarten, seine offizielle Entscheidung könnte der Bundestag im Oktober fällen. Dagegen kann noch mindestens zwei Monate lang Einspruch erhoben werden – über die dann das Bundesverfassungsgericht entscheiden muss. Der restliche Zeitplan liegt ganz in der Hand der Karlsruher Richter. Eine schnelle Entscheidung gilt als unwahrscheinlich.

Sendung: Abendschau, 25.09.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Christoph Reinhardt

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